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Forschung

Theodor Litt — Das Selbstverständnis der Nachkriegszeit — Naturwissenschaft, Technik und Atom17 min read

„Das Atomzeitalter.
Maximum von Naturwissenschaft und Technik.
Maximum der Verantwortung”.
(Theodor Litt, 1957)
Theodor-Litt-Jahrbuch 2012/8
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2012

KURT AURIN
Theodor Litt — Das Selbstverständnis der Nachkriegszeit —Naturwissenschaft, Technik und Atom

I. Anlass der Abhandlung

„Weit entfernt, in seiner Entscheidungsgewalt durch den Machtanspruch der entfesselten Naturkraft abgelöst zu werden, findet sich der Mensch des ‚Atomzeitalters’ mit der Last einer Verantwortung beladen, wie sie so schwer noch nie auf menschlichen Seelen gelegen hat.”
Zu dieser Feststellung gelangt Theodor Litt am Schluss einer Abhandlung, die das Selbstverständnis der 50er Jahre, der Nachkriegszeit, zum Gegenstand hat. Mit dieser Abhandlung hat es seine besondere Bewandtnis: Sie wurde für ein Handbuch politisch-historischer Bildung verfasst, das 1957 in zwei Bänden unter dem Titel „Schicksalsfragen der Gegenwart” erschien und ein Geleitwort von Franz-Josef Strauß, dem damaligen Verteidigungsminister, enthält. Das Handbuch entstand aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Soldaten; es war vor allem für Soldaten der Bundeswehr geschrieben, sollte aber gleichfalls den zivilen Staatsbürger ansprechen. Das Buch war als Hilfe zum Verständnis der Vergangenheit und der Gegenwart mit ihren vielfältigen Problemen gedacht, sollte zum Nachdenken anregen und zur Diskussion auffordern. Es enthält u.a. Erörterungen über „Deutschland und Europa”, über „Volk, Nation und Staat im 20. Jahrhundert”, über „Deutschland jenseits des eisernen Vorhangs”, „Die Französische Revolution und der moderne Staat”, „Die sowjetische Gesellschaftslehre”, „Europäische Ostpolitik” sowie „Die Wehrmacht und der politische Widerstand gegen Hitler”. Der Einleitungsartikel, der sich mit der Frage auseinandersetzt „Wie versteht unser Zeitalter sich selbst?” stammt von Theodor Litt.

Was ist das für eine Epoche?

Im Erleben deutscher Bürger war es eine Zeit des Überwindens von Ängsten und Verwundungen, die durch die Kriegsgeschehnisse verursacht worden waren; es war auch eine Zeit der Flucht und Vertreibung; — dann waren es die Wiederaufbauarbeiten, die die Menschen in Anspruch nahmen, — ferner waren es die Besatzung Deutschlands durch die Siegermächte und die Teilung in West- und Ostdeutschland. Doch überlagert wurde dies alles durch die mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik veränderte Welt, in der die Geheimnisse der Atomkraft enthüllt worden waren, und damit die Gefährdung der Menschheit ein Höchstmaß erreichte.
Bereits der Philosoph Edmund Husserl spricht von der „Entzauberung der Welt”, — Karl Jaspers stellt (1956/1958) heraus, dass durch die Atombombe eine neue existenzbedrohende Situation entstanden ist und die Menschheit durch die Wissenschaft in die Lage versetzt wurde, sich selbst zu vernichten. — Die Ambivalenz im• Selbstverständnis der Nachkriegszeit gelangt in den Aussagen von zwei prominenten Zeitgenossen zum Ausdruck: So wird einerseits von Günter Anders die verhängnisvolle Kluft beklagt, die zwischen technischem Wissen und Herstellen und menschlichem Vorstellungsvermögen besteht, da Letzteres hinter der rasanten Technikentwicklung zurückgeblieben ist; wir sind — so Anders — von gestern, antiquiert, ungleichzeitig. — Andererseits hält der Leipziger Soziologe Hans Freyer als charakteristische Merkmale der Epoche den utopistischen Optimismus sowie das von diesem und der Machbarkeit der Dinge geleitete Handeln der Menschen und damit den geringer werdenden Abstand zwischen beiden. Und die Literaturkennerin Hilde Spiel vergleicht die stehengebliebene Lebens- und Geisteshaltung Österreichs — was sicher auch für Deutschland zutrifft — mit einem Saal; wer diesen „verlässt, tritt hinaus in das scharfe Licht einer veränderten Welt, der Welt nach dem zweiten großen Krieg, deren atomare und planetarischen Zauberkünste die Seelenmagie der alten Zeit verbleichen lassen wie den Mond der Tag”. (Spiel, S. 284)
Welches ist nun der Gedankengang, mit dem Litt das damalige Zeitverständnis aufzuhellen und darzulegen sucht? — und, was können wir heute aus Litts Überlegungen für uns entnehmen?

II. Soziologisch-historischer Einstieg in das Thema

Litt geht von der natürlichen Neigung des Menschen aus, die Verhältnisse, in denen er nun einmal lebt, als „selbstverständlich” hinzunehmen. Er rekurriert dabei auf die in der Zeit der ersten Preußenkönige für selbstverständlich angesehene ständische Gliederung in Nähr-, Lehr- und Wehrstand. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse waren für den Einzelnen vorgegeben, man wurde in sie hineingeboren, hatte damit eine mehr oder minder bestimmte Lebensaufgabe und brauchte sich nicht um das Schicksal des Ganzen zu kümmern. Das Denken des Berufspartikularismus, der nach Litt der „Neigung des menschlichen Herzens” entgegenkam, herrschte auch noch im 19. Jahrhundert. Andererseits führte die geschichtliche Entwicklung im 18. Jahrhundert zu revolutionären Bewegungen und in ihrer Folge zu gesellschaftlichen Umstellungen, die nichts mehr als „selbstverständlich hinnahmen”.
Das führte zum kritischen Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Rückwirkungen auf den Einzelnen. Das Zeitalter wurde mit Schlagworten gebrandmarkt, die die kritische, auf der Höhe der Zeit stehende Einstellung auswiesen — so als Epoche der „Mechanisierung”, „Standardisierung”, „Verappa-ratisierung” und „Kollektivierung”. Der Mensch wurde zum „Roboter” und „Funktionär” degradiert. Diese Selbstbezichtigungen der Epoche arteten nur zu oft in „snobistische Wichtigtuerei und feuilletonistische Geschwätzigkeit” aus. (S. 12)
Was wäre dagegen zu tun gewesen? Das Mittel, einer zum Selbstzweck gewordenen Kulturkritik zu wehren, besteht für Litt vor allem in der „Selbstbesinnung” der Epoche. Sie muss mit einer „Selbstdisziplinierung des Denkens” einhergehen, die gewissenhaft Kritik übt, wo es vom Sachverhalt her gerechtfertigt ist, „und grundloser Mäkelei den Mund verbietet”. (S. 12/13)
Ein erstes Fazit ist so: Die im Verlauf der Geschichte unausweichlich eingetretenen Lebens- und Zeitverhältnisse hatten einen Wandel der Einstellungen der Menschen zur Folge — von der Anerkennung für selbstverständlich gehaltener gesellschaftlicher Ordnungen hin zu deren Infragestellung und berechtigter wie auch überzogener Kritik. Diese einschneidenden epochalen Veränderungen sind für Litt wichtiger Anlass zur Selbstbesinnung und gewissenhaften Überprüfung der eigenen Epoche.

III. Ursprünge von Technik und Industrie und deren Folgen

Die Zeitverhältnisse, die die Menschen zur Kritik veranlassten, machen sich vor allem an den bereits herausgestellten problematischen Sachverhalten fest: Der Ausdifferenzierung der Berufe, der Mechanisierung der Arbeitsverläufe und deren Verlust an humanen Dimensionen. Sie können nach Litt „nicht ernst genug genommen werden”. (S. 13)
Auch fragt sich Litt, ob wir, indem wir den problematischen Sachverhalt und deren verhängnisvolle gesellschaftlichen Folgen anerkennen, Recht und Grund genug haben, dies als Fehlentwicklung anzuprangern und die Menschen um der Maßnahmen willen zu verdammen, durch die sie die Technisierung herbeigeführt haben? — Denn könnte es nicht sein, dass die erhobenen Vorwürfe hinfällig werden, wenn man auf der Suche nach den Ursprüngen Zusammenhänge und mit ihnen verbundene Erfordernisse, ja Zwänge entdeckte, „denen sich zu entziehen nicht in der Macht der Menschen” liegt. (a.a.O.)
Auf der Suche danach greift Litt auf die historische Entwicklung zurück. Die berufliche Aufsplittung, die schon die klassischen Denker wie Herder, Schiller, Hölderlin und Pestalozzi kritisierten, führt zur „Einsicht in die Ursprünge … (der) Beschlagnahme des Menschen durch die Sache” und auch zu dessen Bedrohung „als Bürger eines Staates, als Mitglied der Gesellschaft und Träger (eines) Berufes”, wie sie die zitierten Denker herausstellten. (S. 14) Aber hier darf nicht übersehen werden, dass in der Suche nach den Ursprüngen der spezialistischen Aufteilung menschlichen Arbeitens und Handelns noch nicht die tiefste Ebene erreicht ist, von der aus die einschneidenden Veränderungen der Moderne verständlich werden.
Als Zugang zu der tiefer liegenden Ebene greift Litt auf die Bezeichnung „Atomzeitalter” zurück, die für die Zeit Ende des 2. Weltkrieges und über diese hinaus üblich geworden ist. Und er führt dazu aus: Ein Begriff der griechischen Naturphilosophie — das Atom — wurde im 20. Jahrhundert zu einem naturwissenschaftlichen Begriff. Dass dieser zur Kennzeichnung einer ganzen Epoche geworden ist, macht den Anteil deutlich, der der Naturwissenschaft sowie der Anwendung ihrer Ergebnisse am Gesamtzustand der Zeitepoche zuerkannt wird. Und heute sehen wir das als selbstverständlich an.
Die Entwicklungen der Vorgänge, die zum Atomzeitalter führten — so stellt Litt fest — waren in den Forschungen eines Keplers, Galilei, Huygens und Newtons angelegt. Und in deren Folge haben sie zu dem Zeitereignis geführt, das als „industrielle Revolution” gekennzeichnet wird. Doch der Verlauf dieser Entwicklungen vollzog sich keineswegs revolutionär, konvulsiv und eruptiv, sondern fast geräuschlos im Gegensatz zu dem, was dann die Entwicklungen an gesellschaftlichen Umstellungen zustande gebracht haben. (S. 16)
Um den grundlegenden Zusammenhang aufzudecken, wie Litt ihn in umfangreichen Darlegungen herausgearbeitet hat — so in den Werken „Technisches Denken und Bildung”, „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt” (beide 1957) — zeigt Litt zunächst die entscheidenden Handlungsschritte auf, die zu den industriellen Veränderungen führten: „Der Forscher ergründet und berechnet die kausalen Zusammenhänge des Naturgeschehens, der Erfinder konstruiert die Apparaturen, durch welche diese Zusammenhänge den menschlichen Zwecken dienbar gemacht werden, der industriell Produzierende organisiert die Arbeitsvorgänge, in denen die durch den Erfinder erdachten Verfahrensweisen fruktifiziert werden, (und) die werktätigen Menschen treten nach Maßgabe des durch den Organisator entworfenen Plans zur arbeitsteiligen Herstellung zusammen”. (S. 17) Dieser Prozess richtet sich in jedem Handlungsabschnitt an den Anforderungen aus, die „von der Sache her” gegeben sind. — Unter Sache versteht Litt die Welt der Dinge, im weitesten Sinne die den Menschen umgebende Wirklichkeit, die Natur, deren Elemente, Stoffe und Systeme sowie deren Gesetzlichkeiten, die Forschungsgegenstand, Objekt, der Naturwissenschaften sind. —Wird man den Sachanforderungen nicht gerecht, dann gelangt man nicht zum Ziel. Zugespitzt formuliert Litt: „Wo die Sache regiert, da verstummt der Eigenwille, und wo der Eigenwille sich meldet, da wird die Sache unsichtbar.” (a.a.O.)
Das Gebot unbedingter Sachgebundenheit gilt für alle Forschungen, Erfin-dungs- und Herstellungsabläufe, als deren Ergebnis in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts die nuklearen Waffen entstanden. Dazu hat es, so erläutert Litt, „drei Jahrhunderte strengsten Dienstes an der Sache … bedurft, damit die Menschheit diese Instrumente möglicher Selbstvernichtung in ihren Besitz brächte”. (S. 18)
IV. Aufdeckung des grundlegenden Verhältnisses von Mensch und Welt
Im weiteren Nachdenken über den Sachverhalt „Sachbezogen forschender Mensch und Natur” kommt es nach Litt darauf an, dass man keinem Irrtun unterliegt, was vor allem dann zuträfe, wenn das Nachdenken zu einer Verfeindung des Zeitalters mit sich selbst führte und letztlich im Selbsthass endete. Denn die Kritiker haben sich immer angestrengt darzulegen, die Wissenschaft habe für die Zwecke der Technik und Industrie die Natur in berechenbare Formeln gebracht und die uns umgebende Welt umgewandelt und geknebelt. Wenn diese Auffassung zutrifft „dann wäre die Sache”, der zu erforschende Gegenstand der Natur, „nicht ein vor ihm selbst (— vom Menschen —) zu unterscheidendes Gegenüber, sondern seir eigenes Werk”. Er hätte sich dann selber in die Knechtschaft begeben. (S. 19)
Der Mensch wäre jedoch nicht zu den erarbeiteten wissenschaftlichen Einsichten fähig, durch welche dann die mit Hilfe der Technik umgesetzten Anwendungen entstanden sind, „wenn sie nicht seinem theoretischen und praktischem Streben sichtbarlich entgegenkäme(n). Naturwissenschaft und Technik entstehen nicht, wie ihre zahl- und wortreichen Widersacher behaupten, durch einen Gewaltakt, in dem der Menschengeist die ihm begegnete Weltwirklichkeit in ein von ihm dekreditiertes Schema hineinpresst”. (a.a.O.) Vielmehr entstehen sie in der Auseinandersetzung des menschlichen Geistes, der — ausgehend von Fragen und mit Hilfe entsprechender Methoden — die Natur untersucht. Und es gelingt nur dann eine Antwort, wenn der diese suchende Mensch den auf den Natur-Sachverhalt passenden Schlüssel und die zutreffende Formel findet. Damit gelangt Litt zu dem grundlegenden Zusammenhang, den er als „vorgezeichnetes Entsprechungsverhältnis der Zuordnung von Mensch und Welt” bezeichnet. Wenn auch das Denken Goethes von anderer Art ist als das von Litt, so nähert sich doch Litt hier dem Natur-Verständnis Goethes an, dessen Credo lautete: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nicht erblicken”.
Es trifft also nicht zu, dass der Mensch mit Hilfe von Wissenschaft „der Technik zuliebe die Natur in ein gigantisches Rechenexempel umdenkt”, und damit die Weltwirklichkeit vergewaltigt; er kann nur das entdecken, was in den Sachverhalten der Natur als Gesetz, System und Struktur oder Wirkungsgeflecht angelegt ist und wenn das „nicht diesem seinem theoretischen und praktischen Bestreben sichtbarlich entgegenkäme”. (a.a.O.)

V. Abwehr ungerechtfertigter Kritik

Über die dargelegten grundlegenden Einsichten kann kein Zweifel bestehen. Und ebenso sind die „Vollmachten, die der Mensch des Atomzeitalters mit Entzücken und Grauen in seine Hand gelegt findet … nicht Möglichkeiten, die er kraft selbstherrlichen Verordnens in seinen Besitz gebracht hätte”. Diese sind vielmehr in gleicher Weise „von Seiten der Welt (— und der Natur —), die ihm diese Wirkungsformen zur Verfügung stellt, … bedingt und bestimmt”, wie von der Seite des Menschen, „der sich dieser Wirkungsformen bemächtigt”. (S. 20) Sie sind kein Zeugnis menschlichen Frevels.
Daraus folgert Litt: Mit dem dargelegten Nachweis wird das Selbstverständnis der Nachkriegsepoche von den Selbstvorwürfen und auch vom Selbsthass befreit. — Vielmehr kann der Mensch sogar stolz sein auf die Forschungseinsichten und Erfindungen seines Geistes. Hierdurch wird er auch von den Lähmungen verschont, in die der Selbstzweifeln ausgesetzte Mensch hineingeraten kann — Lähmungen, die ihn nicht daran hinderten, auf dem Wege einzuhalten, der unausweichlich weiterführt und schließlich „mit dem Hunger, ja dem Dahinsterben von ungezählten Millionen bezahlt werden müsste”. (a.a.O.)

VI. Die Ambivalenz der Formen menschlichen Wirkens und Gegenwehr

Die Zeitkritik, die die von Menschen mit Hilfe von Technik herbeigeführten Entwicklungen und deren problematische Verwendungs- und Wirkungsformen an-prangen, so stellt Litt nunmehr fest, besteht zu Recht. Doch in diesem Zusammenhang weist der kritisch und dialektisch denkende Litt nachdrücklich darauf hin: „Es gibt schlechterdings nicht eine einzige unter den spezifischen menschlichen Formen des Wirkens und Schaffens, die nicht die ihr zugehörigen Möglichkeiten, ja Versuchungen des Abgleitens und der Selbstverkehrung mit sich führte.” (S. 21)
Das gilt auch — so der Autor dieses Beitrags — für die Erziehung; denken wir nur daran, was in dieser Hinsicht in Familien schiefläuft. Ebenso können im Bereich der Bildung Fehlformen auftreten, die zum Beispiel Adorno als Halbbildung kritisierte. Und: besteht nicht eine nachweisbare, verhängnisvolle Neigung der Pädagogik zu problematischen Utopien? Davon ist auch die Philosophie nicht frei, wenn wir an die Kritik Karl Poppers an den „geschlossenen Systemen” von Plato, Marx und Freud denken, die ebenso Karl Jaspers wegen ihres hermetischen Charakters als „Gehäuse” kennzeichnete.
Auf Grund der Möglichkeiten des Fehlgehens menschlicher Wirkungsformen sind besonders die Menschen der Nachkriegsepoche hinsichtlich des Selbstverständnisses ihrer Zeit vor die zweite Aufgabe gestellt — nämlich: sich der negativen Folgen menschlicher Wirkungsformen zu vergewissern und Wachsamkeit zu üben.
Einerseits, so erläutert Litt die hier bestehende Paradoxie, ist die „Hingabe an die Sache, obwohl eine Tat der Freiheit und nicht das Ergebnis kausaler Notwendigkeit”, … andererseits hat die Sachhingabe Lebens- und Arbeitsverhältnisse aufkommen lassen, die die Freiheit des Menschen einengen und sein Leben vereinseitigen.
Weiter fragt Litt, ob nicht die Menschheitsgefährdungen ebenso als Buße füi den Fehltritt anzusehen sind, durch den der Mensch sich „mit der Vergewaltigung der Natur schuldig gemacht hat”. (S. 23) — Oder: Ist dies „die notwendige Folge eines Vorgehens”, zu dem der Mensch von der Natur vernehmlich eingelader wurde — „eines Vorgehens also, das von keinem Tadel getroffen wird … Es liegt nun einmal im unabänderlichen Wesen der Sachwelt, dass sie den Menschen dahin bringt, ein Arbeitsgefiige zu konstruieren, von dessen Anforderungen der Mensch als Mensch mehr und mehr zu kapitulieren in Versuchung kommt”. (a.a.O.)
Was führt uns aus diesem Dilemma heraus? Helfen kann uns nur die Einsicht in die verhängnisvollen Entwicklungen der Moderne: „Die Selbstbesinnung ist das notwendige Korrektiv der Sachverlorenheit”. (a.a.O.) Diese muss jedoch mit einet schonungslosen Selbstvergewisserung und unerbitterlichen Wachsamkeit einhergehen.,
Um dies zu untermauern, unternimmt Litt einen kurzen anthropologischen Exkurs: Im Unterschied zum Tier zeichnet den Menschen die Fähigkeit des Bewusstseins aus. Die Tiere sind in ihre je eigenen Lebensräume eingebunden, der Mensch — nach Nietzsche das nicht festgestellte Tier — muss für sich selbst Vorsorge treffen, er muss Arbeit und Anstrengungen auf sich nehmen, um sein Dasein zu bewältigen und sich dessen mit Hilfe des Bewusstseins zu vergewissern und es zu reflektieren (siehe vor allem Gehlen). Dem Menschen kann so bewusst werden, weshalb die von ihm mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik geschaffenen und ihn gefährdenden Arbeits- und Lebensverhältnisse ihn immer wieder in Versuchung bringen, „über alle Sachhingabe hinweg seiner selbst zu vergessen”. Erst dann ist er in die Lage versetzt und dazu herausgefordert, „sich selbst zur Wachsamkeit zu erziehen”. (S. 24) — Und optimistisch fügt Litt hinzu, dass er „keinen Beruf im modernen Leben wüsste, dessen Träger sich von der Pflicht zu solcher Wachsamkeit entbunden fühlen dürfte”. (S. 24/25) — Das kann allerdings weniger als Tatbestandsbeschreibung, sondern vor allem als moralischer Appell verstanden werden.

VII. Die Problematik der Verwendung technischer Mittel

Mit der Herstellung von Mitteln, die mit Hilfe der Technik zustandekommen, ist unweigerlich die Frage nach ihren Zwecken verbunden — wofür werden sie gebraucht? — wem nutzen sie? — Das bestimmt — so Litt — der menschliche Wille. Durch dessen Entscheidung wird die Auswahl der Möglichkeiten, die einem Mittel zu eigen sind, begrenzt oder auch ausgeschlossen. Ein Menschengeschlecht, dem durch die Freisetzung der Atomkraft ein Mittel zur Verfügung steht, ist damit „vor die Wahl zwischen Sein und Nichtsein gestellt.” Es kann daher „nicht in Versuchung (kommen), sich über die Tragweite der die Mittelanwendung bestimmenden Willensentscheidung zu täuschen”. (S. 26)
Es ist als ein tragisches Geschehen anzusehen, dass die Sachwelt — durch deren Perfektionierung dem Menschen zuvor ungeahnte Möglichkeiten erschlossen werden — „ihn zugleich in eine Dienstbarkeit hineingenötigt hat, in der er nur zu sehr versucht ist, sich selbst aus den Augen zu verlieren”. (a.a.O.) Das bedeutet: In der Abwägung seiner Entscheidungen ist der Mensch veranlasst, nicht nur die Zwecke der von ihm geschaffenen Mittel und deren möglichen Nutzen zu bedenken, sondern er muss ebenso und vor allem den gegen sich selbst richtenden Gefährdungen Rechnung tragen. Und es ist heute hinzuzufügen: Er muss auch die gegen Natur und Schöpfung gerichteten verhängnisvollen Auswirkungen berücksichtigen — und nicht zuletzt auch deren mögliche ungewollten Nebenwirkungen, um ein Wort von Eduard Spranger zu gebrauchen.
Zum Schluss seiner Analyse des Selbstverständnisses der Nachkriegszeit wehrt sich Litt dagegen, diese Epoche als „Atom-Zeitalter” zu kennzeichnen. Damit sei nach seiner dargelegten Auffassung die Naturwissenschaft übergangen worden, die in der Sachwelt so stark dominiert. Doch sogleich wird die Kennzeichnung der Epoche mit Naturwissenschaft als alleinigem Merkmal durch die nachfolgende Aussage infragegestellt: Zu keiner Zeit ist das Gewicht des Selbst des Menschen, so Litt, „als Ort der Entscheidung so in den Vordergrund getreten, wie in der Epoche, die ihm mit der Atomkraft die Macht der totalen Vernichtung in die Hand gab”. (S. 27) Dem Maximum an Naturwissenschaft und Technik steht so ein Maximum an Verantwortung des sich selbst vergewissernden, wachsamen und Versuchungen wehrenden Menschen gegenüber.
Man kann diese Schlusspassage Litts auch als Plädoyer für die Geisteswissenschaft, speziell für die Philosophie verstehen.

VIII. Resümee

Es ist schon eine schwere Kost, die Theodor Litt mit seiner Einleitungsabhandlung den Angehörigen der Bundeswehr und ebenso den zivilen Staatsbürgern verabreicht; aber er vermittelt hilfreiche Klarheit in der Erörterung der Zeitprobleme und zu deren Bewältigung. Litt verdammt weder die Naturwissenschaft noch die Technik, auch nicht die Ökonomie; vielmehr wehrt er einer sachlich unzutreffenden Kritik, durch die bei den hiervon Betroffenen Selbsthass und sogar Lähmungen ausgelöst werden könnten … und … Litt gelangt zu einem aufgeklärten, d.h. in die Tiefe gehenden, kritischen und realistischen Verständnis seiner Zeit. Er leistet das, indem er

  • die historischen-gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen aufzeigt innerhalb derer Naturwissenschaft und Technik
    voranschritten,
  • die Grundvoraussetzungen herausarbeitet, auf denen unsere Naturerkenntnisse und die Technik beruhen, — so vor allem die Entsprechung
    von menschlichen Erkenntnismöglichkeiten mit den in der Sachwelt enthaltenen gesetzlichen Zusammenhängen und Strukturen,
  • die generelle Ambivalenz möglicher Auswirkungen menschlichen Handelns herausstellt — so seines Gelingens oder Fehlgehens/ hilfreicher
    Nutzung oder extremer Gefährdung — sowie die Versuchungen und Verlockungen, denen unser Handeln ausgesetzt ist, und
  • indem er auf Erkenntnisse der Anthropologie zurückgreift, auf den Menschen auszeichnende fundamentale Eigenschaften und Fähigkeiten.

Damit kann Litt die Lösungsmöglichkeiten und die damit gegebenen Herausforderungen überzeugend aufzeigen, die sich nicht nur den Menschen seiner Zeit, sondern ebenso uns heute stellen: Sach- und Problemkenntnis, Selbstdisziplinierung des Denkens, Selbstbesinnung und schonungslose Selbstvergewisserung sowie unerbittliche Wachsamkeit und ein Höchstmaß an Verantwortung.
Fukushima hat uns gezeigt, dass es nicht nur um die menschheitsgefährdende Spitzen-Technik der Atomspaltung und Atomkraftnutzung geht. Die Folget! der mit Hilfe der Techniknutzung unternommenen Eingriffe in Natur und Kosmos —vor allem der vermehrte CO2- Ausstoß — haben die Gefährdungen der Menschheit inzwischen vervielfacht. Sie erstrecken sich auch — wenn wir uns die zum Teil ungezügelte Entwicklung der elektronischen Technologien vor Augen führen — auf die Freiheit und Würde des Menschen. Die von Litt geforderte maximale Verantwortungsnahme betrifft so auch andere Bereiche der Techniknutzung.

Unsere Verantwortung heute ist maximal, plural und global.

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