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Forschung

Physikalisches Wissen als Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung.10 min read

„Das Atomzeitalter.
Maximum von Naturwissenschaft und Technik.
Maximum der Verantwortung”.
(Theodor Litt, 1957)
Theodor-Litt-Jahrbuch 2012/8
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2012

WINFRIED TIMMERHAUS
Physikalisches Wissen als Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung.
Anmerkungen aus der Schulpraxis

  1. Theodor Litt und der Physikunterricht

Die Auseinandersetzung mit Theodor Litt steht nicht primär im Interesse eines in der Schulpraxis stehenden Physiklehrers. Dennoch begegnet der Lehramtsstudent oder Studienreferendar des Faches Physik in seinem Studium der Person Litt z. B. in Veröffentlichungen, in denen die bildungstheoretische Legitimation des Physikunterrichts dargelegt wird’. Litts Verständnis von Naturwissenschaft wird in diesen Darstellungen häufig auf die Antinomie zwischen humanistisch-ästhetischer sowie naturwissenschaftlicher Sicht reduziert, ohne weitergehende Reflexionen seiner Abhandlungen zur Verantwortung der Naturwissenschaften vorzunehmen.
Insbesondere wird nur selten in physikdidaktischen Darstellungen versucht, diese von Litt herausgestellte Antinomie’ konstruktiv zu nutzen und mit dem Wissen um diese Dialektik die Planung von Physikunterricht und den damit verbundenen Lehr-Lernprozessen erfolgreicher zu gestalten.
Dieses Anliegen ist häufiger mit der Person Wagenscheins verbunden, da er als Physiker und Erziehungswissenschaftler die „Pädagogisierung” der Physik vorangetrieben hat. Gleichzeitig war er einer der ersten Physikdidaktiker, der von einer breiteren Öffentlichkeit mit seiner Forderung nach einer Dimension des Physikunterrichtes über das rein Fachliche hinaus wahrgenommen wurde.
Litt und Wagenschein geht es als Personen der gleichen geistesgeschichtlichen Epoche bei jedem Erziehungsprozess um das Ganze im Menschen, also um eine Bildung, die der personalen Würde des Menschen in seiner Gesamtheit gerecht wird. Im Zentrum der Aussagen beider Autoren steht die Forderung, dass der jeweilige fachliche Gegenstand der Naturwissenschaft von einer Bewertung des Gegenstandes nicht getrennt werden darf. Der Physikunterricht sollte daher in ihren Augen nie die Behandlung der Sachfragen von wissenschaftstheoretischen Reflexionen separieren. Damit nimmt auch der Physikunterricht teil an der Verantwortung, die den gesamten schulischen Bildungs- und Erziehungsprozess erst ausmacht. Das einzelne Schulfach kann sich nicht abkoppeln von der Aufgabe, ein stabiles Wertebewusstsein im Schüler zu entwickeln und zu verankern.
Litt formuliert in „Technisches Denken und menschliche Bildung”: „Und das Gewicht der ihm abverlangten Entscheidungen muss und wird sich in eben dem Maße steigern, wie die ‚wissenschaftliche Technik’ die ihm bereitgestellten Mittel vervollkommnet (…) Je ausgreifender die Möglichkeiten des Wirkens, umso größer die Reichweite und damit die Verantwortlichkeit des Willens, der über den Gebrauch dieser Möglichkeiten entscheidet’. Mit diesen Worten betont Litt einerseits die Freiheit des menschlichen Geistes, über den Gebrauch von naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften zu entscheiden, andererseits aber auch die Verpflichtung des Einzelnen, der sich daraus ergebenden Verantwortung gerecht zu werden.

  1. Verantwortung und Physikunterricht

Auf der Grundlage der zentralen These Litts von der Verantwortung der Naturwissenschaften stellt sich nun die Frage, inwieweit der an unseren allgemeinbildenden Schulen etablierte Physikunterricht tatsächlich einen Beitrag leistet, um die Verantwortung der Naturwissenschaften im Bewusstsein der Schüler zu verankern. Stellten sicherlich die Eindrücke der totalen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und das Bedrohungspotential durch atomare Waffen bei Litt einen wesentlichen Ausgangspunkt für seine Fragen nach der Verantwortung der Naturwissenschaften dar, so können die in der Neuzeit stetig wachsende Abhängigkeit des Menschen von technischen Errungenschaften oder z. B. die Katastrophe von Fukushima im Jahre 2011 einen ähnlichen Kristallisationspunkt für diese Erörterungen in der heutigen Zeit bilden.
Kennzeichnend für diese „Verantwortung” ist, dass das Wissen um naturwissenschaftliche Erkenntnisse zunächst aufklärt und damit Ängste vermeidet. Nur ein fachlich gebildeter Mensch kann auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen an der politischen Willensbildung kompetent teilhaben. Ängste werden immer durch Unwissen oder diffuses Halbwissen verstärkt und gefördert. Erst durch die Auseinandersetzung mit der Sache wird der Schüler aber in die Lage versetzt, Verantwortung wahrzunehmen.
Sicherlich ist die Auseinandersetzung mit dem Fach Physik durch einen vergleichsweise hohen Drang zur Objektivierung und damit subjektinvarianten Erforschung der unbelebten Natur gekennzeichnet. Litt charakterisiert die Methode der Naturwissenschaft zugespitzt auf folgende Art: „Das Werk dieser Wissenschaft ist die Zurückführung des Weltgehalts auf mathematische Relationen”5. An anderer Stelle heißt es weiter: „Der durch die mathematische Naturwissenschaft herausgearbeitete Gegenstand ist der mit letzter Präzision bestimmte Gegenstand”6. Diese auch in der Öffentlichkeit sehr verbreitete Ansicht birgt häufig die Gefahr, sich auf die rein fachliche Vermittlungsebene im Unterricht zu beschränken, ohne Bezug auf gesellschaftliche und soziale Verknüpfungen zu nehmen. Der Fokussierung auf das Unbelebte in der Natur scheint bereits eine gewisse Distanz zum handelnden Menschen innezuwohnen. In der Schule tritt diese Sache aber notwendigerweise in eine Auseinandersetzung mit dem Subjekt des Schülers, dessen Persönlichkeit selbst sich in einer teilweise dramatischen, aber sehr natürlichen Entwicklung befindet.
und Waffen einschätzt: „Möge sie (die vorliegende Arbeit, Anm. d. Verfassers) die Gewißheit verbreiten helfen, daß die Menschheit von heute mit sich und ihrem Schicksal nicht fertig werden wird, es sei denn, daß sie das selbsterrichtete Gefüge ihres Lebens mit einem viel höheren Maß von Klarheit durchschauen lernt, als sie nach Ausweis ihrer selbstzerstörerischen Taten einstweilen sich nachzurühmen das Recht hat” (Litt 1964, S. 3). Die Entscheidungsfreiheit des Menschen beschreibt er mit den folgenden Worten: “Zu einer mit schwerster Verantwortung belasteten Verpflichtung wird die Wahl erst dann, wenn unter den ihr sich anbietenden Möglichkeiten auch solche sind, für die sich zu entscheiden ein Irrtum, ein Fehlgriff, ein Verstoß, ein Frevel wäre — wenn, kurz gesagt, unter diesen Möglichkeiten sich solche befinden, die einen negativen Wertakzent tragen” (Litt 1964, S. 55).
Gerade deshalb erscheint die Frage nach der Verantwortung des Naturwissenschaftlers den Physikunterricht geradezu essentiell zu legitimieren, da das „Lernen von Physik” aufgrund der vielfältigen technischen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen auch immer mit der Frage nach der Verantwortung des Forschers bzw. des Erfinders verknüpft ist.
Die in den letzten 150 Jahren sehr dynamische Entwicklung physikalischer Grundlagen und deren Anwendungen in der Technik macht es geradezu notwendig, immer auch die Folgen und gesellschaftlichen Interdependenzen physikalischer Erkenntnisse zu bedenken.

  1. Bewerten als prozessbezogene Kompetenz des Physikunterrichts

In neueren kompetenzorientierten Lehrplänen wird daher den so genannten „prozessbezogenen Kompetenzen” (Erkenntnisgewinnung, Kommunikation, Bewertung) mit Berechtigung eine besondere Bedeutung zugewiesen, da die Funktion eines Schulfaches für die Persönlichkeitsentwicklung sicherlich nicht ausschließlich in der Vermittlung von Sachinhalten, sondern insbesondere im Lernprozess zu suchen ist. Prozessbezogene Kompetenzen beschreiben daher die anzustrebenden Handlungsfähigkeiten der Schüler und geben Auskunft über die Fähigkeiten der Schüler, naturwissenschaftliches Wissen in der eigenen Lebenswelt anzuwenden und einzusetzen.
Die mit der Kompetenz „Bewertung” verknüpften Teilkompetenzen’ stellen große Herausforderungen sowohl an den Schüler als auch an den Lehrer. Beispielhaft seien zwei Kompetenzen genannt, die bis zum Ende der Jahrgangsstufe 9 (also von 14-15 Jährigen) erreicht werden sollen:
„Schülerinnen und Schüler …
nutzen physikalisches Wissen zum Bewerten von Chancen und Risiken bei ausgewählten Beispielen moderner Technologien und zum Bewerten und Anwenden von Sicherheitsmaßnahmen bei Experimenten im Alltag.
nutzen physikalische Modelle und Modellvorstellungen zur Beurteilung und Bewertung naturwissenschaftlicher Fragestellungen und Zusammenhänge.”‘

Auffallend ist, dass in beiden Kompetenzerwartungen (in einer Reihe mit 8 weiteren hier nicht genannten Teilkompetenzen) zunächst physikalisches Sachwissen als Ausgangspunkt für weitergehende Bewertungskompetenz angesehen wird. Diese Reihenfolge ist typisch für die naturwissenschaftliche Vorgehensweise.
In der tatsächlichen Unterrichtspraxis ist damit aber häufig der Umstand verknüpft, dass aufgrund von Zeitmangel das Erreichen fachlicher Ziele zunächst im Vordergrund steht (Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung) und die komplexen Fragen nach der Verantwortung und Ethik des Handelns nicht selten höchstens als lästiges und „schmückendes” Beiwerk angesehen wird. Es stellt sich daher die Frage, warum nicht der umgekehrte Weg, nämlich die ethische Bewertung z. B. der Kernenergie der Ausgangspunkt weiterer fachlicher Untersuchungen sein kann. Ein solcher Einstieg motiviert den Erwerb fachlichen Wissens und unterstreicht die Bedeutung und Notwendigkeit fundierten Fachwissens. Darüber hinaus stehen solche Fragen auch insbesondere im Interessenshorizont der Mädchen, die durch rein technische oder innerfachliche Einstiege ein eher geringeres Interesse für den Physikunterricht zeigen’.
Wenn auch der mündige Bürger recht weit von einer Entscheidungskompetenz in Sachen Kernenergie entfernt ist (sie reduziert sich in diesem Fall auf die Wahlentscheidung und Teilhabe an politischen Diskussionsprozessen), spürt er doch sehr konkret seine Ohnmacht, diese Kompetenz ohne das notwendige Sachwissen auszufüllen.

  1. Fallbeispiel: Radioaktivität und Kernenergie im Physikunterricht

Nicht jeder physikalische Kontext bietet die gleichen Möglichkeiten, eine Wertorientierung im Sinne der Zielperspektive Lifts bzw. der „Bewertungskompetenz” des Lehrplans vorzunehmen. Eine Unterrichtsreihe über Radioaktivität ist aber immer zentral auch mit den Fragen nach den Folgen für das menschliche Leben — z. B. beim Umgang mit der technischen Nutzung der Kernenergie oder aber bei medizinischen Anwendungen — verbunden. Die Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Radioaktivität ist völlig offensichtlich und eine Problematisierung von Bewertungsfragen liegt unmittelbar auf der Hand.

Die Simulation einer Podiumsdiskussion, in der die Vertreter der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen ihre Standpunkte sachorientiert vortragen, wäre ein denkbarer Weg zur Erreichung der angestrebten Kompetenzerwartungen (aus dem Bereich „Bewerten”). Geschieht dies auf der Grundlage von physikalischen Sachkenntnissen, die z. B. in Schülerversuchen zur Radioaktivität erarbeitet werden können, ist eine langfristige Verankerung des Wissens und eine sachorientierte Meinungsbildung möglich.
Die Aneignung physikalischen Fachwissens wird im weiteren Verlauf einer Unterrichtsreihe über Radioaktivität und Kernphysik immer von experimentellen Untersuchungen ausgehen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, wenn eine zunehmende Anzahl von Physiklehrern den Umgang mit radioaktivem Material entweder als Demonstrationsexperiment oder als Schülerversuch im Unterricht ablehnt. Obwohl die Vorschriften der Strahlenschutzverordnung und die absolut unbedenkliche und sichere Bauweise der Präparate durch die Lehrmittelfirmen eine Gefährdung der Beteiligten verhindern, wird teilweise aus grundsätzlichen Erwägungen ein Kontakt mit solchen Experimenten abgelehnt. Dies ist gerade auch aus der Zielperspektive der o. g. Bewertungskompetenzen sehr kritisch zu sehen, da gerade der unmittelbare Kontakt mit radioaktiven Präparaten bei den Schülern eine angemessene Balance zwischen dem Respekt vor den Risiken und dem Interesse für die Sache auslösen kann. Insbesondere der eigene Umgang mit solchen Präparaten auch im Schülerversuch veranlasst erfahrungsgemäß Fragestellungen zu den physikalischen Grundlagen z. B. der Dosimetrie, der medizinischen und technischen Anwendungen der Radioaktivität oder der energietechnischen Nutzung der Kernenergie.
Nicht die Verbreitung von Angst steht dabei im Vordergrund, sondern die Ausprägung von Verantwortung ist das oberste Ziel, um Bewertungskompetenzen zu erzielen. Der transparente und aufklärende Umgang mit dem Wissen um Radioaktivität und Kernenergie entspricht dem Selbstverständnis der Naturwissenschaft. Ein Vorenthalten z. B. von authentischen Experimenten zur Radioaktivität (aus welchen verständlichen Gründen auch immer) verhindert eine sachliche und auf der Grundlage unmittelbarer persönlicher Erfahrungen gegründete Auseinandersetzung und Meinungsbildung.
Die Ausführungen Litts betonen, dass in der praktischen Unterrichtsgestaltung die fachliche Perspektive in eine die Humanität des Menschen berücksichtigende Perspektive einzubetten und zu vernetzen ist. Im fachlichen Lernen ist nach Litt immer auch die Reflexion über das überfachliche, d. h. die Ebene der Bewertung enthalten: „Schon im Keim muß der Gedanke erstickt werden, als könne man das Humane, in die Hülse eines genau umschriebenen Faches eingekapselt, neben das Fachliche hinpflanzen und durch diese Summation einen ganzen Menschen zustande bringen”.
Litt sieht darüber hinaus eine Verpflichtung der Naturwissenschaftler sogar zur politischen Einflussnahme: „Blickt man auf die Möglichkeiten des Handelns, die dem Menschen durch die jüngsten ‚Errungenschaften’ der naturwissenschaftlichen Forschung eröffnet worden sind, dann begreift man es, wie unwiderstehlich sich die in dieser Forschung führend Vorangehenden gedrungen fühlten, die herkömmliche Zurückhaltung des der Wissenschaft Verpflichteten fahren zu lassen und durch Unterrichtung der Allgemeinheit auf den Gang der politischen Dinge Einfluß zu nehmen’. An anderer Stelle drückt er es sogar noch deutlicher aus: „Der Gelehrte wird zum Politiker!”12.
Man könnte zugespitzt formulieren: Wissen zwingt geradezu zur Verantwortung und Partizipation am gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsprozess. Damit schafft ein so verstandener Unterricht die Voraussetzung, um Teilhabe am politischen Leben und Wertorientierung in einer immer komplexeren Welt zu ermöglichen.

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