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Forschung

Theodor Litt — ein Klassiker der Pädagogik?6 min read

„Vom Grund des Grundgesetzes”
Zeitgeschichtliche Dimensionen des Wirkens
von Theodor Litt 1947 bis 1962
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2013

BARBARA DRINCK
Theodor Litt — ein Klassiker der Pädagogik?

Als der Historiker und Pädagoge Albert Reble 1951 in seiner „Geschichte der Pädagogik” postulierte, Klassiker gehörten zum festen Bestandteil des Universitätsstudiums, wusste er auch, dass Studierende diese Klassiker oft ablehnend als „eine etwas verstaubte, akademische Angelegenheit” bewerten. Heute und nicht nur vor mehr als 50 Jahren monieren angehende, aber auch bereits gestandene Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Studieninhalte, in denen sie keinen unmittelbaren Gewinn für ihre pädagogische Praxis vermuten und die ihnen zu theoretisch scheinen.
Betrachten wir nun jedoch die verbindlichen Leselisten in den Modulbeschreibungen vieler deutscher erziehungswissenschaftlicher Studiengänge, so fällt auf, dass dort weiterhin Originaltexte von pädagogischen Klassikern zur Vorbereitung der Prüfungen vorausgesetzt werden.
Trotzdem gestaltet sich die Beschäftigung mit diesen Theorien und Dokumenten heute schwierig. Gerade im kompakt angelegten BA-Studiengang müssen unmittelbar Qualifikationsziele — laut KMK — in den Modulbeschreibungen angegeben werden.’ Dadurch sollen erziehungswissenschaftliche Theorien geradewegs praxisorientiert sein. D.h., das gesamte Bachelor-Studium, ebenso das Master-Studium, muss berufsqualifizierend angelegt sein. Somit steht nun der funktionale Aspekt im Vordergrund des erziehungswissenschaftlichen Studiums. Das Ziel der allgemeinen Menschenbildung, wie es Humboldt formuliert hatte, tritt mehr und mehr in den Hintergrund.
Es bleibt die Frage offen: Kann der Umgang mit Klassikern heute noch wichtig sein, wenn er nicht unvermittelt in die Berufspraxis umgesetzt wird? Als Klärung könnte man mit Reble kritisch antworten, dass eine rein pragmatische, auf direkten Nutzen abzielende Auffassung des geisteswissenschaftlichen Studiums ein Denkfehler sei. Denn pädagogische Theorie könne zwar nicht als eine direkte Anweisung für das praktische Handeln gelten, doch es gehe hier um eine Erweiterung und Schärfung des pädagogischen Blickes. Es gehe auch um eine Vertiefung des Verständnisses der pädagogischen Situation. Daher ist die historische Betrachtung pädagogischer Theorieentwicklung immer eine — zwar indirekte — aber grundsätzliche Vorbereitung auf das pädagogische Handeln. Jedoch, wer Theorie versucht, für einen praktisch-pädagogischen Nutzen unmittelbar zu funktionalisieren, überfordert sie. Pädagogisches Handeln kann nur über reflexive und kritische Auseinandersetzungen mit erziehungswissenschaftlichen Theorien erfolgen.
Das Verstehen und Nachverfolgen der Ideengeschichte ist grundlegend relevant für eine Reflexion heutiger pädagogischer Fragen und Probleme, weil — wie wir immer wieder erleben — bestimmte pädagogische Themen generationsübergreifend aufkommen und geklärt werden (müssen). Diese Lösung etwa von Erziehungsproblemen geschieht durch ein Zurückgreifen auf Erfahrungen, die in einem je historischen Kontext pädagogischen Nachdenkens geklärt und behandelt worden sind.

Was ist nun ein pädagogischer Klassiker?

Man könnte kurz antworten: Klassiker sind Repräsentanten bestimmter Denktraditionen, die im Zusammenhang mit pädagogischen Grundfragen und Grundbegriffen stets genannt werden. So sieht es auch Michael Winkler (1993). Sie sind „Key authors”, d.h. Autoren, die als verbindlich oder relevant gelten, von denen Bedeutsames und sogar Wichtiges zu erfahren ist.
Die Aussage Winklers kann in solch verkürzter Form jedoch nicht stehen bleiben. Sicher sind Klassiker Autoren, die immer in Verbindung mit Ideengeschichte, Denktraditionen und Forschergenerationen stehen. Sie müssen nach Bernd Dollin-ger jedoch eine besondere Wirksamkeit entfalten, neue Denkmodelle aufstellen und konkrete und originäre Maximen von Erziehung und Bildung formulieren.
Das ist auch verständlich, wenn wir die Wortbedeutung analysieren; so wieesie uns von Hans Scheuerl in den Klassikern der Pädagogik vorliegt (1999, S. 11): „Klassisch” stammt von classici, was so viel heißt, wie erstklassig. Ursprünglich waren damit die Angehörigen der obersten Rangstufe im römischen Steuersystem gemeint. Heute handelt es sich um einen Relationsbegriff: Es geht um diejenigen, die hervorragen in ihrem Beitrag für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs gegenüber denjenigen, die dies nicht tun.

Nun stellt sich die Frage: Ist Theodor Litt ein pädagogischer Klassiker?
Bevor wir diese Frage klären können, nenne ich zwei Argumente wie und warum ein Autor oder ein Text zum Klassiker wird.
I. Nach Alfred K. Treml (1997), der eine systemische und pädagogische Evolutionstheorie vertritt, zeichnen sich Klassiker durch eine gute Konstitution aus, d.h. sie sind die „fittesten” Theorien von vielen, die einer Selektion innerhalb der Disziplin standhalten und welche die Höhen und Tiefen in der scientific community zwar nicht physisch, jedoch theoretisch überleben. Nach Scheuerl ist ein Klassiker der, der die Probe der Zeit überdauert (1999, S. 10). Klassiker ist also, wer nicht in Vergessenheit gerät und weiterhin das gesellschaftliche Denken irritiert.

  1. Mit Bernd Dollinger (2006) sind Klassiker, hier bezieht er sich auf Michel Foucault, nicht nur Überlebende in der Wissenschaftsgemeinschaft, sondern relevante, sogar prominente, immer wieder aktuelle diskursive Praxen. Klassiker beherrschen mit ihren Texten, ihren Theorien, ihren in der Folge entstandenen Kommentaren das Diskursgeschehen und erneuern auch die hegemonialen erziehungswissenschaftlichen Diskurse mit ihren Inhalten. Sie verschränken ihre Argumente mit Diskursen aus anderen Disziplinen. Sie dringen selbst in den Alltagsdiskurs der normalen Menschen ein und formen ihr Bewusstsein.
    Auf die beiden Erläuterungen zurückgreifend, versuche ich die Frage, ob Theodor Litt zu den pädagogischen Klassikern zählt, zu beantworten.
    Zur ersten Erklärung Tremls: Bis heute ist Theodor Litt den meisten Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern vertraut. Die Theodor-Litt-Gesellschaft ist eine international ausgerichtete wissenschaftliche Gesellschaft, die von meinem Kollegen Dieter Schulz vor 16 Jahren gegründet wurde. Das Theodor-Litt-Archiv und die Forschungsstelle im Universitätsarchiv der Universität Leipzig werden vom Archivdirektor Jens Blecher betreut. Seit 2001 vergibt die Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig den Theodor-Litt-Preis, einen Förderpreis fiir herausragende Lehre. Heute findet das bereits XVI. Theodor-Litt-Symposium statt, dessen Beiträge auch diesmal in einem Tagungsband veröffentlicht werden.
    Nicht nur das große Interesse an Theodor Litt hat zahlreiche Gäste an die Universität Bonn gelockt, vor allem auch die große Unterstützung aus Bonn und Leipzig hat es überhaupt erst möglich gemacht, hier zu sein. Daher möchte ich an dieser Stelle sehr wichtigen Personen danken:
    — Dass das heutige Symposium an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn stattfinden kann, ist Ihnen, Magnifizenz Prof. Dr. Jürgen Fohrmann, zu danken.
    — Besten Dank auch Ihnen, Magnifizenz Prof. Dr. Beate Schücking. Nehmen Sie unseren herzlichsten Dank für die Unterstützung durch die Leipziger Universität.
    — Schließlich soll auch Ihnen, Herr Dr. Geiss, unser großer Dank gelten, da Sie als Vertreter der Bundeszentrale für politische Bildung das Symposium nachdrücklich unterstützt haben.

Zur zweiten Erklärung, der von Dollinger: Klassiker zeichnen sich durch einen lebendigen Diskurs aus, durch eine Verschränkung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Auch dies können wir beobachten. Pädagogik, Politik und Rechtswissenschaft sind im heutigen Symposium repräsentiert: Der Titel „Vom Grund des Grundgesetzes — Zeitgeschichtliche Dimensionen des Wirkens von Theodor Litt zwischen 1947 und 1962″ zeigt die Relevanz für die heutigen gesellschaftlichen und politischen Lagen. Wir werden wichtige Beiträge zum aktuellen Zeitgeschehen hören. Daher möchte ich die Referenten sehr herzlich begrüßen.

Ich denke, meine — rhetorische — Frage ist beantwortet. Ja, Theodor Litt ist einer der großen pädagogischen Klassiker.
Auch wenn das heutige Studium weit mehr praxisorientiert ausgcrichtct ist als vor dem Bologna-Prozess, ist der Umgang mit Litts Texten für ein erziehungswissenschaftliches Studium heute relevant. Es schärft nicht nur den erziehungswissenschaftlichen Blick, in dem es das Verständnis der pädagogischen Situation vertieft, sondern es bietet direkte, konkrete, kritische Auseinandersetzungen mit politischen und rechtlichen Fragen an, wie wir hier auf diesem Symposium erfahren können.

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