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Forschung

Theodor Litts Zeittheorie21 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
2003/3
Leipziger Universitätsverlag 2003

STEFAN DANNER
Theodor Litts Zeittheorie

Theodor Litts Werk ist von zahlreichen zeittheoretischen Gedanken durchzogen. Dies zeigen beispielsweise seine Bücher „Individuum und Gemeinschaft”, „Führen oder Wachsenlassen”, „Denken und Sein” sowie „Freiheit und Lebensordnung”. Bereits die Inhaltsverzeichnisse dieser Schriften weisen auf Litts zeittheoretisches Anliegen hin. In „Individuum und Gemeinschaft” lauten die einschlägigen Kapitelüberschriften: „Ich-Erlebnis und Zeit”, „Die Individualität des Lebensmoments”, „Zeit und Raum im objektivierenden Denken”. Das Inhaltsverzeichnis von „Führen oder Wachsenlassen” kündigt unter anderem folgende Themen an: „Die Vorwegnahme der Zukunft”, „Die Kanonisierung der Gegenwart” und „Die Idealisierung der Vergangenheit”. Das zehnte Kapitel von „Denken und Sein” ist eigens dem Thema „Zeit” gewidmet. Dort gibt Litt den einzelnen Abschnitten folgende Titel: „Die zeitliche Erhebung zum Zeitlosen”, „Die objektivierte Zeit”, „Die Zeit und ihr Gedachtwerden”. Und einer der Schlussabschnitte von „Freiheit und Lebensordnung” trägt die Überschrift „Zeitliches und Überzeitliches”.
Im folgenden möchte ich einige zeittheoretische Zusammenhänge zwischen zwei Büchern von Theodor Litt herausarbeiten. Gemeint sind die Abhandlungen „Individuum und Gemeinschaft” und „Führen oder Wachsenlassen”. Beide Schriften sind in derselben Schaffensperiode veröffentlicht worden: die 3. Auflage von „Individuum und Gemeinschaft”, auf die ich mich beziehe, im Jahre 1926, das Buch „Führen oder Wachsenlassen” im Jahre 1927.
Zunächst werde ich einige markante pädagogische und zugleich zeittheoretische Aussagen aus „Führen oder Wachsenlassen” präsentieren. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Zeittheorie in „Individuum und Gemeinschaft”. Und im Mittelpunkt des dritten Abschnitts stehen die zeittheoretischen Verbindungsstücke zwischen „Führen oder Wachsenlassen” und „Individuum und Gemeinschaft”.

I. Zeit und Pädagogik in „Führen oder Wachsenlassen”

In „Führen oder Wachsenlassen” grenzt sich Litt von verschiedenen pädagogischen Konzepten kritisch ab. Er tut dies in einem nicht geringen Maße mit Hilfe zeittheoretischer Argumente. Litt unterscheidet drei pädagogische Konzepttypen. Jeder Typus, so Litt, impliziert eine bestimmte Zeittheorie. Der erste Typus orientiert sich an der Vergangenheit, der zweite Typus an der Gegenwart und der dritte an der Zukunft. Litt glaubt jedem der Konzepte argumentative Schwächen nachweisen zu können. – Zu Typus Nummer eins:

  1. Orientierung an der Vergangenheit
    Litt behandelt in diesem Kontext die Frage, ob die Pädagogik ein „Bildungsideal” brauche. Was versteht Litt unter einem „Bildungsideal”? Nun, er versteht darunter eine konkrete Lebensform, die in einem pädagogischen Plan als handlungsleitendes Ziel festgelegt ist. Litt beobachtet Folgendes:
    „… – überall klagt man unsere Zeit bitterlich an, dass es ihr an einem ‘Bildungsideal’ fehle, und glaubt man sich verpflichtet, ein solches – sei es zu finden’, sei es zu ‘schaffen’. … Und selten versäumt man in diesem Zusammenhang, den sehnsüchtigen Blick auf solche Epochen und Kulturen zurückzulenken, denen dies uns fehlende Gut ein selbstverständlicher Besitz gewesen.
    Litt gibt gegenüber den Befürwortern eines vergangenheitsorientierten Bildungsideals zu bedenken:
    „Jene durch unsere Sehnsucht verklärten Zeiten hatten das, was sie nicht suchten, und zwar weil sie es nicht suchten. Damals lebte man ein Bildungsideal, über das man nicht reflektierte; heute reflektiert man über ein Bildungsideal, das man nicht leben kann.”‘
    Zehn Seiten später polemisiert Litt noch schärfer gegen den Versuch der Reaktivierung vergangener Lebensformen:
    „Statt der Vergangenheit, die ‘wiedergeboren’ werden soll, erscheint die Gegenwart, die sich im Kostüm der Vergangenheit spreizt; Imitation, wo nicht Grimasse und leere Geste heucheln ein Leben, das unwiederbringlich entschwunden ist.”
    Kommen wir zu Pädagogik-Typus Nummer zwei, der sich an der Gegenwart orientiert. Dieser Typus wird von Litt am Rande gestreift und mit Ironie bedacht. Litt schreibt:
    „In allen Zeiten und Zonen begegnet man solchen Formen des pädagogischen Wirkens, denen die unerschütterliche Gewissheit zugrunde liegt, die Erziehung habe einfach den gerade vorliegenden Zustand des Lebens mit allen ihm eingewachsenen Gepflogenheiten, Einrichtungen, Überzeugungen, Wertungen unverändert auf die junge Generation zu übertragen…. Ein Werdendes, das sich aus eigener Lebenstiefe eine neue Gestalt erschaffen wird, ist innerhalb dieses Horizontes nicht vorhanden! Es ist gleichsam ein Naturgesetz, dass die Jugend das werden soll, was wir sind.”
    Diese Passage erinnert an Siegfried Bernfelds Analysen, der 1925 (also zwei Jahre vor „Führen oder Wachsenlassen”) in seinem Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung” schreibt:
    „Die soziale Funktion der Erziehung ist die Konservierung der biopsychischen und der sozialökonomischen, mit ihr der kulturell-geistigen Struktur der Gesellschaft. … Sie ist … nicht allein Konservierung im Sinne der Reproduktion des Erreichten, sondern Konservierung im Sinne der Verhinderung eines Neuen.”
    Obgleich Bernfeld vor einem ganz anderen theoretischen Hintergrund als Litt argumentiert, liegt hier eine bemerkenswerte Parallele vor. Beide Autoren befassen sich mit der Gefahr, dass Pädagogen ein bestimmtes Recht der Heranwachsenden beschneiden, nämlich das Recht, sich selbst in der Zukunft eine neue Lebensform zu schaffen. – Dennoch: Da Litt sich mit dem gegenwartsbezogenen pädagogischen Typus nur beiläufig befasst, gehen wir zügig weiter zu Typus Nummer drei:
  2. Orientierung an einem Zukunftsentwurf
    Eine alternative Möglichkeit, ein Bildungsideal für erzieherisches Handeln zu gewinnen, ist die kritische Distanzierung von Vergangenheit und Gegenwart und die Erarbeitung eines Zukunftsentwurfs. Litt zeigt: Derjenige Pädagoge, der den Zukunftsentwurf formuliert, schreibt sich selbst ein besonderes Wissen, eine besondere Erkenntniskraft zu. – Litts Kommentar:
    „Sich abkehrend von einer verworfenen Gegenwart … , richtet der Erzieher den Blick nach vorwärts auf das, was als Verheißung der Zukunft vor ihm auftaucht, und reißt die Jugend … sich nach und dem lockenden Ziele entgegen. Denn eben dies ist es doch, was den ‘Führer’ zu dem macht, was sein Name besagt: er weiß, wo das Ziel liegt, er kennt den Weg, auf dem man zum Ziele gelangt”
    Litt deckt die entscheidende Prämisse auf, die hinter diesen „Führer-Pädagogiken” liegt. Sie lautet in etwa so: Der pädagogische Führer hat die Fähigkeit, sich in seinem Zukunftsentwurf radikal vom Denken der Vergangenheit und Gegenwart zu lösen. – Litts Einwand:
    „ Wie viele dünken sich Vorklang des Morgen und sind in Wahrheit nur schwächlicher Nachhall des Gestern. Ja, man wird diesem Zweifel eine noch viel allgemeinere Form geben müssen: jeder Entwurf jedes Ideal, jeder Entschluss … bleibt doch eben – Gegenwart, Geist von ihrem Geist, gebunden an die Bedingungen, festgehalten in den Grenzen, abhängig von den Vorurteilen, die den Horizont dieser Gegenwart ausmachen …”
    Kurzum: Litt warnt vor der Selbstüberschätzung jener, die zukünftige Lebensformen entwerfen. Und er stellt klar, dass die gegenwärtige Kultur auf jeden einzelnen eine erhebliche geistige Schwerkraft ausübt – eine Schwerkraft, der sich keiner mit seinem Denken entziehen kann.
  3. Die Suche nach den zeitlosen ideellen Gehalten
    Wie es scheint, treiben Litts zeittheoretisch-pädagogische Gedanken auf ein unlösbares Problem zu: Woran kann sich der Pädagoge noch orientieren, wenn er kein Bildungsideal hat? Litts Antwort auf diese Frage ist der Hinweis auf das Zeitlose. Aber was ist damit gemeint?
    Litt geht davon aus, dass in zeitlichen Prozessen Zeitloses vermittelt werden kann. Die didaktische Aufgabe besteht darin, „im Zeitgeborenen das zeitlos Gültige aufzufinden und zur Wirkung zu bringen”. Wie lässt sich dies verstehen: „im Zeitgeborenen das zeitlos Gültige auffinden und zur Wirkung bringen”?
    Wie in einigen anderen theoretischen Zusammenhängen ist auch im vorliegenden Fall das Phänomen der Sprache Litts Musterbeispiel: Sprache, dies ist Litts These, impliziert Zeitloses. Wäre dies nicht der Fall, könnte nichts, was wir sagen, in irgendeiner Weise Geltung beanspruchen. Sprache ist aber auch zeitgebunden und vergänglich. Was ich spreche, ist nicht die allgemeine Sprache schlechthin, sondern stets die konkrete Sprache einer bestimmten Kultur in einer bestimmten Epoche. Daher ist Sprache stets zeitlich und zeitlos.
    Dies aber führt zu einem bestimmten pädagogischen Effekt: Sprache hat eine bildende Wirkung, legt aber nicht autoritär auf eine bestimmte zukünftige Lebensform fest. Anders gesagt: Sprache bindet und emanzipiert zugleich. D.h.: Sie bindet an eine konkrete Ausformung der Sprache und hat damit eine stark sozialisierende Wirkung. Aber zugleich emanzipiert sie gerade von dieser konkreten Epoche, deren Ausfluss sie ist: Sprache eröffnet den Zugang zu allen Wissensbeständen, zu Reflexion und Kritik. – Kurz: Sprachliche Bildung zeigt nach Auffassung Litts: Der Pädagoge kann tatsächlich „im Zeitgeborenen das zeitlos Gültige auffinden und zur Wirkung bringen”.
    Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Nach Litts Ansicht ist ein Bildungsideal für das pädagogische Handeln durchaus entbehrlich. Im Hintergrund dieser pädagogischen These stehen vier zeittheoretische Annahmen:
    • Vergangene Lebensformen sind nicht wiederholbar.
    • Zukünftige individuelle und kulturell-soziale Entwicklungen sind nicht vorhersehbar.
    • Die Bindung von Zukunftsentwürfen an tradiertes und aktuelles Gedankengut ist nicht lösbar.
    • Aber: Die Vermittlung von Zeitlosem in zeitlichen Prozessen ist realisierbar.

II. Zeit, Individuum und Gemeinschaft in „Individuum und Gemeinschaft”

Die Generalthese des kulturphilosophischen Werks „Individuum und Gemeinschaft” lässt sich folgendermaßen formulieren: Sowohl Individuum als auch Gesellschaft sind gleichsam bedingende und bedingte Variable. Keine der beiden Größen ist der anderen vorgeordnet. In Litts Worten klingt dies so:
„Hier ist nicht eines dem anderen einseitig unterworfen, vom anderen bloß abgeleitet; hier schlingt sich die flüchtige Eintagsexistenz des Namenlosen und der Schicksalsgang von Völkern und Kulturkreisen zu einem Gewebe ineinander, in dem kein Fädlein unnütz und ersetzbar ist.”
Litt spricht von „Gewebe” und von „Fädlein”. Frage: Welcher Art ist die Kulturtextur, die das Individuum an die Gemeinschaft bindet und die Gemeinschaft an das Individuum? Und: Was gewährleistet die Reißfestigkeit der Textur?
Zu einem erheblichen Teil sind es erneut zeittheoretische Reflexionen, die eine Antwort auf diese Frage geben. Genauer gesagt: Litt präsentiert in „Individuum und Gemeinschaft” eine zeittheoretische Deutung des Individuums in der Gemeinschaft. Litt baut diese Deutung über drei Stufen auf:
• Stufe 1 befasst sich mit der Beziehung zwischen Ich-Erlebnis und Zeit,
• Stufe 2 mit der Beziehung zwischen Kommunikation und Zeit und
• Stufe 3 mit der Beziehung zwischen sozialem Kreis und Zeit.
Auf allen drei Stufen versucht Litt zu erhellen, dass sich das Individuum zeitlich ausdehnt.”

  1. Ich-Erlebnis und Zeit
    Bereits im ersten Hauptteil von „Individuum und Gemeinschaft” setzt sich Litt mit der Erlebniszeit der Person auseinander. Diese Erlebniszeit lässt sich, so Litt, unterschiedlich fassen. Z.B. lässt sich die Erlebniszeit als linear beschreiben. In einem solchen linearen Modell entspricht das Einzelerlebnis eines Menschen einem Strich auf einer Zeitskala. Die Person wird als Augenblickswesen gefasst. Der Mensch erscheint als Momentanexistenz. Sein Erleben geht nicht über den jeweiligen Jetztpunkt hinaus.
    Litts Einwand gegen das lineare Modell: Das Ich ist kein Punkt auf der Zeitskala, der zwischen Gegenwart und Zukunft trennt (siehe Abb. 1). Der Mensch ist — so heißt es wortwörtlich bei Litt – nicht „der flüchtige Husch eines ausdehnungslosen Jetzt, dessen Vorher und Nachher ein Nichts wäre”.
    Diese und weitere Ausagen Litts erinnern an die Analysen von William James zur „Wahrnehmung der Zeit” aus dem Jahre 1886. Zur Beschreibung der Wahrnehmung von Zeit verwendet William James die Metaphern „Nachklingen” und „Heranströmen” . James schreibt:
    „… alle von uns erfahrenen Geisteszustände sind Repräsentationen von Objekten mit einem gewissen Maß an Komplexität. Einen Teil der Komplexität bildet das Echo der soeben vergangenen Objekte und, in geringerem Maße, vielleicht der Vorgeschmack jener, die gleich ankommen werden. Objekte verschwinden langsam aus dem Bewusstsein. Besteht der gegenwärtige Gedanke aus ABCDEFG, wird der nächste aus BCDEFGH und der übernächste aus CDEFGHI bestehen – wobei sich die nachklingenden Elemente der Vergangenheit sukzessive entfernen und die herankommenden Elemente der Zukunft den Verlust wettmachen.”
    Litt, der – zumindest an dieser Stelle — ähnlich wie James argumentiert, geht einen Schritt weiter und fragt: Kann ein Erlebnis ein zweites. Mal erlebt werden? Ist sozusagen ein Erlebnisduplikat möglich? Litt verneint dies. Nach seiner Auffassung liegt die Ursache dafür in der besonderen Zeitstruktur des Erlebens. Warum? Ein einzelnes kurzes Stück eines Erlebnisfadens wäre vielleicht noch kopierbar. Aber keineswegs wiederholbar ist das verwickelte Geflecht aus Erinnerung, aktueller Wahrnehmung und Erwartung, aus dem jedes Erlebnis besteht. Und so formuliert Litt fast wie Heraklit über die Individualität des Lebensmomentes:
    „ Wo ich war und was ich war, da bzw. das bin ich nicht und werde ich nie mehr sein; wo ich sein werde und was ich sein werde, da bzw. das bin ich nicht und bin ich noch nie gewesen; wo ich bin und was ich bin, da bzw. das bin ich noch nie gewesen und werde ich nie wieder sein.”
    M.a.W .: Die zeitliche Ausdehnung des Individuums im Erleben führt zu einer permanenten, nie stillstehenden Veränderung der Person.
  2. Die zeittheoretische Deutung der Kommunikation
    Aus Litts Sicht gibt es verschiedene Kommunikationsformen. Es gibt auf der einen Seite den spontanen Selbstausdruck und auf der anderen Seite die betont sachliche Kommunikation. Auf der Stufe des spontanen Selbstausdrucks ist die Kommunikation stark von dem Rhythmus der dominierenden Emotionen geprägt. Dieser bewegte Rhythmus verändert sich jedoch in dem Moment, in dem sich in die Kommunikation ein „Etwas”, eine Sache schiebt:
    „Ich und Du rücken einander ferner, weil sich zwischen sie, zwischen die Flutungen ihres seelischen Lebens, ein Etwas geschoben hat, das selbst nicht wieder bewegte Dynamik, sondern reine Sachlichkeit ist oder wenigstens zu werden strebt.”‘
    Zeittheoretisch bedeutet dies: Je mehr „das Ich sein Selbst in die Verlautbarung” hineingibt, desto zeitgebundener ist seine Äußerung Und je sachlicher die Äußerung des Ich ist, desto stärker ragt sie in den Bereich des Zeitlosen. Anders gesagt: Bereits im spontanen Selbstausdruck dehnt sich das Ich über den jeweiligen Jetzt-Punkt aus. Die weitere Ausdehnung über die pure Jetzt-Zeit steigert sich in dem Maße, indem es den Kommunikationspartnern gelingt, den Sinngehalt einer Sache in den Mittelpunkt des Gesprächs zu rücken. Ich und Du dehnen sich in dem Maße über die Jetzt-Zeit hinaus, indem sie den Rhythmus ihres Erlebens der Logik der Sache anpassen.
  3. Die Zeitliche Ausdehnung des Individuums durch soziale Vermittlung
    Die Ausdehnung des Individuums über die Zeit verstärkt sich durch den Umstand, dass Menschen sozialen Kreisen angehören. Zwischen den sozialen Kreisen einer Kultur bestehen direkte und indirekte Verbindungen. Diese Verbindungen wiederum führen zur permanenten gegenseitigen Beeinflussung:
    „Wie durch ein millionenfach sich verzweigendes System von Kanälen rinnt und sickert es unaufhörlich, von keinem beachtet, kontrolliert und gelenkt, aus den Weiten des Gesamtprozesses in das Innere auch der exklusivsten Gruppe hinein”.

Wie verknüpft Litt dies mit seiner Zeittheorie? Litt vertritt die Auffassung, dass sich das Individuum durch soziale Vermittlung zeitlich ausdehnt, und zwar in dreifacher Weise:
• durch den „Bericht”
• durch die „sukzessive Ausdehnung der sozialen Kreise” sowie
• durch die „simultane Ausdehnung der sozialen Kreise”.
Was ist damit gemeint? Litt spricht von „Bericht”. Er fasst damit die verschiedenen Formen der mündlichen und schriftlichen Überlieferung zusammen, die Formen der Weitergabe von Erfahrungen und Gedanken. Litt kennzeichnet die so verstandenen Berichte auch als „Surrogate, die den Horizont des Individuums” erweitern können. Die „Berichte” haben stets etwas Künstliches an sich. Sie reproduzieren nicht die vergangene Wirklichkeit. Sie sind, so Litt, nur perspektivische Vertreter dieser vergangenen Wirklichkeit.’ Aber: Die sie ermöglichen die zeitliche Ausdehnung des Individuums.
Wie steht es um die sukzessive Ausdehnung der sozialen Kreise? Ein sozialer Kreis, so Litt, dehnt sich Schritt für Schritt aus. Und an dieser Ausdehnung hat das Individuum teil:
„ … Nehmen wir an, ein Kreis habe sich durch das Zusammentreten der Individuen ab c de gebildet, so macht folgendes Schema das Gemeinte ohne weiteres anschaulich:
• I abcde
• II vbcde
• III vwcde
• IV vwxde
• V vwxye
• VI vwxyz
Durch fünfmalige Neubesetzung je eines Postens ist es zu einem vollkommenen Austausch des personalen Bestandes gekommen, ohne dass an einer einzigen Stelle etwas von den Bindungen aufgehoben wäre, die die soziale Vermittlung in sich schließt. Von Stufe zu Stufe fungieren je vier unter fünf Gliedern gegenüber dem Ankömmling als Träger und Erhalter eines gemeinsamen Lebens, in dem das Sein der vom Schauplatz Abgetretenen aufbewahrt ist.”
Das sechsstufige Schema findet sich bereits in der ersten Auflage von „Individuum und Gemeinschaft” und auch in dem Buch „Geschichte und Leben”.
(Und nebenbei gesagt: Als Mittel der Veranschaulichung stellt es geradezu eine Rarität im Gesamtwerk Theodor Litts dar.) Das Schema soll erhellen: In jeder der aufgeführten Reihen bleibt etwas von den „Entschwundenen” erhalten und hat irgendwie längerfristigen Einfluss. Das bedeutet z.B. für die Zeilen I und VI: Die Personen abcde wirken auf die Person z, obwohl es keinen direkten Kontakt zwischen z und Gruppe I gibt.
Insgesamt führt auch dieses Strukturelement der sukzessiven Ausdehnung zur zeitlichen Ausdehnung des Individuums.
Die simultane Ausdehnung der sozialen Kreise denkt Litt folgendermaßen: Das Individuum steht nicht nur mit den vorangegangenen Generationen in Verbindung, sondern auch mit zahlreichen sozialen Kreisen der Gegenwart. Diese Verbindungen sind häufig sehr indirekt. Gleichwohl sind sie in irgendeiner Weise wirksam. Litt vertritt die Auffassung: Auch mit Hilfe der simultanen Ausdehnung der sozialen Kreise dehnt sich das Individuum innerhalb der Gemeinschaft zeitlich aus.
Fassen wir mit Blick auf die zeitliche Ausdehnung des Individuums durch soziale Vermittlung zusammen: Innerhalb der sozialen Kreise, so Litt, erfolgt die zeitliche Ausdehnung des Individuums durch den „Bericht” sowie durch die sukzessive und simultane Ausdehnung der sozialen Kreise. Durch das so entstehende Netz der sozialen Vermittlungen ist das Individuum eingebettet in den großen kontinuierlichen Kulturprozess (siehe Abb. 4, auf der nächsten Seite). In Litts Worten:
„Soweit sich auch das System der sozialen Vermittlungen nach allen Seiten hin dehnen mag, immer wieder bleibt dies seine Wirkung, dass es den Gehalt eines unendlich vielfältigen Personenlebens … schließlich hineinleitet in den begrenzten Bereich des Ich.”‘

Machen wir an dieser Stelle einen Einschnitt und versuchen wir nun einige der inzwischen vorgelegten Theoriestücke zu verknüpfen.

III. Der zeittheoretische Zusammenhang zwischen „Individuum und Gemeinschaft” und „Führen oder Wachsenlassen”

Sie erinnern sich an die vier zeittheoretischen Prämissen, die ich aus „Führen oder Wachsenlassen” herausgezogen habe:
Vergangene Lebensformen sind nicht wiederholbar. Zukünftige individuelle und kulturell-soziale Entwicklungen sind nicht vorhersehbar. Die Bindung von Zukunftsentwürfen an tradiertes und aktuelles Gedankengut ist nicht lösbar. Die Vermittlung von Zeitlosem in zeitlichen Prozessen ist realisierbar.

Im Folgenden möchte ich Verbindungsstücke zeigen – Verbindungsstücke zwischen diesen Prämissen einerseits und der Zeittheorie in „Individuum und Gemeinschaft” andererseits.
Zur ersten Prämisse:

  1. Nicht wiederholbar: Vergangene Lebensformen
    In „Führen oder Wachsenlassen” heißt es:
    „Damals lebte man ein Bildungsideal, über das man nicht reflektierte; heute reflektiert man über ein Bildungsideal, das man nicht leben kann.”
    Dieser Satz und sein theoretischer Kontext korrespondieren mit Litts Erwägungen in „Individuum und Gemeinschaft”. Dort schreibt Litt:
    „Alle kulturelle Wirklichkeit enthält viel tausend Renaissancen und Rezeptionen im Kleinen”?’
    „Rezeption” und „Renaissance” bedeuten freilich nicht unveränderte Übernahme, sondern produktive Aneignung. Das heißt: Bei den vielen „Rezeptionen im Kleinen” geschehen permanente Veränderungen. Es kommt zu tausendfachen perspektivischen Brechungen des Rezipierten. In all den Kanälen der sozialen Vermittlung werden Lebensformen vermittelt und zugleich transformiert.23 Durch Rezeption geschieht also nicht Wiederherstellung von etwas Altem, sondern Erzeugung von etwas Neuem. Erinnern wir uns an dieser Stelle an Litts prägnante Formulierung zur Individualität des Lebensmomentes:
    „Wo ich war und was ich war, da bzw. das bin ich nicht und werde ich nie mehr sein”.
    Der analoge Satz gilt auch für jede einzelne Kultur mit ihren je spezifischen Lebensformen: Was eine Kultur war, das ist diese Kultur nicht mehr und das wird diese Kultur nie mehr sein.
    Zusammengefasst:
    In „Führen oder Wachsenlassen” betont Litt die Unmöglichkeit der pädagogischen Wiederherstellung einer konkreten Lebensform. In „Individuum und Gemeinschaft” betont Litt die Unmöglichkeit der Wiederherstellung eines bestimmten individuellen Lebensmomentes. In beiden Schriften beleuchtet Litt die enorme Strömungskraft individueller und kultureller Prozesse, die immer wieder Neues hervorbringen.

Zur zweiten Prämisse:

  1. Nicht kalkulierbar: Zukünftige individuelle und kulturell-soziale Entwicklungen
    In „Führen oder Wachsenlassen” zeigt Litt: Führer-Pädagogiken setzen ein hohes Maß an menschlicher Erkenntniskraft voraus. Vorausgesetzt wird unter anderem eine hohe prognostische Potenz. Litt signalisiert Skepsis. Diese Skepsis findet sich auch in „Individuum und Gemeinschaft”. Litt weist auf eine prinzipielle Erkenntnisgrenze hin: Alle kulturellen Prozesse erweisen sich seines Erachtens bei genauerer Betrachtung als unübersichtlich und unabsehbar. Denn: Was tritt dem Betrachter kultureller Prozesse vor Augen?
    „ein Meer durcheinander flutender, schäumender, wirbelnder Bewegung, … ein unabsehbares Sichdurchdringen von Ereignisreihen, von denen keine ohne die andere das wäre, was sie ist.”‘
    Kurzum: Dieses überkomplexe „Sichdurchdringen von Ereignisreihen” überfordert nicht nur jede Diagnostik, sondern auch und vor allem jede Prognostik.

Zur dritten Prämisse:

  1. Nicht ablösbar: Bindung von Zukunftsentwurf an tradiertes und aktuelles Gedankengut
    Sie erinnern sich an ein anderes Zitat aus „Führen oder Wachsenlassen”:
    „Wie viele dünken sich Vorklang des Morgen und sind in Wahrheit nur schwächlicher Nachhall des Gestern.”
    Litts pädagogische Kritik an den Führer-Pädagogiken tritt in variierter Form auch in „Individuum und Gemeinschaft” auf. Litt zeigt hier: Versuche, sich von der eigenen kulturellen Kontinuität loszusagen, sind zum Scheitern verurteilt. Litt veranschaulicht dies erneut am Phänomen der Sprache: Jeder, der über eine Sprache verfügt, so ist Litts Gedanke, steht, ob er will oder nicht, in der kulturellen Kontinuität der Gesellschaft, deren Sprache er spricht. Und so lautet sein allgemeines Resümee:
    „Wer einmal mit seinem seelischen Sein durch einen Lebenskreis hindurchgegangen ist, der bleibt ihm wie mit feinen Fäden … ewig verbunden.” 25

Zur vierten Prämisse:

  1. Realisierbar: Vermittlung von Zeitlosem in zeitlichen Prozessen
    In „Führen oder Wachsenlassen” unterstreicht Litt: Wer sich mit einem Thema befasst, der wird zugleich von der Eigenlogik des Themas erfasst. Die Auseinandersetzung mit jener Eigenlogik aber wirkt bildend. Die sachlichen und zeitlosen Forderungen des bedeutungshaltigen Gegenstandes erziehen das Subjekt.
    Auch hier gibt es wieder eine deutliche Verbindung mit Litts Zeittheorie in „Individuum und Gemeinschaft”. Denn dort hebt Litt hervor: Die Logik des Gegenstandes gilt unabhängig von der Psyche des Individuums. Sie ist keine Projektion des Individuums, sondern hat in sich Bestand. Und weil dies so ist, gibt die Eigenlogik einer Sache dem Individuum Stabilität und Orientierung.
    Litt unterstreicht den systemischen Charakter dessen, was er der zeitlosen Sinnsphäre zuordnet. Durch das „feste Gerüst von ideellen Bestimmungen”, das diesen Systemzusammenhang ausmacht, „gewinnt”, so Litt, „die von Augenblick zu Augenblick sich wandelnde Lebensbewegung der Gemeinschaft einen Halt im Gegenständlichen, eine Anlehnung an eine geschlossene Welt von sachlichen Forderungen und Notwendigkeiten …
    Die Verbindungsstücke lassen sich zusammenfassen:
    • Sowohl in „Führen oder Wachsenlassen” als auch in „Individuum und Gemeinschaft” setzt Litt voraus: Es gibt einen Unterschied zwischen zeitlichen Erkenntniserlebnissen einerseits und dem zeitlosen logischen Zusammenhang von spezifischen Wahrheiten und Bedeutungen andererseits. — Ferner wird in beiden Büchern vorausgesetzt, dass die zeitlosen logischen Zusammenhänge sehr wohl in zeitlichen Erkenntniserlebnissen erfasst werden können.
    • In „Führen oder Wachsenlassen” arbeitet Litt in pädagogischer Absicht heraus: Die Einführung in zeitlose Sinnzusammenhängen wirkt bildend und orientierend. Und daher ist ein spezielles zeitgebundenes Bildungsideal für die Pädagogik überflüssig.
    • In „Individuum und Gemeinschaft” arbeitet Litt in kulturphilosophischer Absicht heraus: Die „von Augenblick zu Augenblick sich wandelnde Lebensbewegung der Gemeinschaft” erlangt durch die zeitlosen Sinnzusammenhänge Orientierung und Kontinuität.

IV. Ausklang

Wo können, dies sei abschließend gefragt, interessante Bezüge zwischen Litts zeittheoretisch-pädagogischen Ideen und anderen pädagogischen Modellen hergestellt werden? Ich möchte drei Bezugspunkte nennen:
Erster Bezug:
Lohnend ist ein Vergleich mit der Pädagogik Jonas Cohns. Litt bezieht sich immer wieder auf die Schriften seines Freiburger Kollegen. Bei genauerer Betrachtung ließen sich vermutlich etliche Parallelen, aber auch interessante Akzentunterschiede zwischen den beiden Autoren herausarbeiten. Besonders lohnend erscheint Cohns Buch „Wertwissenschaft” sowie der Band „Geist der Erziehung”.
Zweiter Bezug:
Der Tübinger Kollege Klaus Prange hat 1999 einen Text zur pädagogischen Zeittheorie veröffentlicht. Nach Pranges Auffassung geht es beim „Erziehen und Lernen … um Zeitverhältnisse”. Die zentrale Behauptung des Textes lautet: „In der Synchronisation von Zeigen und Lernen besteht das didaktische Problem der Erziehung.”28 – Ich vermute: Pranges und Litts Theorien sowie weitere Theorien lassen sich in einem Gesamtmodell pädagogischer Synchronisation integrieren.
Dritter Bezug:
Der Münsteraner Kollege Bernd Zymek hat 1998 einen „bildungspolitischen Kommentar zu den Forderungen der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen” veröffentlicht. Zymek kritisiert das von der Kommission herausgestellte pädagogische Leitbild. Zymek moniert: Das überwiegend aus Ökonomen zusammengesetzte Gremium spreche über die Zukunft im Duktus von Geschichtsphilosophen nach dem Ende der Geschichte. Und weiter schreibt er:
„Es scheinen heute die Ökonomen zu sein, die Texte mit einem normativen, fast theologisch anmutenden Duktus verfassen: Dort werden Gesetze des rechten Lebens erkannt und verkündet, die als Gewissheit, als Heilsverspre-chen oder Untergangsdrohung formuliert sind. Wie Hüter einer unbezweifelbaren Wahrheit fordern sie von den Menschen Einsicht und Umkehr, den Abschied von alten Illusionen und Bindungen, den Aufbruch zu neuem Denken und einer asketischen Lebensführung, versprechen sie eine neue, eine andere Freiheit.”
Bemerkenswert ist m.E. vor allem eine Sache: Zymeks Kritik erscheint wie eine Renaissance der beschriebenen Argumentationsfigur aus „Führen oder Wachsenlassen”. Denn sowohl Litt als auch Zymek wehren sich gegen pädagogische Modelle, die der Zukunft der Heranwachsenden allzu feste Formen vorgeben möchten.

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