Theodor Litt — Eduard Spranger. Philosophie und Pädagogik
in der geisteswissenschaftlichen Tradition 2009
STEFAN DANNER
„Einführung” oder„Kunst”?
Theodor Litt und John Dewey
über Analogien in der pädagogischen Theorie
John Dewey (1859 — 1952) und Theodor Litt (1880 — 1962) zählen zu den Klassikern der Pädagogik. Vergleicht man die Forschungsinteressen von Litt und Dewey, so zeigen sich bemerkenswerte Gemeinsamkeiten: Beide haben das Programm einer philosophischen Pädagogik verfolgt. Beide haben sich intensiv an Debatten über den Zusammenhang von Pädagogik und Demokratie beteiligt. Und beide haben sich ausführlich mit der Beziehung von Pädagogik, Philosophie, Naturwissenschaften und Technik befasst.
Im Rahmen ihrer erziehungsphilosophischen Abhandlungen haben Litt und Dewey unter anderem vier typische pädagogische Analogien untersucht:
• Erziehung als Technik,
• Erziehung als Führung,
• Erziehung als Wachsenlassen,
• Erziehung als Kunst.
Auch diese Parallele zwischen Litt und Dewey ist interessant. Noch interessanter ist allerdings, dass beide zu völlig verschiedenen Analyseergebnissen kommen: Litt verwirft die vier Analogien; Dewey begrüßt sie. — Warum das so ist, soll im Folgenden genauer beschrieben werden.
Erziehung als Technik?
Wir beginnen mit den Analysen zum Technikbegriff. Beachtenswert sind zunächst die Übereinstimmungen zwischen Dewey und Litt. Sie betreffen die Bedeutung von Individualität und Unwiederholbarkeit in der Pädagogik und den Zusammenhang von pädagogischen Mitteln und Zielen:
Dewey und Litt sind der Auffassung, dass es in der pädagogischen Praxis immer um die Auseinandersetzung mit einzigartigen und unwiederholbaren Situationen geht. Beide folgern daraus, dass das pädagogische Handeln keine Anwendung von allgemeingültigen Regeln ist. Das Individuelle haftet der Situation nicht als nebensächliches Beiwerk an, sondern ist ihr wesentlich. Zu pädagogischen Entschlüssen gelangt man daher nicht über den deduktiven Weg von der allgemeinen Regel zu dem je besonderen Fall.
Eine Parallele zwischen Dewey und Litt zeigt sich auch in der Abwehr der Meinung, dass man in der Pädagogik Ziel- bzw. Zweckfragen und Mittelfragen getrennt behandeln könne. Dewey und Litt versuchen zu zeigen, dass Ziel- und Mittelfragen unmittelbar zusammen gehören und nur gemeinsam beantwortet werden können. Dies gilt nach Ansicht beider Autoren sowohl für die pädagogische Praxis als auch für die pädagogische Theorie. Ziele sind nur dann realistisch gewählt, wenn adäquate Mittel verfügbar sind. Mittel sind nur dann sinnvoll gewählt, wenn sie zu einem reflektierten Ziel führen. Welche Ziel-Mittel-Kombinationen jeweils in der Praxis gewählt werden, hängt wesentlich von der pädagogischen Bedeutung der vorliegenden individuellen Situation ab. Die pädagogische Bedeutung der Situation klärt sich aber nur, indem man über die Situation hinaus denkt und sie in Beziehung zu möglichen weiteren pädagogischen Handlungszielen und den mit ihr korrespondieren Mitteln setzt. Kurzum: Die Deutung der individuellen Situation, die Wahl des Handlungszieles sowie die Festlegung der Mittel können nicht getrennt voneinander erfolgen; vielmehr müssen sie in der pädagogischen Reflexion als Aspekte eines unzerlegbaren Ganzen erfasst werden.
Wo liegen Unterschiede zwischen Litt und Dewey?
Litt macht sich in dem referierten Zusammenhang die Begriffe Ziel, Zweck und Mittel nur vorübergehend zu Eigen, nämlich um zu zeigen, dass das Her-bartsche Konzept der Trennung von Mittel-Reflexion und Ziel-Reflexion nicht schlüssig ist. Letztlich aber ist nach Litts Auffassung das Zweck-Mittel-Schema einzig und allein für die Beschreibung technischer Prozesse im räumlich-anorganischen Bereich angemessen:
„Wo der Mensch gestaltend in die äußere Wirklichkeit eingreift, da handelt er nach ,Zwecken’, die er selbstherrlich aus der Summe der vorgefundenen Möglichkeiten auswählt. Die Zwecke sind als solche nicht in der Naturwirklichkeit gegeben. (…)
Ganz anders aber verhält sich die Zweckbestimmung zu demjenigen Wirklichen, dem der pädagogische Gedanke und die pädagogische Tat gilt. (…) derjenige ,Zweck’, der an und in dem pädagogischen Objekt verwirklicht werden soll, entstammt, ja, wofern wirklich pädagogischer Geist im Geschehen waltet, gar nicht der willkürlichen Setzung des handelnden Subjekts: vielmehr soll er als Zweck im Objekt selbst gefunden werden; gilt es doch, das in diesem selbst Angelegte zur Entfaltung und Vollendung zu führen.”
Wie ist dies zu verstehen? Die Beziehung des Technikers zu dem von ihm zu bearbeitenden Objekt, so Litt, ist asymmetrisch. Das Objekt ist für den ein Techniker wertneutrales Material bzw. bloßes Mittel. Bei der Bearbeitung wählt er „selbstherrlich” bestimmte Zwecke. Die frei gewählten Zwecke verwirklicht er durch die Anwendung technologischer Regeln, die wiederum auf naturwissenschaftlichen Gesetzeserkenntnissen beruhen. Litt kontrastiert diesen Handlungstypus mit dem pädagogischen Vorgehen: Im Unterschied zum Techniker hat es der Pädagoge nicht mit einem determinierten Mechanismus, sondern mit einem „konkreten Lebensganzen” zu tun. Dieses „konkrete Lebensganze” ist weder „Schnittpunkt allgemeiner Gesetze” noch „bloßes Material” für willkürlich von außen gesetzte Zwecke. Trotz aller Unterschiede zwischen Erzieher und Zögling ist die pädagogische Beziehung im Kern nicht asymmetrisch. Die Relation Erzieher-Zögling ist „die Beziehung zweier Wesen, die einander in grundsätzlicher Gleichberechtigung gegen-überstehen”. „Grundsätzliche Gleichberechtigung” bedeutet auch und vor allem, dass die Erziehungszwecke nicht willkürlich gewählt, sondern in dem Zögling selbst gefunden werden. Es gilt, das im Zögling „selbst Angelegte zur Entfaltung und Vollendung zu führen.” Litts Schlussfolgerung aus dem Vergleich zwischen Pädagogik und Technik: Das recht verstandene pädagogische Handeln ist keineswegs ein technisches Handeln. Eher lässt es sich mit einem Handwerk vergleichen:
„Was unterscheidet denn das Handwerk von der Technik? Es ist die Hand, die ,werkt’, d.h. nicht ein vom Menschen abgetrenntes totes Gerät, das erst durch sein Zugreifen in Gang gebracht werden muss, sondern ein in das lebendige Ganze seines Wesens eingelagertes ,Organ’; (…) so darf all sein Tun ein durchseeltes heißen.
Technik und Handwerk gleichen sich insofern, als sie beide regelgeleitetes Handeln sind. Doch die entscheidende Differenz liegt darin, dass das Handwerk ein ganz und gar lebendiges und unmechanisches Handeln ist:
„,Lehrhandwerk’ sollte deshalb jenes ,schulmeisterliche’ Tun heißen, das methodischer Durchbildung nicht entbehrt und doch die Seelenlo-sigkeit des mechanisierten Betriebes von sich fernhält.”
Fassen wir zusammen. Nach Litts Auffassung geht der technisch Handelnde von klaren Trennungen und von deutlichen Wertdifferenzen aus:
• Es gibt den wertvollen Zweck, der von außen festgesetzt wird, und es gibt das wertneutrale Material bzw. Mittel, das dem Zweck entgegen geformt wird.
• Es gibt das zu erreichende Handlungsziel und es gibt die technologische Regel, die genau angibt, wie das Ziel zu erreichen ist.
Dewey assoziiert mit dem Technik-Begriff etwas völlig anderes. Dewey verbindet mit dem Begriff der Technik den griechischen Gedanken der τέχνη. Er plädiert dafür, diesen Gedanken wieder aufleben zu lassen. Denn hier ist, so Dewey, ein Handlungstypus angedacht, bei dem es keine starren Trennungen gibt. Die Reflexion und Erprobung von Zwecken, Mitteln und technologischen Regeln sind nicht unterschiedlichen Bereichen zugeordnet, sondern sind Aspekte einer einheitlichen vernünftigen Praxis. τέχνη bezeichnet eine Handlungsform, in der Wissenschaft Kunst ist und Kunst Wissenschaft ist. Daher ist es für Dewey plausibel zu sagen, die Erziehungspraxis sei „eine Art gesellschaftlicher Ingenieurlcunst.” Eine Ingenieurkunst ist die Pädagogik, weil sie den engen Wert- und Wirkungszusammenhang von pädagogischen Zwecken, Mitteln und Handlungsregeln reflektiert und erprobt. Eine gesellschaftliche Ingenieurskunst ist die Pädagogik, weil das gesamte soziale Leben einer Gesellschaft erziehend wirkt und deshalb mitbedacht werden muss. Jede praktische Tätigkeit, und dies verbindet die Pädagogik auf das Engste mit allen anderen Praxisformen, hat es mit Unwägbarkeiten zu tun. In Deweys Worten:
„Das charakteristische Merkmal praktischer Tätigkeit, ein Merkmal, das ihr so wesentlich ist, dass es nicht eliminiert werden kann, ist die Ungewissheit, die sie begleitet. (…) Praktische Tätigkeit hat es mit individuellen und einzigartigen Situationen zu tun, die niemals exakt wiederholbar sind und hinsichtlich deren dementsprechend keine vollständige Sicherheit möglich ist.”
Die Unsicherheit praktischer Tätigkeit korrespondiert mit dem Umstand, dass bei jeder professionellen Handlung die relevanten Ziele, Mittel und wissenschaftlichen Kausalerkenntnisse in einem dynamischen Zusammenhang stehen und daher nicht schematisch aufeinander bezogen werden können. Wie ist dies zu verstehen? Dewey erläutert den Gedanken am Beispiel der Steuerung einer Farbenfabrik: „Ein Farbenfabrikant benutzt Ergebnisse, die im chemischen Laboratorium gewonnen wurden. Aber die Ergebnisse in der Fabrik weichen von jenen im Laboratorium erlangten um zwanzig bis hundert Prozent ab.” Dies veranlasst den Fabrikanten, die Bedingungen des Fabrikationsprozesses genauer zu untersuchen. Er nimmt dabei zur Kenntnis, dass die Prozessbedingungen in seiner Fabrik erheblich komplexer sind, als die Experimentalbedingungen im Labor. „Er bemerkt Veränderungen in der Zeit und Temperatur verschiedener Prozesse, der Wirkung der umgebenden Hitze und Feuchtigkeiten, der Reaktion zufällig erzeugter Gase. Als er entdeckt, dass und wie sie seine Resultate beeinflussen, ändert er sein praktisches Ver-fahren.” Kurzum: Der Handlungserfolg tritt dann ein, wenn die im Labor gewonnenen Kausalerkenntnisse nicht mehr schematisch angewandt werden, sondern dazu genutzt werden, die individuelle Situation genauer zu beobachten und eine für sie passende Lösung zu finden. Deweys Schlussfolgerung für jede Form professioneller Praxis, für jede üxvii, also auch für die Pädagogik ist: Wissenschaftliche Resultate liefern „eine Regel für die Durchführung von Beobachtungen und Untersuchungen”, aber „nicht ein Rezept für offenes Handeln. Sie funktionieren nicht direkt unter Hinsicht auf die Praxis und ihre Ergebnisse, sondern indirekt durch das Mittel einer geänderten geistigen Haltung.”
Pädagogische Praxis als Führung?
Zunächst lässt sich wieder eine Übereinstimmung zwischen Dewey und Litt beschreiben: Beide vertreten die Auffassung, dass es nicht die Aufgabe der Pädagogik ist, die Heranwachsenden zu einer konkreten Lebensform zu führen. Was sind die Gründe?
Aus Litts Sicht ist der pädagogische Begriff des „Führens” verknüpft mit der Vorstellung eines deutlich umrissenen Bildungszieles: Der Pädagoge führt die Zöglinge in dem Sinne, dass diese sich eine konkrete Lebensform zu eigen machen. Die beabsichtigte Wirkung der Führung soll sein, dass die Zöglinge sich in Zukunft genau gemäß der anerzogenen Lebensform verhalten. Woher aber nimmt der Pädagoge sein Bildungsziel? Es besteht, so Litt, die Möglichkeit, sich bei der Festlegung des Bildungszieles an der Vergangenheit, an der Gegenwart oder an einem Zukunftsentwurf zu orientieren. Indes hält Litt die entsprechenden drei Führungs-Pädagogiken für problematisch. Bei dieser Einschätzung spielen vor allem zeittheoretische Argumente eine Rolle:
• Vergangene Lebensformen, so Litt, sind nicht wiederholbar. Sie sind Ausdruck einer nicht reproduzierbaren geschichtlichen Phase. Daher ist ein an der Vergangenheit orientiertes Bildungsideal abwegig.
• So wenig die Vergangenheit wiedergeboren werden kann, so wenig können die Lebensformen der Gegenwart konserviert werden. Denn das kulturelle Leben einer Gesellschaft ist, so Litt, „ein Meer durcheinander flutender, schäumender, wirbelnder Bewegung, (…) ein unabsehbares Sich-durchdringen von Ereignisreihen”. Eine auf die Gegenwart fixierte Füh-rungs-Pädagogik unterschätzt diese Dynamik des kulturellen Wandels.
• Eine Pädagogik wiederum, die glaubt, die Zukunft antizipieren zu können, überschätzt ihre prognostischen und planerischen Möglichkeiten. Denn „die Zukunft wird sich gerade dadurch als echte Zukunft erweisen, dass sie alle, auch die genialsten Antizipationen des ahnenden und planenden Menschengeistes so oder so Lügen straft.” Eine Pädagogik, die sich an einem in die Zukunft projizierten Bildungsideal orientiert, ist daher unreflektiert.
Insgesamt hält Litt allen Spielarten einer Führungspädagogik vor, „den Lebensraum des Werdenden beschlagnahmen” zu wollen.
Deweys Argumentation weist Ähnlichkeiten auf:
„Der Fehler, den man begeht, wenn man die Berichte und die Überreste der Vergangenheit zum wichtigsten Bildungsmaterial macht, liegt darin, dass die lebendigen Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerschnitten werden, dass die Tendenz begünstigt wird, die Vergangenheit zu einem Nebenbuhler der Gegenwart und die Gegenwart zu einer mehr oder weniger flüchtigen Nachahmung der Vergangenheit zu machen.”
„Was ist also der wahre Sinn der Vorbereitung im pädagogischen Zusammenhang? An erster Stelle soll sie ermöglichen, dass eine Erfahrung jeweils voll begriffen und angewandt werden kann. Wird dagegen die Vorbereitung als Ziel in sich selbst genommen, dann werden die Möglichkeiten der Gegenwart einer vagen Zukunft geopfert. Geschieht dies, dann ist die wirkliche Vorbereitung auf die Zukunft versäumt oder verzerrt.”
Dewey hält es für unangemessen, die Heranwachsenden im Erziehungsvorgang in eine konkrete Lebensform einzupassen. Denn die Aufgabe der Pädagogik ist es, intelligentes Handeln zu fördern. Das Kennzeichen von intelligentem Handeln ist aber, dass es sich kontinuierlich weiterentwickelt und nicht bei einem bestimmten Muster stehen bleibt. Anders gesagt: Menschen leben nicht in unveränderlichen, sondern in sich ständig wandelnden Umwelten. Daher besteht die Funktion der Intelligenz darin, das Handeln immer wieder aufs Neue auf die veränderte Umwelt einzustellen — nicht um sich den Veränderungen zu unterwerfen, sondern um den Veränderungen eine reflektierte Richtung zu geben. Die pädagogische Förderung einer so verstandenen Intelligenz schließt aus, dass man Erfahrungen aus der Vergangenheit zum unumstößlichen Maßstab erklärt. Denn die übermäßige Bindung pädagogischen Handelns an Vergangenes übersieht, so Dewey, dass vergangene Erfahrungen und Gedanken zwar eine unverzichtbare Orientierungshilfe geben, jedoch nur eine sehr bedingte Geltung haben. Ausgeschlossen ist ebenso, dass ein fest fixiertes Zukunftsziel das pädagogische Handeln bestimmt. In Anspielung auf Rousseau kritisiert Dewey alle pädagogischen Versuche, die darauf hinauslaufen, dass die Gegenwart des Heranwachsenden einer „vagen Zukunft geopfert” wird.
Was ergibt sich aus all dem für einen pädagogischen Begriff des Führens? Nach Lifts Auffassung ist einzig und allein der Begriff des Einführens sinnvoll. Die Welt, in die eingeführt werden soll, ist die Welt zeitlos gültiger Gedanken.
„Von dem Begriff des Führertums, wenn er ganz ernst genommen wird, ist doch, wie wir erkannten, die Beziehung auf ein dem Willen des Führers vorschwebendes Ziel und die durch diesen Willen bewirkte Bindung der geführten Schar nicht abzutrennen; in ihm ist also gerade dasjenige das konstitutive Moment, was in der sog. ‘Führung’ des Erziehers unter allen Umständen unterbleiben muss. Man kann die damit nahegelegte Begriffsverwirrung vermeiden, wenn man dem fraglichen Wort eine Vorsilbe beigibt und von der ‘einführenden’ Tätigkeit des Erziehers spricht: -denn einzuführen, d.h. den Zugang zur gestaltenden Welt des Geistes zu bahnen, ist in der Tat sein höchster Beruf.”
Litt geht davon aus, dass Pädagogen trotz aller Zeitbedingtheit ihres Tuns die Heranwachsenden in die Welt zeitloser Gedanken einführen können und sollen. Die schwierige Aufgabe besteht darin, „im Zeitgeborenen das zeitlos Gültige aufzufinden und zur Wirkung zu bringen.”
Was ist damit gemeint? Wie in einigen anderen theoretischen Zusammenhängen ist auch im vorliegenden Fall das Phänomen der Sprache Lifts Musterbeispiel: Sprache, dies ist Lifts These, enthält Zeitloses. Wäre dies nicht der Fall, könnte nichts, was wir sagen, in irgendeiner Weise Geltung beanspruchen. Sprache ist aber auch zeitbedingt: Was ich spreche, ist nicht die allgemeine Sprache schlechthin, sondern stets die konkrete Sprache einer bestimmten Kultur in einer bestimmten Epoche. Sprache umfasst also gleichermaßen Zeitbedingtes und Zeitloses. Dies hat eine wichtige pädagogische Konsequenz: Sprache bindet und emanzipiert zugleich. Sie bindet an eine konkrete Ausformung der Sprache und hat damit eine sozialisierende Wirkung. Doch im gleichen Zuge emanzipiert sie von der Epoche, deren Ausfluss sie ist. Denn Sprache eröffnet den Zugang zu allen Wissensbeständen, zu Reflexion und Kritik. Sprache hat also eine bildende Wirkung, fixiert aber nicht auf eine bestimmte Lebens-form. Deshalb ist aus Lifts Sicht die sprachliche Bildung ein Beleg dafür, dass die Vermittlung von Zeitlosem in zeitlichen Prozessen möglich ist. Litt räumt ein, dass das Auffinden von zeitlos gültigen Bildungsinhalten ein schwieriges Unterfangen ist. Gleichwohl gibt es seines Erachtens keine anderen angemessenen Bildungsinhalte. Denn nur zeitlose Bildungsinhalte können gewährleisten, dass die Heranwachsenden zukunftsoffen gebildet werden.
Dewey bezweifelt, dass es zeitlose Bildungsinhalte gibt. Seines Erachtens ist die Suche nach dem Zeitlosem Ausdruck einer veralteten Philosophie, die nach absoluter Gewissheit strebt. Nach Deweys Ansicht muss das Streben nach absoluter kognitiver Gewissheit zugunsten der kontinuierlichen Optimierung des Handelns, d.h. zugunsten der „Suche nach Sicherheit durch praktische Mittel” aufgegeben werden. Die Aufgabe der Pädagogik ist es daher, intelligentes Handeln zu fördern. Intelligentes Handeln in einer Welt, in der es nichts Unveränderliches gibt, beruht, so Dewey, auf guten Denkgewohnheiten. Ein wesentliches Mittel zur Förderung guter Denkgewohnheiten ist aber die „soziale Führung”. Dazu schreibt Dewey:
„Wir gehen nun über zu einer der besonderen Formen, die die allgemeine Funktion der Erziehung annimmt: derjenigen der Leitung, Beherrschung, Führung. (…) Führung [direction] ist ein neutralerer Ausdruck und legt die Auffassung nahe, dass die aktiven Tendenzen des Geleiteten in eine gewisse beständige Richtung gelenkt werden, anstatt ziellos auseinanderzustreben.”
„Die Unterrichtsvorgänge schließen sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen in dem Grade, in dem sie sich um die Erzeugung guter Denkgewohnheiten gruppieren.”
„Eine soziale Führung [social direction] der Dispositionen ist nur erreichbar durch Mitwirkung an einer gemeinsamen Tätigkeit, bei der jeder den Gebrauch, den er von Stoffen und Werkzeugen macht, bewusst auf den Gebrauch bezieht, den andere von ihren Fähigkeiten und Hilfsmitteln machen.”
Die Zitate zeigen, dass bei Dewey der Begriff „Führung” unter anderem drei Ideen umfasst:
l. Das pädagogische Führen orientiert sich an den Tendenzen, die der zu Führende mitbringt. Zu diesen Tendenzen zählt das Interesse, bestimmten Dingen auf den Grund zu gehen und bestimmte Handlungsprobleme zu lösen und ebenso das Interesse, „sich in die Betätigungen der anderen hineinzugesellen und an vereintem Tun, am Zusammenwirken teilzuhaben.” Trotz dieser Tendenzen gibt es keine prästabilierte Harmonie: “Die natürlichen oder angeborenen Impulse der Jugendlichen stimmen mit den Lebensgewohnheiten der Gruppe, in die sie hineingeboren sind, nicht durchweg zusammen. Sie müssen daher geleitet oder geführt werden.” Die Führung „besteht darin, dass die zu irgendeiner Zeit wirkenden Impulse auf ein bestimmtes Ziel gesammelt und dass in die Folge der Handlungen Ordnung und Zusammenhang gebracht werden.”
- Das pädagogische Führen zielt auf die Förderung guter Denkgewohnheiten. Gute Denkgewohnheiten sind das Gegenteil vom Verharren in festen Denkschablonen. Denn zu guten Denkgewohnheiten gehören wesentlich die Offenheit gegenüber dem Einzigartigen einer Problemsituation und die Fähigkeit, durch Schlussfolgerungen etwas Neues zur Lösung des Problems zu ermitteln: „Schlussfolgerungen sind stets ein Vorstoß über die Grenzen des Bekannten, ein Sprung ins Unbekannte. In diesem Sinne ist der Gedanke (das, worauf ein Gegenstand hinweist, das er aber nicht darstellt) etwas Schöpferisches, ein Einbruch in das Neuartige.”
- Gute Denkgewohnheiten entwickeln sich nur im reflektierten sozialen Handeln. Diese Form des Handelns lässt sich weniger durch eine direkte Führung fördern. Zu empfehlen ist, so Dewey, die indirekte Führung durch ein Situationsarrangement:
“Die grundlegende Beeinflussung erfolgt durch die Natur der Situation, an der der Jugendliche teilhat. In sozialen Situationen müssen die Jugendlichen ihre Art zu handeln in Beziehung setzen zu dem, was andere tun und sie daran anpassen. Dadurch wird ihr Handeln auf ein gemeinsames Ziel gelenkt und ein allen Teilhabern gemeinsames Verständnis erzielt. (…) In diesem gemeinsamen Verstehen der Mittel und Ziele einer Handlung liegt das Wesen des von der Gemeinschaft ausgehenden Einflusses auf den einzelnen.”
Im Mittelpunkt der pädagogisch arrangierten Situation steht ein gemeinsam zu lösendes praktisches Problem. Die Heranwachsenden koordinieren dabei ihr gemeinsames Handeln durch reflektierte Kommunikation. Dewey geht davon, dass Kommunikation, die nicht in festen Formen und Routine erstarrt ist, bildend wirkt:
„Eine Erfahrung muss formuliert werden, wenn man sie weitergeben will. Um sie zu formulieren, muss man sich ihr gegenüberstellen, sie so sehen, wie sie ein anderer sehen würde, muss überlegen, welche Berührungspunkte mit dem Leben des anderen sie hat, so dass sie in eine Form gebracht werden kann, die es ihm möglich macht, ihre Bedeutung abzuschätzen. Wenn man sich nicht mit Gemeinplätzen und Schlagwörtern begnügt, muss man sich mit Hilfe der Phantasie etwas von der Erfahrung eines anderen aneignen, um ihm die eigene Erfahrung verständlich zu machen. Alle Mitteilung hat gewisse Züge der Kunst.”
Alles in allem: „Soziale Führung” bedeutet in Deweys Pädagogik die Förderung der Fähigkeit des intelligenten gemeinschaftlichen Handelns — eine Fähigkeit, die kontinuierlich durch die Bewältigung praktischer Probleme weiter zu entwickeln ist.
Erziehen als Wachsenlassen?
Der Vergleich wird zeigen, dass die Autoren mit dem Begriff des „Wachstums” sehr unterschiedliche Dinge assoziieren.
Beginnen wir wieder mit Lifts Analyse. Er schreibt:
„(…) was wir im weitesten Sinne ,Umwelt’ nennen, hat keineswegs für den biologischen und für den seelisch-geistigen Entwicklungsprozess die gleiche Bedeutung. Für das Werden des Organismus liefert die Umwelt, abgesehen von rein äußerlichen Einwirkungen physikalischer Art, bloß die ‚Nahrung’. (…) der Organismus arbeitet im Stoffwechsel alles, was von außen her in seinen Lebensprozess eintritt, in seine eigene Form hinein, es ist für ihn nicht mehr als Material. Für die seelische Entwicklung hingegen bietet die Umwelt eine Reihe von ‚Stoffen’, die gerade nur dann dem Entwicklungsprozess dienen können, wenn sie als das, was sie selbst an sich sind, oder, besser gesagt, bedeuten, erhalten bleiben und wirken: es sind sachliche Gehalte, ideelle Gültigkeiten, seien es nun solche wissenschaftlicher, künstlerischer, sittlicher, religiöser Art, die selbst schon ihre Form haben und nur durch ihre eigene Ge-formtheit für den Formungsprozess der Seele bedeutsam werden. Die übliche Rede von der ,geistigen Nahrung’ ist irreführend, weil sie auf der Seite des seelischen Werdens dieselbe einseitige Asiimilation durch den Lebensprozess voraussetzt, wie sie auf der Seite des organischen Wachstums zweifellos vorliegt.”
Nicht nur das technische Mittel, auch das biologische Lebens-Mittel hat, so Litt, gegenüber dem ihm zugeordneten Zweck einen eingeschränkten Wert. Beide Mittel haben lediglich eine dienende Funktion. Das biologische Lebens-Mittel verliert bei seinem Gebrauch seine eigene Form, denn der aufnehmende und wachsende Organismus assimiliert das Nahrungsmittel. Litt kontrastiert diese „einseitige Assimilation” mit dem Bildungsvorgang: Im Unterschied zur biologischen Nahrung kommen Bildungsinhalte nur dann zur Wirkung, wenn sie nicht einseitig assimiliert werden. Bildend wirken die Inhalte nur dann, wenn sie mehr sind als bloße Mittel, die ihre Form verlieren. Bildung ereignet sich in dem Moment, in dem der sich Bildende die Bedeutung des Inhaltes genau erfasst und von ihr sein Denken formen lässt. Insofern verläuft biologisches Wachstum grundsätzlich anders als die seelisch-geistige Entwicklung.
Doch dies ist nicht alles. Rein organische Prozesse, so Litt, sind determiniert: Bereits im Keim sind die verschiedenen Wachstumsetappen sowie die spätere Endform angelegt. Dem Wachstumsprozess ist von Anfang an die Bahn vorgegeben. Er verläuft also relativ unabhängig von dem variierenden Einfluss der Umwelt. — Ganz anders die seelisch-geistige Entwicklung: Hier stehen weder die Entwicklungsbahn noch das Entwicklungsziel von Anfang fest. Der Einfluss der Umwelt spielt dabei eine erhebliche Rolle. Litt schreibt: „Man denke sich ein und dasselbe Menschenwesen mit einer soundso gearteten ,Anlage’ in seiner Entwicklung hineingestellt in eine Mannigfaltigkeit von menschlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Umwelten: es würde nie und nimmer in jedem der hier angenommenen Fälle zu einer und derselben Persönlichkeit heranwachsen.” Anders gesagt: Die „seelische Gesamtdisposition” ist „voll ‚unbegrenzter Möglichkeiten’; sie weiß nichts von jener Eindeutigkeit der Determination, die dem biologischen Keim eigen ist.” Lifts pädagogische Schlussfolgerung: Pädagogisches Handeln ist kein Wachsenlassen. Denn: „Nur deshalb gibt es Erziehung, weil die Seele- nicht eindeutig präformiert ist, sondern erst in der Auseinandersetzung mit ideellen Gehalten sich gestaltet, und darum gibt es seelische Entwicklung, weil es Erziehung, d.h. persönliche Übertragung ideeller Gehalte von Mensch zu Mensch gibt.”
Nur in einer bestimmten Hinsicht lässt Litt die Analogie zwischen Bildung und Wachsenlassen gelten. Ein bildend wirkendes Wachsenlassen vollzieht sich, so Litt, wenn ein Kind sich die kulturellen Muster seiner Umwelt aneignet, ohne dass diese Aneignung ausdrücklich beabsichtigt und geplant ist. Litt veranschaulicht dies wieder am Beispiel der Sprache: Der Prozess, in dem sich das Kind seine Muttersprache aneignet, vollzieht sich zu einem großen Teil ohne einen expliziten und reflektierten pädagogischen Plan. In diesem Prozess haben viele Akteure einen Einfluss, ohne dass sie daran denken „Menschen nach ihrem Bilde formen zu wollen”. Der Vorgang verläuft also in erheblichem Maße ungesteuert: Das Kind wächst gleichsam in die Sprache seiner Kultur hinein. In diesem Fall spricht Litt vom „gute[n] Sinn des Wachsenlassens”.
Nach Deweys naturalistischer Auffassung gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der seelischen-geistigen Entwicklung und der biologischen Entwicklung. Daher ist „Wachstum” ein zentraler Begriff seiner pädagogischen Theorie:
„Unser Endergebnis war, dass Leben Entwicklung ist und Entwicklung und Wachstum [growing] Leben sind. Ins Pädagogische übersetzt bedeutet das, 1. dass der Vorgang der Erziehung kein Ziel außerhalb seiner selbst hat; er ist sein eigenes Ziel; 2. dass der Erziehungsvorgang beständige Neugestaltung, dauernden Neuaufbau, unaufhörliche Reorganisation bedeutet.”
„Da Wachstum [growth] das Kennzeichen des Lebens ist, so ist Erziehung nichts weiter als wachsen lassen und wachsen machen [education is all one with growing]; sie hat kein Ziel außerhalb ihrer selbst. Das Kriterium für den Wert der Schulerziehung liegt darin, in welchem Ausmaße sie das Verlangen nach dauerndem Wachstum [continued growth] weckt und die Mittel bereitstellt, um dieses Verlangen zu be-friedigen.”
Mit „Wachstum” verbindet Dewey nicht einen determinierten Vorgang, in dem sich schrittweise eine bestimmte Form ausfaltet, sondern einen Prozess, in dem fortwährend etwas Neues geschieht. Die stetige Erneuerung ist das Wesentliche des Wachstums.
Wachstum ist nur durch die komplexe Interaktion von Umwelt und Organismus möglich. In dieser Interaktion, so Dewey, verändert sich die Beziehung des Organismus zur Umwelt fortwährend. Die kontinuierliche Veränderung der Beziehung von Organismus und Umwelt ist der Kern der lebendigen Erneuerung.
Das Wachsen zielt nicht auf einen abschließenden Zweck. Vielmehr, so De-wey, verändert sich der Zweck des Wachstums fortwährend: Der Wachstumszweck ist jeweils der nächste (nicht determinierte) Schritt in der lebendigen Erneuerung. Jede der Formen, die nach und nach im Wachstumsprozess entstehen, ist der Zweck des Wachstums. Das Ziel des Wachsens ist also nicht das Erreichen eines Abschlusses, sondern das unbegrenzte Weiterwachsen im Sinne der stetigen Erneuerung der Beziehung von Organismus und Umwelt.
Was heißt dies für die Pädagogik? Menschliches Leben, so Dewey, ist ganz und gar Teil der Natur. Daher muss Bildung als Wachstum und Erziehung als „wachsen lassen” und „wachsen machen” begriffen werden. Das bedeutet nicht, dass sich der Erzieher passiv verhält und lediglich beobachtet, wie der Heranwachsende die in ihm genetisch präformierte Gestalt Zug um Zug entfaltet. Vielmehr meint Erziehung die Beeinflussung eines Prozesses, dessen Zentrum gerade nicht die Determination, sondern die kontinuierliche Erneuerung ist.
„Wachstum”, so Dewey, bedeutet nicht, dass die Erziehung auf ein definitives und abschließendes Ziel hinaus läuft. Vielmehr verändert sich das Ziel der Erziehung fortwährend. Das Erziehungsziel ist jeweils der nächste (nicht determinierte) Entwicklungsschritt des Heranwachsenden in seiner Beziehung zur Umwelt. Jede der Beziehungsformen, die dabei nach und nach entstehen, ist das Ziel der Erziehung. Das Ziel der Erziehung ist also nicht das Erreichen eines Endpunktes, sondern das unbegrenzte Weiterwachsen im Sinne einer intelligenten und stetigen Weiterentwicklung der Beziehungen zur Umwelt. Daher betrifft Erziehung und Wachstum nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene:
„(…) das normale Kind und der normale Erwachsene sind in gleicher Weise in Entwicklung begriffen. Der Unterschied zwischen beiden ist nicht der zwischen Wachstum und Nichtwachstum, sondern zwischen verschiedenen Formen des Wachstums, die den verschiedenen Bedingungen entsprechen.”
Erziehung als Kunst?
Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Litts und Deweys Analysen zum Begriff „Kunst” völlig divergieren. Nach Litts Einschätzung trifft der Begriff der Kunst nicht den Handlungscharakter der Pädagogik, da der Pädagoge nicht die Gestaltungsfreiheit eines Künstlers hat. Für Dewey ist Erziehung nicht nur eine Kunst, sondern die höchste Kunst.
Betrachten wir wieder zuerst Lifts Argumentation:
„Der Künstler bedarf desjenigen Wissens um die Beschaffenheit seines Stoffes, das ihm die technischen Möglichkeiten der Stoffbearbeitung erschließt: innerhalb dieser gewussten Möglichkeiten aber ist sein Formwille frei und unbeschränkt.”
„(…) die Form, zu der das pädagogische Objekt durch das erzieherische Wirken geführt werden soll, wird nicht unabhängig von dessen realer Beschaffenheit rein von außen her bestimmt, sondern sie muss in ihm selbst zwar nicht gegeben, aber doch angelegt sein; (…).”
„Eben deshalb hat auch die Rede von ,Stoff’„Material’„Objekt’, die ganz unanfechtbar ist, wo künstlerisches Schaffen in Frage steht, etwas Anstößiges, sobald sie auf erzieherisches Wirken angewandt wird: sie nimmt dem Gegenstand der Erziehungsarbeit das Eigenrecht, die innere Bestimmung, mit dem er dem erzieherischen Bemühen gegenübersteht, und gibt dem gestaltenden Willen des erziehenden Subjekts zu viel.”
An den Zitaten wird deutlich, dass Litt seine Argumentation in drei Stufen aufbaut:
- Für den Künstler, so Litt, ist der ihm vorliegende Stoff ein wertneutrales Mittel. Der Künstler gebraucht den Stoff als Mittel für bestimmte ästhetische Zwecke. Allein der von außen gesetzte Zweck verleiht dem Stoff seinen Wert. Der Stoff ist auch formneutral: Er ist nicht auf eine bestimmte Form festgelegt, sondern hat das Potential für zahllose Gestalten. Daher ist der Künstler in der Wahl der ästhetischen Zwecke frei. Lediglich die technischen Bearbeitungsgrenzen, die der Stoff setzt, schränken seinen Handlungsspielraum ein.
- In dem Feld, in dem der Pädagoge wirkt, gelten andere Prinzipien. Die Menschen, die erzogen werden, sind keineswegs wert- und formneutrale Mittel. Die Heranwachsenden sind weder als „Stoff” noch als „Material” noch als „Objekt” zutreffend charakterisiert. D.h.: Die Heranwachsenden dürfen
nicht für willkürlich gesetzte Zwecke instrumentalisiert werden. Bestimmend für die pädagogische Praxis darf nur das sein, was in den Heranwachsenden bereits „angelegt” ist. Mit dem Begriff „angelegt” ist indes nicht eine bestimmte vorgegebene biologische Disposition gemeint, sondern die Individualität der Heranwachsenden, ihr Potential zur freien Selbstbestimmung sowie ihr Potential, in die Sphäre allgemeingültiger und zeitloser Erkenntnisse gelangen zu können.
- Um zu erkennen, was für die jeweilige Individualität besonders entwicklungsförderlich ist, bedarf der Pädagoge einer „eigentümliche[n] erzieheri-sche[n] Phantasie”. Insofem, aber auch nur insofern hat die Tätigkeit des Pädagogen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Tätigkeit des Künstlers. Im Übrigen gilt, dass die Handlungsfreiheit des Pädagogen gegenüber den Heranwachsenden im Vergleich zur Freiheit des Künstlers erheblich eingeschränkt ist. Der Pädagoge agiert gegenüber den Heranwachsenden nicht determinierend, sondern ermöglichend. Er behandelt die Heranwachsenden nicht als zu formenden Stoff, sondern als geistbegabte Lebewesen, die sich in ihrer zukünftigen Entwicklung in unvorhersehbarer Weise selbst eine eigene Form verleihen:
„Jeder Eingriff, jede Hilfeleistung, jede Abwehr und jede Gegenwirkung soll getragen sein von jener tiefen Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebendigen, die da weiß, dass die Wege des Geistes jeder Vorausberechnung, jeder zudringlichen Neugier spotten.”
Wenn wir diesen Gedankengang mit Deweys Argumentation vergleichen, sollten wir uns das oben Skizzierte noch einmal vergegenwärtigen: Dewey sieht eine enge Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft und versucht, den antiken Gedanken der üxvri zu beleben. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der Begriff der Kunst für Deweys Philosophie und Pädagogik von zentraler Bedeutüng ist. Dewey verknüpft mit “Kunst” insbesondere folgende Gedanken:
l. Die Funktion des Denkens bzw. der Intelligenz ist die Klärung der „Beziehungen zwischen Handlungen und ihren Folgen”. Das Gegenteil von Intelligenz sind Routine und das planlose, den Einfällen des Augenblickes folgende Verhalten. Intelligentes Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es neue und wirksame Mittel-Zweck-Kombinationen erfindet: dass es schöpferisch ist.
Genau dies zeichnet auch die künstlerische Tätigkeit aus. Sie agiert grenzüberschreitend, indem sie Neues erschafft. Das geschaffene Kunstwerk erlangt seine Qualität und seinen intensiven Effekt dadurch, dass in ihm auf eine neue Weise bestimmte Mittel zu voller Wechselwirkung und Einheit gebracht werden. Insofern kann ein Kunstwerk verstanden werden als eine einzigartige „Organisation von Energien”, nämlich der Energien der eingesetzten Mittel.
Für Dewey ist Denken eine „Kunst [art] par excellence; Wissen und Aussagen, die Produkte des Denkens sind, sind Kunstwerke, genauso wie Statuen und Symphonien.”62 Zugleich ist Kunst ftir Dewey der Inbegriff intelligenten Handelns: In der Kunst erreicht menschliches Denken und Handeln seine höchste Form. Denn Kunst stellt „den Schnittpunkt des Individuellen und des Allgemeinen in der Natur dar, den Schnittpunkt von Zufall und Gesetz, wobei sie den Zufall in Gelegenheit und das Gesetz in Befreiung verwandelt”. D.h.: In der Kunst kommt die menschliche Fähigkeit, die Lenkung von Prozessen kontinuierlich zu verfeinern und zu optimieren und sich von der Fremdbestimmung durch ungeplant verlaufende Prozesse zu emanzipieren, in der stärksten Form zum Ausdruck.
- Dewey untersucht die Wirkung von Kunstwerken und vergleicht sie mit anderen Wirkungen. Kunstwerke im engeren Sinne, so Dewey, wirken final und zugleich instrumentell:
• Kunstwerke haben einen unmittelbar erfüllenden Effekt. Der Wahrnehmende erlebt und genießt die Energie und den Rhythmus des Kunstwerkes (finale Wirkung).
• Kunstwerke haben zugleich eine fortgesetzte Wirksamkeit. Der Wahrnehmende wird ein anderer durch die Begegnung mit dem Kunstwerk. Er verfeinert seine Wahrnehmung, wird intelligenter und erweitert damit seine Dispositionen für zukünftige Genüsse und Handlungen (instrumentelle Wirkung)
Dewey verallgemeinert diesen Gedanken:
„Jede Tätigkeit, die Objekte hervorbringt, deren Wahrnehmung ein unmittelbares Gut ist und deren Wirken eine kontinuierliche Quelle genussvoller Wahrnehmung anderer Ereignisse ist, weist die Schönheit der Kunst auf.”
Und er generalisiert weiter:
„Jede Tätigkeit, die beides (nämlich instrumentell und final wirkend; S.D.) zugleich ist, und nicht alternativ und abwechselnd, ist Kunst.´´
- Dewey überträgt diese Gedanken auf die Pädagogik. Pädagogik hat die Aufgabe, Situationen herbeizuführen, die beides zugleich hervorbringen: die Erfahrung erfüllter Gegenwart und die Erweiterung der zukünftigen Denk-und Handlungsmöglichkeiten. Dewey greift damit eine bekannte Idee Schleiermachers auf:
„Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung zur Zukunft hat, muss zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muss auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist. Je mehr sich beides durchdringt, um so sittlich vollkommener ist die pädagogische Tätigkeit. “
Um in diesem Sinne die Trennung von gegenwartsbezogenem Denken und zukunftsbezogenem Denken zu überwinden und eine verstärkte Wirksamkeit zu entfalten, muss die Pädagogik, so Dewey, sich auch von dem alten Körper-Geist-Dualismus lösen. In diesem Zusammenhang spricht Dewey mit Nachdruck von der Kunst der Erziehung als der “höchsten Kunst”:
„Die volle Realisierung der Integration von Körper und Geist in Aktion wartet auf die Vereinigung von Philosophie und Wissenschaft in der Kunst, vor allem in der höchsten Kunst, der Kunst der Erziehung.”
Die Überwindung des Körper-Geist-Dualismus gelingt nur dann, wenn die Pädagogik das reflektierte Handeln in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt. Mit kritischem Blick auf die Pädagogik seiner Zeit schreibt Dewey:
„Das Wort ,Schüler’ bedeutet geradezu jemanden, der damit beschäftigt ist, Wissen aufzunehmen, nicht aber fruchtbar zu handeln. (…) Der Geist wird zum ,reinen Intellekt’; seine Aufgabe beschränkt sich darauf, von den Dingen Kenntnis zu nehmen; die körperlichen Organe erscheinen als ein unbedeutender oder störender Faktor. Die lebendige Einheit zwischen der Betätigung und dem Erleiden ihrer Folgen, die zur Entwicklung von ,Bedeutungen’ führt, wird gelöst; an ihrer Stelle haben wir zwei Bruchstücke, hier bloße körperliche Betätigung, dort den durch unmittelbares Zugreifen des Geistes aufgenommenen ,Sinn’.”
In dem Maße, wie den Pädagogen die Überwindung des Körper-Geist-Dualismus und die gleichzeitige Realisierung von wertvollen finalen und instrumentalen Wirkungen gelingt, wird die Pädagogik zu einer Kunst.