Skip to content
Kategorien
Forschung

Philosophie gegen ZeitgeistTheodor Litts Behauptung der Philosophie als „Hüterin der Wahrheit” gegenüber dem Hegemonieanspruch von „Weltanschauung”44 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
2001/2
Leipziger Universitätsverlag 2002

HEINZ-WERNER WOLLERSHEIM
Philosophie gegen Zeitgeist
Theodor Litts Behauptung der Philosophie als „Hüterin der
Wahrheit” gegenüber dem Hegemonieanspruch von „Weltanschauung”

Wie begegnet ein Wissenschaftler dem Druck politischer Macht? In welchen Bereichen darf, in welchen Bereichen muß er sich mit welchen Mitteln engagieren? Und: Aus welchem Recht heraus kann und soll dies geschehen und gibt es Grenzen solcher Einmischung? Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind Antworten auf diese Fragen schwierig geworden. Nicht nur, weil über „die” Stellung „der” Wissenschaft keinerlei Konsens mehr besteht, sondern auch, weil das Vertrauen in die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses unabhängig von Interessenlagen und kulturellen und historischen Rahmenbedingungen geschwunden ist: Spätestens seit der Postmoderne-Debatte der achtziger Jahre kursiert die Überzeugung, daß Wissenschaft keineswegs Selbstzweck sei, sondern ihrerseits von einer Metaerzählung getragen werde, die erstens die Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts definiere und zugleich zweitens dem Prozeß wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns einen spezifischen Sinn zuweise, indem sie Antwort auf die Frage nach dem Wozu von Wissenschaft gibt. Solange man zuvor die Entdeckung eines als universal angenommenen und in der Welt angesiedelten Sinns zur Aufgabe wissenschaftlicher Erkenntnis machen konnte, hatte man zumindest hierin einen archimedischen Punkt, von dem aus die Wissenschaft ein unabhängiges Wächteramt gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen begründet werden konnte.
Theodor Litt hat das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in diesem Sinne bestimmt’, wobei er einerseits an der Existenz von überzeitlich gültiger Wahrheit festhielt, andererseits auf der Grundlage seiner Hegel-Studien den Prozeß ihrer Erkenntnis nicht geradlinig, sondern dialektisch, nicht sicher, sondern risikobehaftet ansah und die Wissenschaft insgesamt zu höchster Wachsamkeit hinsichtlich ihres Tuns verpflichtete. Solche Wachsamkeit wird um so wichtiger, wenn sich Wissenschaftler in Dienst politisch-weltanschaulicher Mächte stellen oder wenn Politik von der Wissenschaft insgesamt verlangt, sich ihren Zielen unterzuordnen.
Die Rolle der Philosophie in der Auseinandersetzung mit politisch-ideologischen Hegemonieansprüchen über die Deutungsmacht wissenschaftlicher Erkenntnis findet sich im Werk Theodor Litts an unterschiedlichen, historisch prominenten Stellen in zeitlicher Nähe zu gravierenden politischen Zäsuren: 1934 legte er mit Philosophie und Zeitgeiste seine Stellungnahme zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik dar, 1946 verwendete er in seinem Vortrag Von der Sendung der Philosophie’ diese Thematik erneut, um die Philosophie als Korrektiv gegen den Führungsanspruch einer anderen, nun an die Macht drängenden Weltanschauung in Stellung zu bringen.
Im vorliegenden Beitrag stehen diese beiden Schriften Litts im Mittelpunkt. Der Entschluß, sie ausführlich zu referieren und sie gleichermaßen als Anschauungsmaterial dem Aufsatz Lassahns voranzustellen, hat mit einer Beobachtung zu tun: Aus jüngerer Zeit gibt es Litt-Kritiken, die von tiefem Unverständnis seiner Schriften geprägt sind.’ Daß mag, sofern man den Autoren keinen bösen Willen unterstellen will, auf der einen Seite damit zu tun haben, daß Litts Schriften keine leichte Lektüre sind und jedem Leser zunächst ein hohes Maß an Konzentration abverlangt wird. Zum anderen macht die hohe Anzahl derer, die sich dem nationalsozialistischen System tatsächlich angedient haben und in ihren Pamphleten über die Aufgabe ihrer jeweiligen Fachdisziplin „in diesen großen Zeiten” schwadronierten, zunächst einmal jeden Autor verdächtig, der beispielsweise „Über die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate” schreibt. Daß sich hinter diesem Titel nicht Opportunismus, sondern radikale Kritik verbergen könnte, wird für viele heutige Leser unerwartet sein. Meine Absicht, Lifts kritische Haltung aufzuzeigen, bliebe unvollkommen, würde ich es unterlassen, ebenso ausführlich zu zeigen, wogegen Litt sich zur Wehr setzt. Deshalb gibt es diesem Beitrag einen dritten Referenztext, der ausführlich dargestellt werden soll: Otto Dietrichs Vortrag Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Ein Ruf zu den Waffen des Geistes. Diese Gegenüberstellung der Texte ist nicht zuletzt die einfachste Art, die Behauptung Hentges’ zu widerlegen, daß Theodor Litt „gewillt war, sich als Philosoph und Pädagoge in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen”.

Zur Ausgangssituation

Philosophie und Zeitgeist wurde von Litt als bewußtes Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Bevormundung vorbereitet und sorgsam in Szene gesetzt. Vorausgegangen waren seit 1931 zahlreiche heftige Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischen Studenten und Lehrern, mit opportunistischen Universitätskollegen und der Bildungsverwaltung.’ Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Auseinandersetzungen um Litts Verbot einer vom NSDtB geplanten Anti-Versailles-Veranstaltung im Juni 1932, an seine Vorträge „Die geistige Krise der Gegenwart” (1932), „Der Realismus des Erziehers” (Februar 1933), „Die Krisis der Humanitätsidee” (April 1933) und den vom sächsischen Gauamtsleiter des NSLB, Arthur Göpfert, hintertriebenen Vortrag „Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staat”, den Litt dann im Oktober 1933 in der Erziehung’ veröffentlichte. Tenor dieser Ausführungen ist stets Litts Ablehnung von Dogmatismus und Intoleranz, die Zurückweisung des von den Machthabern beanspruchten unbedingten Primats der Politik und das Beharren auf der relativen Autonomie der Wissenschaft. Nun, im Herbst 1934, nimmt er ausführlich zum Verhältnis von Weltanschauung und Wissenschaft Stellung.
Litt, der sein Manuskript vorab bereits im Oktober 1934 dem Teubner-Verlag zur Veröffentlichung angeboten hatte, hielt sein Referat: am 10. November 1934 in Berlin und wiederholte es am 3. Dezember 1934 in Bonn. Genau zwischen diesen beiden Terminen, nämlich am 16. November 1934, hielt Otto Dietrich, der Reichspressechef der NSDAP, im neuen Auditorium Maximum der Universität zu Köln, den Vortrag, auf den sich Litt im Anmerkungsteil der Druckfassung von Philosophie und Zeitgeist explizit bezieht: Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus.’ Man hat also davon auszugehen, daß sich Litt bei der Lektüre des Dietrich-Textes, über den er im Dezember 1934 in einem Brief an Spranger berichtet’, einem Paradebeispiel für die von ihm selbst verurteilte Geisteshaltung gegenüber sah.
Wenn im folgenden dieser Vortrag Dietrichs ausführlich referiert wird, dann geschieht dies aus drei Gründen: Erstens läßt sich die Bedrohung (auch) der Wissenschaftsfreiheit durch den selbstangemaßten weltanschaulichen Führungsanspruch der Nationalsozialisten nur angemessen erkennen, wenn man die intellektuelle Schwäche, die Dreistigkeit und die Gewaltbereitschaft im Duktus des Textes lebendig vor Augen hat. Zweitens wird nur so der Argumentationszusammenhang Litts hinreichend deutlich, und drittens wird nur dadurch sein Mut und seine Zivilcourage erkennbar, insbesondere dort, wo er auf die Kernbegiffe seiner Gegner eingeht, um sich mit ihnen auf wissenschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen.

Otto Dietrich: Wissenschaft im Dienste der Volksgemeinschaft

Otto Dietrich, der zum inneren Zirkel um Hitler gehörte, ist vielen, die sich nicht auf die Geschichte des Nationalsozialismus spezialisiert haben, trotz seiner exponierten Stellung im nationalsozialistischen Regime heute kaum noch bekannt. Daher scheint es vertretbar und sinnvoll, eine kurze biographische Notiz einzufügen:
Dietrich, 1897 als Sohn eines Kaufmanns in Essen geboren, nahm ab 1915 als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, in dessen Verlauf er mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet wurde. Nach seinem Abitur (1918) studierte er in München, Frankfurt am Main und Freiburg im Breisgau Staatswissenschaft und Philosophie. In Freiburg wurde er 1921 zum Dr. rer. pol. promoviert. 1922 begann er seine berufliche Laufbahn als wissenschaftlicher Assistent der Essener Handelskammer. 1928, ein Jahr nach seinem Eintritt in die NSDAP, wurde er in München Leiter des Handelsteils der deutschnationalen „München-Augsburger-Abendzeitung”. Über seinen Schwiegervater Theodor Reismann-Crone, dem Besitzer der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung”, stärkte er die Verbindung der Nationalsozialisten zur rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. 1931 kehrte er als stellvertretender Chefredakteur der „Essener National-Zeitung” an seinen Geburtsort zurück. Ab August 1931 war er als Reichspressechef der NSDAP ständig in der unmittelbaren Umgebung Hitlers, begleitete diesen auf seinen endlosen Fahrten durch Deutschland und organisierte die großen nationalsozialistischen Kampagnen während der Wahlen im Jahr 1932. Im gleichen Jahr trat er in die SS ein. Ab 1933 gehörte er gemeinsam mit Hess, Röhm, Schirach, Ley, Goebbels, Darré, Rosenberg und Amann zur von Hitler ernannten „Reichsleitung” der NSDAP. Im gleichen Jahr wurde Dietrich Vizepräsident der Reichspressekanuner und hatte als solcher maßgeblichen Anteil an der Gleichschaltung der Presse. 1938 avancierte er als Nachfolger Walther Funks zum zweiten Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, womit zugleich das Amt des Pressechefs der Reichsregierung verbunden war. Dietrich war damit für die Aufbereitung und Darstellung der Nachrichtung gemäß den Vorstellungen Hitlers zuständig, was vor allem nach Ausbruch des Krieges eine besondere Bedeutung bekam. Durch die formale Unterstellung Dietrichs unter Goebbels konnte dieser die zeitweise starke Konkurrenz” beider endgültig zu seinen Gunsten entscheiden. Dietrich wurde 1945 von den Alliierten interniert und im Wilhelmstraßenprozeß am 11. April 1949 wegen Entfachung und Lenkung des Judenhasses zu sieben Jahren Haft verurteilt. Aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg/Lech wurde er bereits sechzehn Monate später wegen guter Führung entlassen. Beruflich rasch wieder integriert — als Leiter der Düsseldorfer Zweigstelle der Deutschen Kraftverkehrsgesellschaft — starb er 1952 im Alter von 55 Jahren.
Dietrich nutzte die Einweihung neuer Räumlichkeiten der Universität zu Köln, um in einer programmatischen Grundsatzrede zu verkünden, welche Vorstellungen die nationalsozialistischen Machthaber von der Aufgabe und der Funktion einer „modernen” und „zeitgemäßen” Wissenschaft im nationalsozialistischen Staat hatten. Entsprechend wurde dieser Vortrag propagandistisch ausgewertet: In der Buchpublikation wurde dem Vortragstext nicht nur ein Nachwort”, sondern auch ein umfangreiches Presse- und Hörerecho” beigefügt. Das Mengenverhältnis von Text und akklamatorischem Zuspruch einerseits wie der Charakter ausgewählter Zitationen — „,Die Rede liquidiert einige hundert Jahre Geistesgeschichte’, schreibt die ,Berliner Börsenzeitung`.” — unterstreichen insgesamt damit den Anspruch dieses Vortrags, eine „zeit(geist)gemäße” Wissenschaft in ihrer neuen Qualität zu legitimieren und anwesende wie nichtanwesende Vertreter der Wissenschaft auf dieses Konzept zu verpflichten.
Dietrich, der sich dem Publikum als studierter Philosoph vorstellen ließ, trat mit dem doppeltem Anspruch auf, einerseits aus eigenem fachlich begründeten Urteil” die Qualität „der” akademischen Philosophie zu beurteilen und andererseits die Übereinstimmung dieser Urteile mit den ideologischen Grundüberzeugungen des Nationalsozialismus zu zeigen und diesen damit als im Einklang mit der „wahren” wissenschaftlichen Erkenntnis darzustellen. Er läßt seine Ausführungen mit einer Aneinanderreihung recht willkürlich gegriffener Zitate aus dem Fundus der Philosophiegeschichte beginnen, die mit einer ebenso eigenwilligen wie zweckdienlichen Kant-Interpretation anhebt”, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche positiv würdigt, auf Spinoza und Hegel verständnislos schaut, um zu folgendem Fazit zu kommen:
„Das philosophische Streben nach letzter wissenschaftlicher Einheit, nach begrifflicher Vollendung des positiven Wissens zu einem geschlossenen Denkbild des Seins, ist bis heute im letzten Grunde unvollendet geblieben. Der Appell an das Unbeweisbare, die Metaphysik, ist stets ihr letztes Wort gewesen. Auch die sogenannte phänomenologische Philosophie hat uns bisher nicht vom Gegenteil überzeugt, da sie keinerlei positive Ergebnisse aufzuweisen hat.”
Unter Berufung auf Fichte konstruiert Dietrich nun einen Zusammenhang zwischen der vorgeblichen Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit philosophischer Weltdeutungen und dem Zeitgeist einer Epoche:
„Und wie das Wort Fichtes ,Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist’ auch heute noch seinen Sinn hat, so wird auch das philosophische Denken einer Epoche immer das Spiegelbild ihres Zeitgeistes sein.”‘
Im Uinkehrschluß folgert Dietrich, daß nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, von diesen in der Regel als Ergebnis einer das gesamte „Volk” umfassenden „Bewegung” interpretiert, nun dieser „neue Zeitgeist” sich im philosophischen Denken spiegeln müsse.
„Die Frage nach dem Seienden muß radikal neu gestellt werden in einer Zeit, in der sich der Geist einer so fundamentalen Neugestaltung des sozialen Lebens gegenüber sieht.”
An dieser Stelle bricht der Text abrupt, wenn sich Dietrich im folgenden mit der von ihm postulierten Ursache der “Krise der Philosophie” auseinandersetzt:
„Wenn wir das geistige Weltbild, so wie es die meisten Philosophen der Vergangenheit gesehen und erforscht haben, auf einen allen gemeinsamen Ausgangspunkt, auf einen allen gemeinsamen Nenner bringen, dann ist es der Individualismus gewesen, dem sie fast alle in ihrem Denken untertan waren. … Das Individuum, der Einzelne war für die Philosophie aller Zeiten das Bezugszentrum aller Erkenntnis überhaupt…. Was ist selbstverständlicher, als daß die Krise des Individualismus, die wir heute erleben, auch die Krise der — individualistischen — Philosophie sein muß! und wie sich das Leben selbst neu orientiert, fort von der Ver-gottung des Individuums und hin zur Gemeinschaft, so muß auch das vom geistigen Leben im allgemeinen und der Philosophie im Besonderen erwartet werden, wenn sie zu neuem Leben erstehen soll.”‘
Das vermeintlich falsche Denken wird nun in einer pseudoanthropologischen Argumentation mit einem zu überwindenden Menschenbild verknüpft, um dem „richtigen” Menschenbild auch sogleich die „natürlichen” Einheiten der Vergemeinschaftungen folgen zu lassen. Um die Abstrusität der Argumentation vollends zur Geltung kommen zu lassen, folgendes längere Zitat:
„Dem individualistischen Denken liegt als die selbstverständlich hingenommene Voraussetzung zugrunde, daß der Mensch ein Einzelwesen sei. Diese Voraussetzung — so fest sie auch in der allgemeinen Auffassung verwurzelt sein mag — ist falsch und beruht auf einem verhängnisvollen Denkfehler. Der Mensch tritt uns in der Welt entgegen nicht als Einzelwesen, sonder als Glied einer Gemeinschaft. Der Mensch ist in allen seinen Handlungen Kollektivwesen und kann überhaupt nur so gedacht werden. Der Mensch ist begrifflich dadurch bestimmt, daß er in Gemeinschaft mit anderen lebt; sein Leben verwirklicht sich nur in der Gemeinschaft. Gemeinschaft ist ein Begriff, dem die ganze Geschichte der Menschheit untersteht, ist die Form, in der das menschliche Leben von der Wiege bis zur Bahre verläuft, ohne die es nicht denkbar wäre.
Die tatsächlichen Gegebenheiten, die wir in der Welt fui&n, sind nicht einzelne Menschen, sondern Rassen, Völker, Nationen. Der Mensch als Individuum mag Forschungsobjekt der Naturwissenschaften sein, Gegenstand der Geisteswissenschaften ist er nur als Glied einer Gemeinschaft, in der sein Leben wirklich wird und praktisch verläuft.”
Der so benutzte Gemeinschaftsbegriff bietet dann auch die Möglichkeit, den Nationalsozialismus als Schutzmacht der Wissenschaft zu stilisieren:
„Den fundamentalen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft hat zwar Tönnies für die Wissenschaft klargemacht, Eucken hat ihn idealistisch unterbaut, aber ohne daß die Wissenschaft die Wertlosigkeit des Gesellschaftsbegriffs für ihre grundlegende Arbeit erkannt hätte. Hier ist die nationalsozialistische Weltanschauung berufen, den wissenschaftlichen Durchbruch zu vollziehen und das universalistische, gemeinschaftsbewußte Denken endlich auf den Thron wahrer Erkenntnis in den Geisteswissenschaften zu erheben, auf den es einen Anspruch hat”
Von hier aus lassen sich dann auch die neuen Schwerpunktfächer des akademischen Kanons bzw. die neuen Aufgaben der hergebrachten wissenschaftlichen Disziplinen definieren:
„Die Rassenlehre und Rassenforschung wird folgerichtig eines der bedeutendsten Forschungsgebiete der wissenschaftlichen Welt sein müssen. Die universalistisch-organische Staatsauffassung findet ihren Niederschlag in der Lehre von der Volksgemeinschaft als Wesensgrundlage
des Staates. Von der Gemeinschaft, nicht vom Individuum, leitet auch die Rechtswissenschaft ihre Prinzipien und Grundsätze ab. Die Wirtschaftswissenschaft hat nicht den einzelnen, sondern die soziale Gemeinschaft zum Ausgangspunkt. Die Philologie hat die Aufgabe, die Jugend zum Gemeinschaftsbewußtsein, zum Gemeinschaftsdenken zu erziehen, usw.””
Diese Auffassung steht natürlich dem Prinzip der Freiheit von Forschung und Lehre diametral gegenüber. Dietrich löst stellt dem traditionellen Verständnis der Wissenschaftsfreiheit seine Interpretation der Freiheit gegenüber, die auf die Interpretation individueller Freiheitsrechte im Rahmen des Primats der Gemeinschaft rekurriert:
„Da das Individuum nur durch die Gemeinschaft existiert, kann es seine persönliche Freiheit auch nur durch die Gemeinschaft und aus ihr ableiten. Die nationalsozialistische Weltanschauung erkennt in Übereinstimmung damit nicht nur die Freiheit der Persönlichkeit an, sondern fordert sie sogar. … Die gestaltenden Kräfte und schöpferischen Werte der Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zur Entfaltung und für die Gemeinschaft zur Geltung zu bringen ist geradezu das bestimmende Wesensmerkmal der nationalsozialistischen Idee. Die sogenannte individuelle Freiheit ist nicht etwas, das dem Menschen von Natur aus gegeben wäre. Von Natur aus ist ihm das Gemeinschaftsbewußtsein gegeben, das Pflichtbewußtsein für die Gemeinschaft, in der er geboren ist. Der individualistische Freiheitsbegriff aber will Befreiung des einzelnen von dieser Pflichtgegenüber der Gemeinschaft.”
Freiheit wird in Zusammenhang gebracht mit Kreativität, einem wesentlichen Bestimmungsmerkmal wissenschaftlichen Schaffens. Allerdings soll auch hier die Bindung an den Nutzen für die Gemeinschaft als Maßstab schöpferischer Dignität gelten:
„Wir sehen also, daß die natürliche Freiheit die Freiheit der Persönlichkeit ist, das heißt des für die Gemeinschaft schöpferischen Menschen. Diesen einzig wahren Freiheitsbegriff lehrte schon Aristoteles, der die Freiheit nur dem schöpferischen Menschen zuerkannte. Schöpferisch aber kann man nur sein für eine Gemeinschaft. … Und deshalb setzt der Begriff der Freiheit die Bindung an eine Gemeinschaft voraus. Wer dieses Gemeinschaftsgefühl besitzt und seine sittlichen Bindungen anerkennt, der ist frei und fühlt sich frei. … Diese Harmonie des eigenen persönlichen Wollens mit den Pflichten gegenüber der Gemeinschaft …””
ist die Kernvoraussetzung und zugleich der allgemeingültige Maßstab fur die als Bestimmungsmerkmal von Freiheit gedeutete schöpferische Leistung des Individuums.
„Wir sehen also, daß der Nationalsozialismus der persönlichen Freiheit innerhalb der Gemeinschaft Raum und Wirkungsmöglichkeit gewähren kann, weil er diese Freiheit teleologisch durch die Gemeinschaft selbst … als notwendig begründet.””
Diese Bindung an die verpflichtende Idee der Gemeinschaftsdienlichkeit wird nun zum Unterscheidungskriterium für „gute” oder „richtige” Wissenschaft einerseits wie für „schlechte” oder „falsche” Wissenschaft andererseits umfunktioniert, wobei gleichzeitig die „nationalsozialistische Weltanschauung” zur Hüterin der „eigentlichen” Freiheit der Wissenschaft stilisiert wird. Der Nationalsozialismus
„gibt und garantiert diese Freiheit der Wissenschaft grundsätzlich, wenn sie ihrerseits auch nur die primitivsten Voraussetzungen erfüllt, die von jedem Staatsbürger verlangt werden, … wenn sie sich in den Grenzen bewegt, die die Natur und durch das Leben in der Gemeinschaft gesetzt hat.”
Dies legitimiert aus Sicht des Nationalsozialismus nicht nur eine Förderung der „richtigen”, sondern auch eine aktive Bekämpfung der „falschen” Wissenschaft:
„Wer dieses gemeinschaftsbewußte Denken bejaht, wird auch nur in seinem Rahmen lehren können, und zwar unbehindert und frei lehren können. Wer es dagegen verneint, ist von vornherein geistig auf einem toten Gleise und der nationalsozialistische Staat erweist der Menschheit einen Dienst, wenn er ihm seine Lehrstühle nicht zur Verfügung stellt.”
Wissenschaft als Selbstzweck, so wie sie in Humboldts Definition des Bildungsbegriffs formuliert worden war und im Laufe des 19. Jahrhunderts das Selbstverständnis universitärer Forschung und Lehre weitesthin geprägt hatte, wird kategorisch abgelehnt:
„Wissenschaft ohne Einschränkung als Selbstzweck erklärt, kann man sich heute schwer vorstellen. … Der durch den Nationalsozialismus neu gewonnene erkenntnistheoretische Ausgangspunkt aber enthebt uns aller dieser Irrwege des Denkens, weil er sie von innen heraus überwindet und sie unmöglich macht. Und deshalb ist in der Tat der Nationalsozialismus die Macht, die auch die Wissenschaft befreit, denn sie kann der Wissenschaft volle Freiheit geben, weil sie in einer Ebene liegt mit dem Leben der Nation und den Grundlagen ihres Seins.”‘
Wie in diesem Textgenre üblich fokussiert nun das Ende der Rede auf die Person Adolf Hitlers, der zum Prototyp der schöpferischen gemeinschaftsdienlichen „Persönlichkeit” proklamiert wird und damit zugleich zum Schutzherren der Wissenschaft avancieren kann. Im typischen propagandistischen Pathos wird deiNationalsozialismus glorifiziert:
„So sehen wir in der nationalsozialistischen Weltanschauung jenen wahrhaft philosophischen Geist lebendig, der nicht nur denkt um des Denkens willen, sondern auch seinen Erkenntnissen gemäß handelt und nach ihnen das Leben gestaltet.’
und gleichzeitig mit einem universellen Weltdeutungs- und unbedingten Führungsanspruch ausgestattet:
„Der Nationalsozialismus neigt nicht zu abstraktem, trockenem Denken. Seine volksverbundene Weltanschauung wird die Wissenschaft wieder dem flutenden Leben und die unendliche Fülle des Lebens wieder der Wissenschaft erschließen.”
Die Programmatik in Dietrichs Worten ist klar: Wissenschaft hat sich im Rahmen der Weltanschauung zu bewegen. Die Weltanschauung ist der Maßstab für die Dignität wissenschaftlicher Forschung, sie gibt ihr Inhalt und Aufgaben, gewährt Freiheit wo es ihr sinnvoll scheint und bekämpft das Denken, das von den weltschaulichen Vorgaben abweicht.

Theodor Litts Auseinandersetzung mit dem Postulat einer weltanschaulich gebundenen Wissenschaft: Philosophie und Zeitgeist

Litt beginnt seine Argumentation unverhohlen konfrontativ, indem er den Anlaß seiner Überlegungen folgendermaßen definiert:
„Der Zeitgeist — oder sagen wir vorsichtiger: gewisse Wortführer des Zeitgeistes erklären kategorisch, daß das fragliche Verhältnis [von Philosophie und Zeitgeist, H.-W. W.] erst dann in Ordnung sei, wenn die Philosophie davon ablasse, nach einer zeitüberlegenen, stets und überall gültigen Wahrheit zu streben, und statt dessen ihren Beruf darin finde, dasjenige in Gedankenform auszuprägen, was in diesem geschichtlichen Augenblick einen bestimmten und begrenzten Lebenskreis, nämlich unser deutsches Volk, bewegt und erschüttert. Der Zeitgeist reklamiert die Philosophie als Deuterin und Verkünderin seiner selbst.”
Diese Haltung weist Litt scharf zurück: „Die Philosophie würde aufhören, das zu sein, was ihr Name besagt”, kontert er. Philosophie als Grundlagenwissenschaft dürfe nicht mit irgendwelchen unbesehen hingenommenen Voraussetzungen arbeiten.
„Die bis aufs letzte gehende ,Rechenschaftsablageist ihre unabweisbare Pflicht. Was immer die Zeit an Forderungen an sie herantragen mag — sie kann ihm nur dann Geltung zubilligen, wenn es dieser Rechenschaftsablage Stand hält." Litt steuert nun in dialektischer Argumentation zunächst auf eine scheinbare Bejahung der Unterordnung der Philosophie unter den Zeitgeist zu. Im Rahmen der Philosophiegeschichte führt er seinen Leser von der überzeitlichen gültigen platonischen Idee, über die am Zeitgeschehen interessierte, das eigene Denken aber an überzeitlich gültige Vernunftprinzipien bindende Philosophie Fichtes bis hin zu Hegel, dessen ideologisch popularisierte Definition aus der Einleitung in die Rechtsphilosophie, die Philosophie sei ,ihre Zeit in Gedanken erfaßt', der Forderung nach Unterordnung der Philosophie unter den Zeitgeist zu rechtfertigen scheint. Litt explizit im Fortgang seiner Schrift diese Formulierung Hegels „ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Diese zu verstehen sei für die Leser seiner Schrift besonders schwierig, weil seit Hegels Tagen der Begriff der Weltanschauung eine unheilvolle Karriere" erlebt habe: „Wenn die Heutigen von einem Zusammenhang von Philosophie und Zeitgeist hören, so ist es ihnen selbstverständlich, diesen Zusammenhang dahin auszulegen, daß es Sache der Philosophie sei, die in ihrer Zeit lebendige ‚Weltanschauung' in Gedankenform auszusprechen." Litt wendet sich damit jenem Begriff zu, mit dem der Nationalsozialismus die Qualität seines Selbstverständnisses zu defmieren sucht.36 Seine Kritik führt er in zwei Schritten aus: Zunächst bezieht er sich auf Diltheys Definition von Weltanschauung als „Ausdruck einer Seelenverfassung", einer „Gemütsverfassung", einer „Lebensstimmung", einer „Art zu sehen und zu leben", deren Wurzel das „Bündel" der im Menschen wirksamen „Triebe und Gefühle" sei." Diltheys historistisch-lebensphilosophisch bestimmte Position wird in ihrer relativistischen Konsequenz, dargestellt: Weil jede Lösung philosophischer Probleme nach Dilthey einer Gegenwart und einer Lage in ihr angehöre, gewinnen in und mit diesem Zeitbewußtsein umfassendere Daseinsmächte Einfluß auf die Ausprägung der Weltanschauung: Klima, Rassen, Nationen, Epochen führt Dilthey selbst als Beispiele an. Dies bewirke eine überindividuelle Gestalt von Weltanschauungen. Diese werde zum Ausdruck einer „typischen Seelenverfassung". „Es ist ein besonderer ,Typus Mensch', der sich in jeder Weltanschauung ausspricht", resümiert Litt die Position Diltheys, und fährt fort: „Wahrheit und Echtheit der Weltanschauung beruhen darauf, daß sie aus diesem Lebensgrunde eines typischen Menschentums hervorgegangen ist. Nun bietet jede Weltanschauung verschiedene Möglichkeiten der typisierenden Verallgemeinerung und Einordnung. Unsere Zeit bevorzugt ... diejenige Form der Typisierung, die in Volk oder Rasse den Wurzelboden der Weltanschauung erblickt: es ist der ,nordische Mensch', der ,deutsche Mensch' der uns aus der unserer Zeit vertrauten Weltanschauung anblickt." Soweit läßt sich nach Litt das Elend des Weltanschauungsbegriffs lückenlos auf Diltheys Philosophieverständnis zurückführen. Seine Kritik geht allerdings im zweiten Schritt noch erheblich weiter, wenn er auf bei Dilthey noch nicht vorfindliche, in seiner Lehre aber angelegte „praktische Folgen" „nationalpädagogischer" Art hinweist: „... scheint doch folgende Konsequenz angemessen: wenn du willst, daß deine Weltanschauung echt, gehaltvoll, wirkungskräftig sei, so sieh zu, daß sie deine Gemütsverfassung auch wirklich unverkürzt und urentstellt zur Darstellung bringt. ... willst du versichert sein, daß die Weltanschauung unserer deutschen Gegenwart echt, stark, lebenzeugend und lebenfördernd sei, so befrage sie auf ihre Zusammenstimmung mit dem Lebensgrunde des typisch deutschen oder nordischen Wesens. Und wo die Zusammenstimmung fehlt, da nimm die entsprechenden Berichtigungen bzw. Ausscheidungen vor. Man sieht: durch diesen Gedankengang wird der ,deutsche Mensch' zum Kanon, an dem sich die um Geltung werbenden weltanschaulichen Motive auszuweisen haben. Es wird eine typische ‚Lebensform', eine typische ,Wesensgestalt vorausgesetzt, mit der die Norm [Hervorhebung nicht im Original, H.-W.W.] der Ausdruckswahrheit, Ausdrucksechtheit des Weltanschaulichen gegeben ist. Primär ist der ,Mensch; die Weltanschauung prägt aus, macht sichtbar, was dieser Mensch an sich ist, will und vermag. Darin liegt für den Menschen die Möglichkeit, ja die Aufforderung, sich eine Willenshaltung zu geben, die diese Ausprägung direkt als Ziel anstrebt. “
Litt zeigt den Widerspruch zwischen beiden Schritten auf: Einerseits drängt Diltheys Position auf die Relativierung jedweden universalen Geltungsanspruchs, andererseits führt das Postulat der Unmittelbarkeit und Echtheit, ebenfalls lebensphilosophisch verankert, zu einer neuen Norm, die sich in ihrer praktischen, oder um Litt zu sprechen, in ihrer „nationalpädagogischen” Konsequenz in einer typischen ‚Lebensform’ oder ‚Wesensgestalt’ legitimiert und sich gerade dadurch wieder jedweder historischen oder kulturellen Relativierung zu entziehen sucht. Rassistisch-biologistische Vulgäranthropologie muß herhalten, um das Legitimationsdefizit praktischen Handelns im Alltag zu kaschieren und eine sorgfältige gedankliche „Rechenschaftablegung” auszublenden. Wenn der Ausflug in die Welt des Kulturrelativismus damit endet, neue, allerdings ungeprüfte und recht obskure „ewige Wahrheiten” an die Stelle philosophisch reflektierter Konstrukte mit überzeitlichem Geltungsanspruch zu setzen, dann machen sich die Menschen das Leben zu einfach. Sie entziehen sich dann gerade dem, was Hegel meint, wenn er vom „Erfassen einer Zeit in Gedanken” spricht.
Die jeder Weltanschauung zugrunde liegenden Gefühle und Triebe stellen zwar das dem Menschen unmittelbar Gegebene dar, doch, so argumentiert Litt in Anlehnung an Hegel, ist das Unmittelbare der Gegenwart etwas anderes als ihre gedankliche Erfassung. „So wie dies Unmittelbare sich darbietet, enthält ,es in buntem Gemenge auch alles das, was zufällig, willkürlich, momentan, partikularist.""' Das Unmittelbare erscheint als Rohstoff der gedanklichen Erfassung. Philosophie muß mehr sein als der bloße Ausdruck des Unmittelbaren. Die gedankliche Erfassung bewirke, daß aus dem „bunten Vielerlei des Gegebenen der tragende Grund, der substanzielle Gehalt" hervortritt. In dieser Arbeit der gedanklichen Erfassung werden subjektive Erkenntnisse intersubjektiv weiterbearbeitet; Zufälliges wie Zeitliches würden dadurch überwunden und „aus dem Bilderreichtum ungeordneter Welteindrücke [tritt] das wesenhafte Gefüge der Wirklichkeit hervor". Damit sind die argumentativen Weichen gestellt, um zu einer umfassenden vernichtenden Kritik an der These vom Primat der Weltanschauung gegenüber der Wissenschaft auszuholen. Diese vollzieht er in drei großen Schritten: Erstens: Litt interpretiert das „Erfassen in Gedanken" im Sinne Hegels als eine dialektische Bewegung des Geistes, der sich immer erst zu dem macht, was er ist. Dies ist kein formaler Vorgang, sondern an Inhalte gebunden: „Statt zu sagen, daß die Philosophie ihre Zeit erfaßt, kann man ebenso gut das, was geschieht, so ausdrücken, daß die Zeit sich in der Philosophie — wie auch in der Religion, der Kunst usw. — eifaßt.“3 Diese „Manifestation” des Geistes im Hegelschen Sinne ist nicht nur Ausdruck einer Seelenverfassung —wie Litt ja im Anschluß an Dilthey den Begriff der Weltanschauung definiert hatte — sondern ist das Ergebnis individueller und kollektiver Weltaneignung und —verarbeitung. Während das Expressive vor allem im künstlerischen Bereich seinen legitimen Platz hat, ist eine Beschränkung der Philosophie auf den Ausdruck einer als fertig gedachten Gemütsverfassung mit Lins auf Hegel gestütztes Verständnis der Philosophie als gedanklicher Durchdringung der Welt nicht vereinbar.
Zweitens: Mit Blick auf die Vulgarisierung der Lebensphilosophie in der nationalsozialistischen Vorstellung einer dem „nordischen Typus” korrespondierenden Lebensform und Weltanschauung als Normativ menschlichen Handelns zieht sich Litt auf den ersten Blick auf eine formallogische Ebene zurück”, gleichzeitig greift er durch ständige Wiederholung des nationalsozialistischen Vokabulariums auch die Inhalte an, indem er sie der Lächerlichkeit preisgibt:
„Denn gerade indem man den Typus des ,deutschen Menschen’ ins Rassische und in das Dunkel der Prähistorie zurückverlegt, gibt man zu erkennen, daß man in diesem Typus ein von Urzeiten her und aus naturhaften Tiefen heraus Präformiertes und Determiniertes erblickt, das in seinen Werkzeugen und Taten zwar sichtbar wird, sich ausdrückt’, nicht aber in ihnen und durch sie erst seine Gestalt gewinnt.”45
In der hier angeschlossenen Fußnote 10 des Litt-Textes führt er über vier Druckseiten hinweg dieses Zirkularitätsproblem weiter aus und wendet sich mit erkennbarer, an Spott grenzender Irritation gegen allzu offensichtliche Schwächen dieser Argumentationsfigur: „Die Willkür in der Festsetzung des Termins, bis zu dem das ‚Wesen’ sich angeblich vollständig enthüllt haben soll, scheint dann vermieden, wenn man bis in die Urzeit … zurückgeht. Und überdies: gerade in diesem Anfang muß sich doch das Wesen am ‚reinsten’, ‚ursprünglichsten’ offenbart haben.”‘ Litt belegt diese von ihm kritisierte Argumentationsfigur mit einem besonders prägnanten Zitat” eines offenkundig nationalsozialistischen Autors, der allerdings nicht namentlich genannt wird. Die Fußnote schließt für weitere Argumente mit einem ausdrücklichen Verweis auf jenen für München geplanten und von Göpfert hintertriebenen Vortrag „Die Stellung der Geisteswissenschaft im nationalsozialistischen Staate”.
Hier geht es nicht nur um logische Stimmigkeit der Argumentation, hier steh die Kritik an der Abstrusität des gesamten ideologischen Gedankengebäude: im Mittelpunkt. Freilich begreift Litt es nicht als seine Aufgabe, Menscher daran zu hindern, „jeder ein Esel auf eigene Faust” zu sein. Seine energisch( Gegenwehr setzt vielmehr dort ein, wo der subjektive Weltanschauungs• glaube Anspruch auf Alleingeltung erhebt und in seinen menschenverachtenden und latent oder offen gewaltbereiten Struktur erkennbar wird.
Das dritte Argument Lifts gilt der unzulässigen Vergegenständlichung de: Zeitgeistes, der weder als erkennender noch als darzustellender Gegenstanc in den Blick genommen werden könne, sondern sich im Hegelschen Sinnt nur im Zusichselbstkommen des Geistes verstanden werden dürfe. Jede Disziplin, jede „Provinz des Geistes” bleibt partikular und kann aufgrund eber dieser Partikularität den (Zeit-)Geist weder abbilden noch sich an ihm ausrichten. Süffisant, gleichwohl auf dem Boden der wissenschaftlichen Argumentation, schreibt Litt: „Wer … darauf besteht, sein geistiges Tun an solchem Leitbilde auszurichten, dem bleibt nur eine Möglichkeit, diesem Bilde einen Inhalt zu geben: er muß den Zeitgeist da suchen, wo er selbst, wo die ihm anvertraute Sonderform des geistigen Schaffens nicht ist.”48 Daher suche der Philosoph den Zeitgeist in der Kunst, der Künstler denselben Zeitgeist in der Philosophie oder der Politik. Litt nennt dies ein „wunderliches Spiel wechselseitiger Entmündigung, das … jede einzelne Provinz des Geistes und damit diesen Geist als Ganzes aller sachhaltigen Erfüllung berauben würde.”
Gegenüber diesen Fehlformen fordert Litt, konsequent an Hegel orientiert, Sachlichkeit — wohlgemerkt nicht als Eigenschaft oder Einstellung, sondern als Haltung des Subjekts. Durch das „sich in die Sache hineinbegeben” gelingt dem Menschen die Teilhabe am Geist und die Vermeidung „selbstischer” Interessen. Litt gelingt hier — man möchte beinahe von einem Bubenstück sprechen — eine Hegel-Interpretation, welche die vorgeblich gemeinschaftsorientierte Ideologie des Nationalsozialismus als bloßes Partikularin-teresse desavouiert, während er ausschließlich die Sachorientierung als geist-gemäß und als Überwindung subjektiver Eitelkeiten gelten lassen will:
„Damit die ‚Sache’ hervortreten könne, muß das Subjekt seine partikulare Eigenwilligkeit unterdrücken — aber diese Unterdrückung geht nur in dem Maße von statten, wie die Richtung auf die Sache sich durchzusetzen vermag.
Was Hegel gegen den der Sache abträglichen Eigenwillen des Partikularen einzuwenden hat, das zielt zunächst und unmittelbar auf … [den] selbstische[n] Drang des einzelnen Menschen.
Aber das Dargestellte gilt eben nicht nur für die privatistische Beschränktheit des Einzelmenschen, sondern ebenso für die kollektive Borniertheit der Weltanschauungsgemeinschaft:
„Die Ansprüche, die ein ,Typus Mensch’ … als Repräsentant eines Volkes oder einer Rasse erheben könnte, lagen noch außerhalb seiner Erwägung. … Die ‚Sache’ muß also im Sinne Hegels genau so zu Schaden kommen, wenn es an Stelle eines einzelnen Menschen eine … typische Menschenart ist, deren geistiges Schaffen von der Absicht der Selbstdurchsetzung, Selbstdarstellung geleitet wird.””
Über den Aspekt der Ganzheit, die Litt mit Hegel dem Geist als Attribut zu-mißt, bestimmt sich sein Verdikt der Partikularität, mit der sich Weltanschauungen stets verbinden. Im Bereich der Philosophie ist es entsprechend das Allgemeine, das sich dem „universalen Werkszusammenhang des Geistes” eingliedert und von der partikularistischen Beschränkung der Empfindungen, Zwecke und Interessen befreit. Wiederum mit Hegel: es ist „die Allgemeinheit, als die wir uns bewußt werden, in der wir unsere Freiheit habet”‘. Damit wird das die individuelle Beschränkung überwindende, freiheitsstiftende Allgemeine im Sinne Hegels ausgespielt gegen den dumpfen Anti-Individualismus vollcstümelnder Gemeinschaftsideologien: Wer sich um dieses Überindividuelle bemüht, muß der Bindung an weltanschauliche Wahrnehmungsfilter widerstehen.
Von hier aus wendet sich Litt gegen den Versuch Dietrichs, in der Pluralität philosophischer Denkschulen einen grundsätzlichen Mangel „der” zeitgenössischen Philosophie zu erkennen.53 Wenn sich die philosophischen Systeme widersprechen, dann kommen in diesen Widersprüchen die Philosophie als Ganzes oder eben der Geist zu sich selbst. „Die eine, einzige, allgemeine Philosophie schwebt nicht … über der Vielheit der philosophischen Systeme…: sie lebt in ihnen allen.”” Die mit dem Pluralismus verbundene Widersprüchlichkeit der Systeme denkt Litt als konstitutiv für die Entwicklung des Geistes aus sich selbst heraus und zugleich zu sich selbst hin.
„Dieser Widerspruch ist die Form, in der das Allgemeine sich in das Besondere hineinbildet und aus ihm wieder hinausstrebt. Denn nur vermöge dieses Widerspruchs können die Systeme zugleich ‚Besondere’ sein und das Allgemeine’ in sich fassen.”
Schließlich wendet sich Litt dem letzten zu entkräftenden Vorwurf zu: dem vorgeblichen Modernitätsrückstand, der eintrete, wenn die Philosophie sich weigere, dem Zeitgeist Ausdruck zu verleihen und sich dadurch als „auf der Höhe der Zeit” auszuweisen. Der beschriebenen Bewegung des Geistes entspricht eine Entwicklung, die natürlich in der Zeit erfolgt. „Entwicklung ist für ihn [Hegel, H.-W. W.] nichts anderes als diese in der Zeit erfolgende Verwirklichung der im Logos der Idee vorgezeichneten Gliederung des Allgemeinen. Treibendes Motiv dieser Selbstentfaltung ist der Widerspruch.
Die fortlaufende antithetische Negation und die ,mit ihr verbundene dialektische Aufhebung gestalten die „Entwicklung” des Allgemeinen der Philosophie „zu einem Prozeß fortschreitender Bereicherung””. System und Geschichte der Philosophie gehören zusammen. Das Erfassen einer Zeit in Gedanken bedarf der Anstrengung des Begriffs im Hinblick auf systematische Schärfe ebenso wie auf historisches Bewußtsein.
Das Schlußkapitel, in dem Litt seine Hegelinterpretation wieder mit seiner Gegenwart des Jahres 1934 verknüpft, benutzt er, um sich mit dem verbreiteten antiintellektuellen Topos von der „epigonalen”, gegenüber der „heroischen” Haltung und „Tatorientierung” der Nationalsozialisten vorgeblich „schwachen”, weil „intellektualistischen” Beschäftigung mit Hegelscher Philosophie im besonderen und dem Deutschen Idealismus im allgemeinen auseinanderzusetzen. Däbei geht es nur vordergründig um die Frage einer möglichen Zeitgemäßheit der Hegelschen Philosophie. Wie die zahlreichen und umfangreichen Zitate aus der „antiidealistischen Literatur” zeigen, geht es um die Abwehr des wissenschaftspolitischen Führungsanspruchs der nationalsozialistischen Weltanschauung. So zitiert Litt ohne Nennung der Autoren beispielsweise folgende Stelle: „Der deutsche Idealismus muß nach Form und Inhalt überwunden werden, wenn wir ein politisches, ein handelndes Volk werden wollen.”
Die Auseinandersetzung Lins mit dem wissenschaftspolitischen Führungsanspruch der nationalsozialistischen Weltanschauung ist nur ein Teil einer umfangreicheren und thematisch breiteren Auseinandersetzung mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Sie ist allerdings in ihrer textlichen Architektur ganz typisch für Litt in dieser Zeit. Einige Merkmale möchte ich hervorheben.
Erstens: Lifts Kritik am Nationalsozialismus wird nie global, sondern stets aus einem bestimmten Anlaß und mit einer konkreten Stoßrichtung vorgetragen.
Zweitens: Von der Form her betreibt Litt damit eine leicht durchschaubare, allerdings nie angreifbare Camouflage: Er greift Themen auf, die im Mittelpunkt der totalitären Propaganda stehen oder an denen sich verdeckte Inhalte der ideologischen Begrifflichkeit aufzeigen lassen, um ihnen auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses zu begegnen.
Drittens schichten sich dabei unterschiedliche Interessenlagen übereinander. Im vorliegenden Fall spricht der Autor auf der ersten Ebene in philosophiegeschichtlicher Interpretation über Hegels System, das er auf einer zweiten Ebene als Vertreter der Autonomie von Forschung und Lehre und als ehemaliger Rektor der Universität Leipzig dazu benutzt, diese relative Autonomie gegen die wissenschaftspolitischen Führungsanprüche der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verteidigen, um auf einer dritten Ebene die grundsätzliche Fragwürdigkeit dieser Weltanschauung und ihrer Vertreter zu zeigen, indem er ihre Unreflektiertheit und gemessen an seinen Kriterien überzeitlicher und universeller Geltung schlicht falsch erscheinende Grundüberzeugung attackiert. Im hier untersuchten Text wird dies deutlich an seiner Auseinandersetzung mit Kernbegriffen wie beispielsweise „Zeitgeist”, „Weltanschauung”, „deutscher” oder „nordischer Typus”, „Rasse” und ähnlichen Topoi.

Reaktionen

Daß diese Camouflage leicht durchschaubar war und sein sollte, davon zeugen die Reaktionen auf Lifts Vortrag. Am 14.11.1934, vier Tage nach seinem Vortrag bei der Berliner Kantgesellschaft, empörte sich der Völkische Beobachter in einem recht umfangreichen Artikel unter der Überschrift „Philosophie und Zeitgeist”:.. und man hätte erwarten dürfen, daß hier vom Nationalsozialismus die Rede sein würde und von einer Philosophie, die seiner neuen Wirklichkeit gerecht würde. In dieser Erwartung sah man sich aber getäuscht; denn nicht einmal das Wort Nationalsozialismus fiel, und es fehlte sogar im Gegenteil nicht an versteckten Angriffen und abschätzigen Andeutungen, die es offenbar machten, daß Litts Philosophie mit dem Zeitgeist in keiner irgendwie gearteten Beziehung steht.”
Lifts via Hegel formulierten Kritik am Selbstdurchsetzungswillen einer partikularen Weltanschauung wird vom Völkischen Beobachter so verstanden, wie sie gemeint war: Dessen Berichterstatter mokiert sich nämlich nicht nur darüber, daß durch Litts Vortrag „der Rassegedanke angegriffen und zersetzt wird”, sondern wittert eine Generalkritik an der Weltanschauung insgesamt:
„Hier aber soll die Weltanschauung des Nationalsozialismus, auch wenn von Dilthey gesprochen wird, getroffen werden. Auch ihre Wahrheit ist ja, so muß man schließen, begrenzt, sie ist geschichtlich.”
Litts Intention scheint in Berlin wie auch später in Bonn von seinem Publikum ebenfalls verstanden und durchaus gutgeheißen worden zu sein, zum Ärger des Völkischen Beobachters, der in gewohnt gehässiger Weise kommentierte:
„Der hier wie an anderen Stellen einsetzende anhaltende Beifall bewies, wie sehr der Vortragende seine stark jüdisch durchsetzte Zuhörerschaft zu befriedigen wußte und wohin seine Ausführungen zielten.”
Die Autonomie der Wissenschaft, wie sie Litt will, kann natürlich im Völkischen Beobachter nicht bestehen bleiben. Und so schließt der Artikel:
„Wir aber glauben, daß allein eine Wissenschaft und Philosophie, die sich geschichtlich-politisch ausrichtet, die Forderung der Stunde sein kann!”
Die Wiederholung des Vortrags am 3. Dezember 1934 in Bonn wurde übrigens in Teilen der rheinischen Presse durchaus wohlwollend aufgenommen. Ein Presseausriß berichtet von „einem Beifall, wie er wohl nie zuvor im Hörsaal 10 der Universität aufgekommen ist.”60 Auch die Kölnische Zeitung berichtete am 5. Dezember ausführlich und sachlich über den Inhalt des Vortrags und setzte vorab einen wohlwollenden Rahmen, indem der Veranstalter mit der Bemerkung zitiert wird, Litt sei ein Vertreter einer echten Haltung des philosophischen Denkens. Weiter heißt es einleitend: „Lifts Ausführungen wurden mehrfach durch starken Beifall unterbrochen, der sich am Schluß steigerte.”‘ Am Ende — hier ging es Litt um die Abwehr der antiin-tellektualistischen Attitüde der Nationalsozialisten und um ein Bestehen auf der Autonomie der Wissenschaft.
In Leipzig zettelten nationalsozialistische Studenten, die Litts Verbot der Anti-Versailles-Kundgebung im Jahr 1932 nicht vergessen hatten, eine Kampagne gegen ihn an. Am 17. 12. 1934 erschienen in der Leipziger Hochschulzeitung unter dem Titel „Studenten greifen an” eine Reihe von Hetzartikeln, unter anderem ein Wiederabdruck aus dem Völkischen Beobachter vom 15.11. Die Vorgänge, die über ein Vorlesungsverbot am 18.12. zu einer umfangreichen Untersuchung führten, sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt und müssen hier nicht wiederholt werden.” Festhalten kann man, daß sich diese Reaktionen nicht auf die von Litt geforderte Autonomie der Wissenschaft, sondern auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Litts Ideen mit nationalsozialistischem Gedankengut bezogen.
Nach Erscheinen der Druckfassung findet sich ein ähnliches Bild: Es fehlte nicht an positiven Besprechungen, die Litts Buch als
„glänzendes Zeugnis echt philosophischer Denkarbeit und — eine scharfe Waffe im Kampf gegen den wissenschaftlichen Dilettantismus und die sophistische Willkür der sogenannten Weltanschauungsphilosophie””
rühmen. Auch Rene König positioniert sich als Rezensent am 28. Mai 1935 in der Kölnischen Zeitung positiv zu Litt.
Eine der schärfsten Kritiken hingegen findet sich bereits kurz nach Erscheinen des Buches im März 1935 bei J. Deussen auf der Titelseite von Das deutsche Wort:
„Die eigentliche und grundsätzliche Differenz … liegt wo anders und wird lediglich getarnt durch die weitschweifigen Diskussionen der vorliegenden Schrift. Litt behauptet mit Hegel, daß ,alles Tun des Geistes nur ein Erfassen seiner selbst’ sei. Solange diese Monstrosität bestehen bleibt, gibt es keine Verständigung!”

Von der Sendung der Philosophie (1946)

Nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus wurde Litt, der 1937 auf eigenen Wunsch emeritiert worden war, aufgrund seiner internationalen wissenschaftlichen Reputation und seiner unbelasteten politischen Vergangenheit bereits im Sommer 1945 wieder in sein Ordinariat für Philosophie und Pädagogik eingesetzt.”
Litt engagierte sich sowohl in der Universität als auch im öffentlichen Leben der Stadt Leipzig nachdrücklich für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und für den Aufbau einer demokratischen Ordnung. Zu den wichtigen Vorträgen der frühen Zeit gehören die Ansprache an Frau Go-erdeler am 20. Juli 1945, seine Rede anläßlich der zentralen Gedenkfeier für die ermordeten Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialistische Diktatur am 29. September 1945 auf dem Leipziger Augustusplatz, aber auch Vorträge, die seine frühe und grundsätzliche Skepsis gegenüber den Zielen der damaligen sowjetischen Führung und ihren Mittelsmännern in der SBZ zeigten. Hierzu gehören vor allem der Vortrag „Studium und Politik”, den Litt auf Veranlassung der CDU und der LDP im Dezember 1945 hielt, und „Von der Sendung der Philosophie” im Kulturbund.” In zeitlicher Nähe zu diesem Vortrag erhielt Litt im April 1946 von der Sowjetischen Militäradministration ein Vorlesungsverbot. Litt schrieb an v. Braunbehrens über seine „neueste Erfahrung”:
„die ich brieflich lieber nicht eingehend besprechen will. Auf höheren Befehl habe ich für dieses Semester meine Vorlesungen einstellen müssen. Erstaunlich, mit welch unbeirrbarer Logik die Dinge ihren Weg gehen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß das Ereignis mich nicht überrascht hat.”
Spranger gegenüber wird Litt zwei Tage später deutlicher. Die Sachlage sei „kaum zu verkennen. Sie ist um so klarer, als das Verbot zeitlich mit den Beanstandungen eines Vortrags im ‚Kulturbund’ zusammentrifft (Thema: die Sendung der Philosophie). Wieder ist es nicht möglich, die Beanstandenden und das Beanstandete zu erfahren. Lauter bekannte Dinge. Es ist vorauszusehen, daß die Entwicklung in dieser Richtung weiter gehen wird.” Litt reagiert heftig, ja geradezu allergisch auf die Anzeichen weltanschaulicher Bevormundung durch die KPD/SED, deren Führungsanspruch in allen gesellschaftlichen Bereichen unübersehbar wurde. In diesem Zusammenhang ist es wieder die Philosophie, die er zum kritischen Korrektiv gegenüber weltanschaulicher Gebundenheit erhebt und die hier abschließend in gebotener Kürze skizziert werden soll.
Als Ausgangspunkt seiner Argumentation konstruiert Litt mit kritischem Blick auf die Disziplingeschichte der Philosophie eine Spannung zwischen fachdisziplinärem Entwicklungsstand und öffentlicher Wahrnehmung der Philosophie. Auf der einen Seite steht die Geschichte eines Verfalls: Zwar hätte es in jeder Disziplin neben Perioden glanzvoller Höher auch solche gegeben, die man lieber mit Stillschweigen überginge, aber für die Philosophie in Deutschland sei diese Entwicklung dramatisch. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts habe sie sich weit von der Rolle einer geistigen Großmacht entfernt, die sie in der klassischen Epoche zweifellos gespielt habe. Litt verknüpft diesen Niedergang der Philosophie als Disziplin mit der nationalen Einigung, indem er feststellt, daß es
„um die Zeit der Reichsgründung so aussehen [konnte], als ob mit diesem Aufschwung die Energie des philosophischen Gedankens sich vollkommen verausgabt habe und jedenfalls das allgemeine Bewußtsein der Nation der Philosophie durchaus fremd geworden sei.””
Die Spannung wird dadurch verschärft, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung dieses Problems nicht bewußt ist, sondern im Gegenteil davon ausgeht, daß die Philosophie zwischenzeitlich wieder eine bedeutende öffentliche Rolle spiele. Für diesen Irrtum macht Litt ein „geistiges Gebilde” verantwortlich, „das zwar der Philosophie verwandt ist und deshalb auch leicht mit ihr verwechselt werden kann — das aber darum noch keine Philosophie ist.
Dieses Philosophie-Surrogat identifiziert Litt als „Weltanschauung” und stellt es in den politischen Kontext der allerjüngsten Vergangenheit, wenn er — ungewöhnlich für ihn — bereits eingangs wertend bemerkt, von Weltanschauung könne man nicht sprechen, „ohne daß unser Gemüt von einem Schwarm nie• derdrückender und beschämender Erinnerungen überfallen würde”. Diskre• ditiert ist für ihn der Begriff vor allem deshalb, „weil unter den Gruppen, die für die deutsche Wirklichkeit bestimmend waren, nicht wenige sich sehr beflissen zeigten, ihr Wollen und Tun, ihr Lieben und Hassen weltanschaulich zu begründen.”
Litt gestaltet damit seine Rahmengeschichte als Entartungsgeschichte morali. scher Handlungslegitimation: Wenige Andeutungen reichen ihm aus, seine Zuhörer an das Umkippen von einer im entscheidungsscheuen Relativismus verendeten Dauerreflexion in einen dezisionistischen und letztlich voluntari. stischen Legitimationsdiskurs der weltanschaulichen Gebotenheit zu erinnern. Das sind deutliche Worte, die jeden treffen müssen, der in der Vergangenheit oder im gegenwärtigen Jahr 1946 eine wie auch immer geartete Weltanschauung zur Richtschnur von Erkenntnis und zur Legitimationsbasis von Handeln macht.
Litt bricht seine Wertung, die bereits hier als deutlicher Angriff auf das Legitimationsmonopol des wissenschaftlichen Sozialismus verstanden werden kann, ab und setzt zur Untermauerung seiner Ausgangsthese an. In einem längeren Gedankengang führt er nun „Weltanschauung” zunächst ideengeschichtlich stringent als wegbereitendes Element totalitären Denkens und Sprechens ein, wobei die Hörer zunächst an die Übernahme ins nationalsozialistische Vokabularium gemahnt werden, wodurch sich Litt formal weit von jeder Marxismuskritik entfernt. „Weltanschauung” reüssiere, so seine Deutung, als Begriff im Umkreis der sich wechselseitig verstärkenden relativistischen Strömungen des Historismus und der Lebensphilosophie. Der Historismus habe mit seiner Betonung des geschichtlichen Wandels und der durch ihn hervorgebrachten Mannigfaltigkeit der menschlichen Lebensformen die Perspektive des potentiell Gemeinsamen paralysiert und dadurch einem ethischen Relativismus Tür und Tor geöffnet. Die Lebensphilosophie mit ihrer metaphysischen Setzung eines Vorrangs des Individuellen und einer entsprechend idiosynkratischen Perspektive habe gleichfalls geistige Erkenntnis durch lebendige Anschauung ersetzt — zumal der tendenziell auf universelle Erkenntnis ausgerichtete Verstand dem Verdikt einer bloß oberflächlichen, weil das Wesen des Lebendigen verkennenden Wissensproduktion unterworfen worden sei.
Indem er auf die perspektivische Gebundenheit des Schauens hinweist, begrenzt Litt die Weltanschauung auf Teilgruppen von Gesellschaften, auf Sinngemeinschaften. Weltanschauung „ermangelt jeder Geltung, die über diesen Kreis hinausreichte””. Weltanschauung basiere daher auch nicht auf der Wirksamkeit des diskursiven Verstandes, da dieser „seinem unabänderlichen Wesen gemäß” solche Erkenntnisse anstrebe, die allgemeine Geltung haben. Weltanschauung sei hingegen ihrem Wesen nach ein Werk der Schau und Intuition. Litt definiert präzise:
„Gemeint ist damit ein produktives Vermögen, das sich nicht an logische Vorschriften und Regeln binden läßt, sondern solchen Eingebungen gehorcht, die sich viel eher der Inspiration des Künstlers als dem Räsonnement des begrifflichen Denkens vergleichen.””
Damit wird die Weltanschauung zum Widerpart des „Begriffs”, der als Werkzeug des Geistes Logik, Methodenstrenge und Disziplin verkörpert.
Litt wendet sich gegen die praktischen Folgen weltanschaulichen Denkens, wie sie beispielsweise aus der Reduktion des Lebensbegriffs auf seinen rein biologischen Sinn entstehen: „Mit dieser Wendung gewann die Überzeugung von der notwendigen Verschiedenheit der Weltanschauungen eine verhängnisvoll verschärfte Bedeutung.”” Aus „Verschiedenheit” wird „Gegensatz” und aus „Gegensatz” wird offene „Feindschaft”. Das Leben, biologistisch interpretiert, wird mit all seinen Aufgaben zum „Kampf ums Dasein”, der alles in seinen Dienst zieht, auch und nicht zuletzt die Weltanschauung. Das Einende ist nun zur Einflußlosigkeit verdammt.
„Jede Menschengruppe zieht sich nun in das Bollwerk ihrer Weltanschauung zurück und führt von ihm aus die Fehde wider die anders ‚Schauenden’ mit jener zähen Verbissenheit, die seit je den Religionskriegen ihr abschreckendes Gepräge gegeben hat.”
Als Protagonisten einer solchen Weltanschauungslehre macht Litt drei Autoren aus: Nietzsche, Klages und Spengler, denen er ausdrücklich sprachliche Faszination und eingängige Bilder bescheinigt.” Vor allem in Spenglers Thesen von der „unvergleichbaren Verschiedenheit der Weltanschauungen”, seines Neben- und Nacheinander der großen „Kulturen”, sieht er eine Preisgabe des Universal-Menschlichen. An die Stelle einer universell gültigen Wahrheit und eines darauf aufbauenden Humaitätsideals sei bei ihm ein zum Gruppeninstinkt verdichtetes „Rassegefiihl” getreten, und als eigentliches „Rasse-gefühl” des Menschen gelte ihm, Spengler, der Haß. Litt folgert:
„Nun, wenn der Mensch so kategorisch an die Wahrung seines Raub-tierberufs gemahnt wird, dann liegt darin doch auch die Aufforderung enthalten, in sich die dazugehörige Raubtier-Weltanschauung zu entwik-keln — eine Weltanschauung, die ihm das Recht gibt, die anderen, zu ihrem Unglück weniger raubtierhaft veranlagten Mitwesen unter ihre Pranken zu nehmen und zu verschleppen.”
Damit markiert Litt die Positionen, in denen er die geistigen Wegbereiter nationalsozialistischen Regimes zweifelsfrei zu erkennen glaubt. Denn dies ist ihm gewiß:
„Hat man sich Jahre lang daran gewöhnt, im Geist mit den Mächten des Abgrundes zu kokettieren, dann rafft man sich schwer zum Widerspruch auf, wenn aus verwegenen Gedankenexperimenten blutige Wirklichkeit wird.”
Die Preisgabe der Wahrheit vor dem Anspruch des weltanschaulich Gebo nen führt demzufolge geradewegs zur Preisgabe der Menschlichkeit.
Die einzige Macht, die gegen diese Fehlbildungen des Geistes etwas aus richten vermag, ist nach Litt die Philosophie. Nicht oberflächliche Anpassu der irregeführten Menschen, sondern tiefgreifende Umkehr ist erfordeflic und diese Reformation menschlicher Überzeugungssysteme ist Auftrag c Philosophie, ist ihre „Sendung”. Denn Philosophie ist nach Litt gerade „c Name für jenes denkende Bestreben, das sich um keinen Preis dazu bring läßt, beim Vorletzten stehen zu bleiben.”” Philosophie strebt nach Wahrht und zwar in einem umfassenderen Sinn als die sonstigen WissenschaftE „die nach besonderen, fachlich umgrenzten Wahrheiten auf der Suche sind’ und ist jenseits dieser Regional-Wahrheiten zur „Hüterin und Wahrerin” d Idee der Wahrheit bestellt. Sie ist damit für Litt die Instanz, die in quelle] methoden- und selbstkritischer Weise über die Gewinnung allgemein gültig Erkenntnisse gesetzt ist.
Das enge Verhältnis von Wahrheit und Menschlichkeit, an anderer Stelle auch das von Wahrheit und Freiheit; das an die scholastische Konstruktiv des ens et verum et bonum convertuntur erinnert, wirft nun freilich die Fra auf, ob es diese eine absolut gültige Wahrheit denn überhaupt gibt. Die Weltanschauungslehre in der Nachfolge von Historismus und Lebensphilosophie leugnet dies bekanntlich und führt dafür die empirisch gegebene Mannigfaltigkeit der Lebensformen als Beleg an.
Litt begibt sich auf den Weg einer indirekten Beweisführung, indem er nachzuweisen versucht, daß die Allgemeingültigkeit bestreitende Weltan-schaungslehre mit ihrem Kerndogma von der notwendigen Vielfältigkeit und Verschiedenheit der Weltanschauungen in sich selbst widersprüchlich ist. Gerade diese Aussage kann kein weltanschauliches Wissen darstellen, da sie für alle Weltanschauungen gilt und damit der Relativitätsbehauptung der Weltanschauungslehre widerspricht. Die These beansprucht damit genau die allgemeingültige Wahrheit, deren Möglichkeit sie heftig bestreitet. Derjenige, der die Relativität der Weltanschauungen erkannt hat, ist selbst wissend geworden und hat seine Unschuld verloren. Ein Rückweg in die Paradiese unbefangenen, weil naiv-weltanschaulich gesicherten Handelns, ist ihm prinzipiell verschlossen. Versuchte er es dennoch, wäre nicht Naivität, sondern nur gewollte Naivität zu erreichen, und „aus gewollter Naivität wird …forcierte Barbarei”.

„Nirgendwo ist weniger an echter ‚Natur’ gewesen, als in dieser kommandierten und reglementierten ‚Instinktsicherheit’. Die Verwüstungen, die ungekünstelte Barbarei anrichtet, nehmen sich harmlos aus verglichen mit den Exekutionen systemgewordener Bestialität.´´

Litt ist nach dieser Rettung des Wahrheitsbegriffs durchaus nicht daran gelegen, einer monistischen Weltsicht das Wort zu reden. Ausdrücklich bejaht er die Vielfalt der historischen und kulturellen Ausprägungsformen menschlichen Lebens. Den Irrtum der Weltanschauungslehre erkennt er nicht darin, daß dieser Pluralismus der Formen festgestellt und als lebensnotwendig behauptet wird, sondern „in der Meinung, daß mit der Feststellung dieser Tatsache erschöpft sein, was sich über die Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt aussagen läßt.”‘” Litt charakterisiert den Menschen als reflexivperspektivisches Wesen, das „nicht nur in weltanschaulicher Bindung steht, sondern auch um diese seine Bindung wissen kann”.

Litt bereitet nun seinen Schlußangriff auf die Hegemonie-Ansprüche der Weltanschauungslehre vor: Wahrheit, Freiheit und Menschlichkeit bedingen einander. Die Relativierung der maßlosen Geltungsansprüche einzelner Weltanschauungen durch die Wahrheit, zu deren Hüterin die Philoophie bestellt ist, dient der Selbstbescheidung der Weltanschauungen und damit dem Erhalt des Pluralismus. Persönliche Weltanschauung — oder subjektive Weltinterpretation und —konstruktion — einerseits und Wahrheit schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Allerdings bedürfen sie, damit ihre Integration im Horizont des Individuums gelingt, der Tugend der Duldsamkeit, verstanden als „Aufgeschlossenheit des Verstehens, die dem Andersgearteten seinen eigentümlichen Wert zuerkennt””. Und nun setzt Litt seinen Pfeil ins Ziel: „Von dieser Bereitwilligkeit, das anders Geartete nicht nur zu dulden, sondern auch zu verstehen, werden wir durch diejenigen ausgeschlossen, die auch heute noch die Fiktion des geschlossenen Horizonts — denn mehr als eine Fiktion liegt hier nicht vor — nicht aufgeben wollen.”

Litt benutzt also 1946 seine Konstruktion von Philosophie als Hüterin der Wahrheit noch einmal. Das Thema wird allerdings anders aufgebaut. Im Mittelpunkt steht nun die Analyse des nationalsozialistischen Monopolanspruchs, seiner geistigen Wegbereiter und sein Hinweis auf die Folgen. Indem er seinen Lesern, die seine Schriften aus den 30er Jahren ja gut kannten, Parallelen zur gegenwärtigen Situation anbot, stellte er auch die moralische Dignität der neuen Machthaber — freilich mehr im Sinne eines initiis obsta —zur Disposition. Sein Credo gehört 1946 wie bereits 1934 der Freiheit des Geistes als Bedingung der Möglichkeit von Menschlichkeit.

pdf