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Forschung

Erwachsenenbildung und Leserforschung. Zu den Beziehungen zwischen Walter Hofmann und Theodor Litt29 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
2009/6
Leipziger Universitätsverlag 2009

ARNULF KUTSCH / NADJA TÖPP
Erwachsenenbildung und Leserforschung.
Zu den Beziehungen zwischen
Walter Hofmann und Theodor Litt

In den Forschungsarbeiten über das wissenschaftliche Werk und die vielfältigen Aktivitäten von Theodor Litt finden sich bestenfalls marginale Hinweise auf Walter Hofmann, andererseits wird Theodor Litt in den wissenschaftlichen Untersuchungen über die Tätigkeit von Walter Hofmann nur am Rande erwähnt. Verschiedene Materialien in der erst teilweise erschlossenen dienstlichen Hinterlassenschaft von Hofmann in der Stadtbibliothek Leipzig sowie in seinem privaten Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, insbesondere in seiner dort überlieferten privaten Korrespondenz, legen die Annahme nahe, dass es das Engagement auf unterschiedlichen Gebieten der Erwachsenen- bzw. Volksbildungsbewegung war, das Hofmann und Litt zu Beginn der 1920er Jahre in Leipzig zusammenführte, wo Hofmann seit 1914 Direktor der Städtischen Bücherhallen war und Litt seit 1920 den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik inne hatte und das Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde sowie dessen Philosophisch-Pädagogisches Seminar leitete. Aus diesen und weiteren gedruckten und ungedruckten Quellen lässt sich in Umrissen erkennen, wie sich die Beziehung zwischen Hofmann und Litt, über deren Anfänge keine gesicherten Aussagen gemacht werden können, im Laufe der Jahre entwickelte und nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur bis zum Tod von Hofmann 1952 durchaus freundschaftliche Züge gewann.

Das Ziel unseres Beitrags ist es, die in unterschiedlichen Überlieferungen verstreuten Mosaiksteine zu einem Bild zusammenzufügen, das zumindest die Konturen dieser — hier weit gehend aus der Perspektive Hofmanns gesehenen — Beziehung erkennen lässt. Ferner wollen wir auf die volksbliotheka-tische Tätigkeit von Hofmann, vor allem aber auf seine Leserforschung als einem bislang wenig beachteten Aspekt der spezifischen „Leipziger Richtung” der Volksbildungsarbeit aufmerksam machen. Hofmanns Leistungen auf dem Gebiet der Volksbücherei und in der Leserforschung fanden, so unsere weitere Annahme, am Beginn der 1930er Jahre die Wertschätzung von Litt und bildeten den Ausgangspunkt für seine ideelle Förderung von Hofmann und dessen 1926 gegründetem Institut für Leser- und Schrifttumskunde sowie schließlich den Boden für die freundschaftliche Beziehung am Lebensabend von Hofmann.

Erwachsenenbildung

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestand in Leipzig ein breit gefächertes Bildungsangebot, das insbesondere die Arbeiter ansprechen sollte. Neben den Einrichtungen, die von bürgerlich-liberalen Bildungsbestrebungen getragen wurden, forcierten vor allem die Arbeiterbildungsvereine mit ihrem gut ausgebauten Bibliotheksnetz die Weiterbildung der Arbeiterschaft. Diese Bemühungen gipfelten 1907 in der Gründung des Arbeiter-Bildungs-Instituts. Im Rahmen der sog. Universitätsausdehnungsbewegung veranstaltete auch die Universität Leipzig seit 1897 „volkstümliche Hochschulkurse”, die in den folgenden Jahren durch studentische Arbeiter-Unterrichts-Kurse ergänzt wurden. Nach dem 1. Weltkrieg belebte Eduard Spranger, Ordinarius für Psychologie und Pädagogik, als Direktor des von ihm 1919 gegründeten Instituts für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde die Tradition der Arbeiterfortbildung wieder, indem er an der Universität „Arbeiter-Bildungs-Kurse” einrichtete. Das speziell an die Arbeiterschaft gerichtete Bildungsangebot wurde bald darauf mit den „volkstümlichen Hochschulkursen” zu einer „Volkshochschule an der Universität” zusammengelegt. Das Projekt endete jedoch 1921, nachdem Spranger 1920 einem Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin gefolgt war. Daher sah sich die Stadt Leipzig in der Pflicht, ein neues Konzept für die kommunale Erwachsenenbildung zu entwickeln: Der Staatsrechtler und Sozialdemokrat Hermann Heller wurde damit beauftragt, ein vielseitiges, jedermann zugängliches und überparteiliches Netz von Bildungseinrichtungen für Leipzig zu schaffen. Den Nukleus bildete die Volkshochschule, die am 3. März 1922 im Städtischen Kaufhaus im Rahmen eines Festaktes feierlich eröffnet wurde. Die Volkshochschule wurde bald darauf durch weitere Einrichtungen wie etwa die Volkshochschulheime ergänzt, die die spezifische „Leipziger Richtung” der Volksbildungsarbeit prägen sollten. Als bis dahin einmalige kommunale Einrichtung in Deutschland richtete die Stadt Leipzig ebenfalls 1922 ein Volksbildungsamt ein, das den weiteren Ausbau und die enge Verknüpfung dieser Einrichtungen der kommunalen Erwachsenbildung fördern sowie eine Zusammenarbeit mit der Universität herbeiführen sollte. So verlegte man bspw. Volkshochschulkurse gelegentlich in die Städtischen Bücherhallen zu Leipzig, wodurch eine Verbindung zwischen der Volkshochschule und dem volkstümlichen Bibliothekswesen hergestellt wurde. Dazu gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit eine Vortragsreihe, die Hofmann Ende der 1920er Jahre im Rahmen des Volkshochschulprogramms über die Fragestellungen und Ergebnisse seiner (Buch-) Leserforschung und deren Bedeutung für die Ausbildung von Volksbibliothekaren hielt. Andererseits wurde auf Initiative von Hermann Heller, dem Leiter des Volksbildungsamtes, im Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde der Universität Leipzig 1923 ein „Seminar für freies Volksbildungswesen” u. a. mit dem Ziel eingerichtet, die Lehrveranstaltungen der Volkshochschule wissenschaftlich zu begleiten; zur Eröffnungssitzung des Seminars am l. November 1923 luden Theodor Litt als Institutsdirektor und Hermann Heller, der als erster Direktor auch die Leitung des Seminars übernahm, gemeinsam ein. Zu den weiteren Aufgaben des Seminars gehörte es, die Erwachsenenbildung durch einen Erfahrungsaustausch und differenzierte Verbesserungsvorschläge zu unterstützen, aber auch eigene Lehrveranstaltungen für Studierende, Volkshochschulteilnehmer und anderweitig interessierte Bürger anzubieten. Das Seminar war damit die erste universitäre Einrichtung in Deutschland, die sich der Erwachsenenbildung widmete. Zu seinen Dozenten zählten Universitätsprofessoren wie der Soziologe Hans Freyer, der Physiker Friedrich Hund, aber auch Theodor Litt. Man darf mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Walter Hofmann in seiner Funktion als Bibliotheksdirektor in diese Entwicklung nicht nur eingebunden war, sondern, dass sie ihn als namhaften und engagierten Vertreter des volkstümlichen Bibliothekswesens, dem zweiten großen Gebiet der Volksbildungsbewegung, auch nachdrücklich interessierte. Darauf verweisen zahlreiche Vorträge über Themen aus dem Feld der Volksbibliothek und der Leserforschung, die Hofmann seit Mitte der 1920er Jahre u. a. an den Universitäten Jena und Leipzig (am Lehrstuhl für Soziologie von Hans Freyer) oder auf Veranstaltungen des Sächsischen Philologenverbandes hielt.

1879 als Sohn eines Graveurs in Dresden geboren, erlernte Hofmann den Beruf seines Vaters. Noch vor der Jahrhundertwende trat er in die Gewerkschaft der Graveure und Ziseleure ein und wurde bald danach wohl durch Ferdinand Avernarius, den Herausgeber der kulturellen Rundschauzeitschrift Kunstwart in Dresden, mit den Zielen der Volksbildungsbewegung bekannt gemacht. Neben seinem Beruf beschäftigte sich Hofmann intensiv mit philosophischen, literatur- und kunstwissenschaftlichen Schriften. 1902 wechselte er in den Journalismus und arbeitete als Kunstkritiker für die Sächsische Arbeiterzeitung, die Leipziger Volkszeitung und den Kunstwart. Daneben hielt er Vorträge aus seinem Ressort und veranstaltete Führungen für Arbeiter in Dresdner Museen und Kunstausstellungen. Als 1906 in Dresden-Plauen eine „Freie öffentliche Bibliothek” eingerichtet werden sollte, beauftragte man ihn mit ihrem Aufbau und ihrer Leitung. Dazu entwickelte er ein neues bibliothekari-sches Konzept, das von der „Einsicht in die Eigenart” des Bibliotheksbenutzers geleitet war und dessen individuelle Lesebedürfnisse und -interessen zum Maßstab von Bestandsaufbau und Ausleihe der Bibliothek erhob.

Seit 1909 verband Hofmann eine enge Freundschaft mit Robert von Erdberg, der ihn als Sachbearbeiter für das Bibliothekswesen in die Schriftleitung der Fachzeitschrift Volksbildungsarchiv berief. Hofmann und v. Edberg gehörten zum engeren Kreis des 1923 gegründeten „Hohenrodter Bundes”, der eine „Neue Richtung” in der Volksbildungsbewegung repräsentierte. Eine herausragende Stellung in dieser jüngeren Erwachsenenbildungsbewegung erlangte Hofmann durch sein Konzept der „gestaltenden Volksbildung”, das der Volksbücherei eine zentrale Rolle dadurch einräumte, dass sie insbesondere minder bemittelten sozialen Schichten und der städtischen Arbeiterschaft den Zugang zu Literatur und Bildung eröffnen sollte. In der bis dahin üblichen bibliothekarischen Praxis erkannte Hofmann insofern einen erheblichen Reformbedarf, als die Volksbüchereien ihr Ziel in einer „verbreitenden Kulturversorgung” breiter Bevölkerungsschichten sahen. Dagegen stellte Hofmann die individuelle, auf die Bedürfnisse des einzelnen Lesers abgestimmte Lektürevermittlung in den Mittelpunkt seines Volksbildungsansatzes. In seiner Konzeption hatte der Bibliothekar gegenüber dem Leser folglich eine beratende, aufklärende und auswählende Funktion zu übernehmen; die Selbstbildung sollte mithin nicht mehr allein der Literaturrezeption (Buch, Zeitschrift) überlassen bleiben, sondern gezielt durch die Bibliothek angeregt, gefördert oder auch angeleitet werden: Das Konzept räumte dem Bibliothekar somit eine Schlüsselstellung als Vermittler zur Literatur ein, und in dieser Funktion hatte er auch eine erzieherische Aufgabe zu leisten. Ihr Ziel sollte es sein, dem „Laienleser” den Weg zu solchen Bildungsstoffen zu weisen, mit denen dieser seine — ihm selbst zumeist verborgene — „geistig-seelische Gestalt” entfalten konnte. Aus dem hier nur knapp angedeuteten Zusammenhang wird die Bedeutung einer systematischen empirischen Leserforschung verständlich, die Hofmann schon in der „Freien öffentlichen Bibliothek” in Dresden-Plauen begann und die ihm in der Historiographie der
frühen empirischen Sozialforschung in Deutschland eine bedeutende Stellung einbringen sollte:15 Diese Forschung sollte Erkenntnisse über die „Gestalt” des Lesers, d. h. seiner Lesemotive und -interessen bereitstellen, um seine Vorlieben und Erwartungen zu verstehen, ihn angemessen beraten und ihm bei der Buchauswahl behilflich sein zu können.

Es waren wohl gleichermaßen diese Konzeption, der bibliothekarische Erfolg, den Hofmann mit der „Freien Öffentliche Bibliothek” in Dresden-Plauen erzielte, und das Renommee, das er sich inzwischen als Bibliothekar erworben hatte, die den Ausschlag dafür gaben, dass die Stadt Leipzig ihn 1912 beauftragte, ein öffentliches Bibliotheksnetz zu konzipieren und aufzubauen. Die 1. Leipziger Bücherhalle 1914 wurde eröffnet; bis 1929 folgten ihr drei weitere Städtische Bücherhallen.16 Ebenfalls 1914 gründete Hofmann die Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen sowie ferner die erste deutsche Fachschule für Bibliothekarsausbildung (später: Deutsche Volksbüchereischule). Nach dem Ende des l. Weltkriegs folgte 1922 die Einrichtung eines ,Einkaufshauses für Volksbüchereien’. Durch diesen systematischen Ausbäu hatte Hofmann Leipzig zu einem Zentrum des volkstümlichen Büchereiwesens entwickelt. Es fand seinen Höhepunkt mit dem Institut für Leser- und Schrifttumskunde (ILS), das am 1. April 1926 als eine Abteilung der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen eröffnet und von Hofmann nebenamtlich geleitet wurde.” Der sog. Forschungsabteilung des Instituts oblag es, anwendungsbezogene leser- und buchkundliche Untersuchungen vorzunehmen. Auf ihrer Grundlage wiederum sollte eine Systematik erarbeitet werden, mit deren Hilfe der Buchbestand in den deutschen Volksbibliotheken neu geordnet und gepflegt werden sollte: Dieses „Leipziger Katalogwerk” sollte dem „Volksbildner” künftig das „für den geistigen Aufbau seiner Bücherei unentbehrliche bibliographisch-literarische Rüstzeug” bieten.
So anerkannt diese organisatorische Leistung von Hofmann war, so umstritten galten die normativen Dimensionen seiner Büchereipolitik. Die Werthaltung, die in ihr zum Ausdruck kam, charakterisierte der Buchwissenschaftler Heinz Steinberg nicht ganz zu Unrecht als eine dogmatisch verbissene “konservative Entrüstung”. Steinberg führte dazu weiter aus: „Die blendende Rationalität seines bedeutenden Organisationstalents verdeckt kaum den Irrationalismus, mit dem [Hofmann] sendungsbewusst seine ,erweckten’ Anhänger faszinierte. Gesund, volkstümlich, national-moralisch waren Kategorien, mit denen er ,echtbürtiges Schrifttum’ erfasste, und nie scheinen ihm Zweifel an ihrer absoluten Gültigkeit gekommen zu sein. Wie er ,deutsche Schöpferkraft’ der ,verluderten’ Welt entgegenstellte, so die ,volksaristokratische’ deutsche Bücherei dem mechanischen Massenbetrieb der amerikanischen ,Warenhausbücherei’ oder kurz die ,Kulturbücherei’ der ,Zivilisationsbücherei’.”

Leserforschung

Mit dem ILS war eine Einrichtung entstanden, in der erstmals in Deutschland eine systematische (Buch-) Leserforschung betrieben wurde.20 Ihre wichtigste Datenbasis bildeten die Ausleihstatistik der Städtischen Bücherhallen zu Leipzig sowie regelmäßige, jedoch nicht standardisierte Beobachtungen des Ausleih- und Lesverhaltens der Bibliotheksbenutzer, wozu Hofmann seine bibliothekarischen Mitarbeiter anhielt. Einen entscheidenden methodischen Fortschritt hatte Hofmann in die Leserforschung dadurch gebracht, dass er die Datenerhebung individualisierte. Schon während seiner Tätigkeit als Leiter der „Freien Öffentlichen Bibliothek” in Dresden-Plauen hatte er dazu das
sog. Leseheft eingeführt und jeden Bibliotheksbenutzer ermuntert, in „sein” Heft sein Alter, Geschlecht und seinen sozialen Status (Beruf) sowie dann fortlaufend die Autoren und Titel der von ihm selbst entliehenen bzw. gelesenen Bücher einzutragen. In Leipzig modifizierte Hofmann dieses Erhebungsinstrument durch das sog. Leseprotokoll. Es war ähnlich angelegt wie das Leseheft, wurde jedoch von der Bibliothek für jeden Leser geführt, verzeichnete seine soziodemographischen Grunddaten, „protokollierte” jede seiner Buchausleihen sowie — das war die wichtige Neuerung — in einem Stichwort, wie der Leser das jeweils entliehene/gelesene Buch oder seinen Leseeindruck bewertete. Bis 1930 waren in den Städtischen Bücherhallen auf diese Weise für rund 50 000 Bibliotheksbenutzer derartige Protokolle angefertigt worden. Dieser systematisch angelegte Datenbestand bildete die empirische Grundlage für zahllose Analysereihen, mit denen Hofmann versuchte, zu einer Typologie und über sie zu einer Theorie des Buchleseverhaltens zu gelangen.

Bei seinen Leseranalysen ging Hofmann von der Annahme aus, dass sich die subjektiven Leseinteressen des Bibliotheksbenutzers in dem ausgeliehenen bzw. gelesenen Buch manifestierten, in dem von Hofmann so bezeichneten „Interessenvollzug”, wobei er die Ausleihkontinuität und -frequenz als Indikatoren für die „Ausprägung” oder „Stärke” eines Leseinteresses ansah, bspw. für eine bestimmte Literaturgattung, ein Thema/Themenfeld oder einen Autor bzw. eine Autorengruppe. Von dem solchermaßen hermeneutisch konstruierten Leseinteresse schloss er in einem zweiten induktiven Schritt auf die individuellen Lesebedürfnisse oder -motive. Die methodologische Problematik dieses Verfahrens war Hofmann durchaus bewusst. Es sei schon äußerst kompliziert, ein Buch eindeutig einem bestimmten Interessenkomplex zuzuordnen, meinte er, denn für die Buchausleihe könnten ganz unterschiedliche Gründe bestimmend sein. Darüber hinaus sei jedes Buch „ein vieldimensionaler Mikrokosmos, zu dem die allerverschiedensten Zugangswege der Interessen führen.” Deshalb sage „der einfache ‚Griff zum Buche’, also die Entleihung in der Bücherei, absolut nichts aus über die Qualität des Interesses, über das besondere Motiv, das zu dieser Entleihung führte.” Trotzdem lehnte es Hofmann ab, mündliche oder schriftliche Befragungen unter den Bibliotheksbenutzem vorzunehmen, also das von ihm verwendete hermeneutische Verfahren durch eine empirisch-reaktive Methode zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen, da er diese methodologisch als noch riskanter einschätzte als sein eigenes Verfahren. Vielmehr verlegte er sich auf eine äußerst diffizile Datenauswertung und -interpretation, die die soziodemographischen und die Ausleihdaten der Bibliotheksbenutzer in unterschiedlichen Dimensionen miteinander kombinierte. Auf diesem Weg gelangte er jedoch zu bemerkenswerten Erkenntnissen über die Einflussfaktoren der Buchnutzung bzw. -lektüre, die auch heute in der Kommunikationswissenschaft als zentrale Determinanten der Mediennutzung gelten.

Im Zentrum von Hofmanns Interesse stand anfangs die Frage, welchen Einfluss die sozial-positionellen Merkmale des Lesers auf seine Lektürepräferenzen und -intensität ausüben. Dabei fand er heraus, dass das Geschlecht, das Alter, die formale Bildung und, damit zumeist korrelierend, der soziale Status diejenigen Merkmale bildeten, die das Ausleihverhalten stark beeinflussten. Bemerkenswert war darüber hinaus seine Erkenntnis, dass sich über eine Kombination dieser soziodemographischen Merkmale soziale Milieus, sog. „Lebenskreise”, konstruieren ließen, aus denen erst die unterschiedlichen Muster von Leserverhalten erkennbar und verständlich wurden. Schon 1924 hielt Hofmann fest: „Unmittelbare Beobachtung und intuitive Einfühlung, aber auch exakte Feststellungen mit Hilfe neuer statistischer Methoden haben gezeigt, dass Alter, Geschlecht und soziale Stellung die soziologischen und biologischen Faktoren sind, die zur Bildung von ,Lebenskreisen’ mit ganz bestimmter geistiger Haltung, mit ganz bestimmten geistig-seelischen Möglichkeiten führen. Und zwar entstehen diese Lebenskreise durch das Zusammenwirken dieser drei Faktoren. Es entsteht also nicht der Lebenskreis des Arbeiters, des Jugendlichen, der Frau usw., sondern es entsteht der Lebenskreis des jugendlichen männlichen Arbeiters, der erwachsenen Frau des bürgerlichen Mittelstandes, des erwachsenen männlichen Arbeiters, usw.”

Doch eine Sozialtypologie des Buchnutzungsverhaltens entsprach nicht der Komplexität von Hofmanns Erkenntnisinteresse, zumal er rasch zu der Einsicht gelangt war, dass die mit Hilfe der genannten Merkmale konstruierten Lesergruppen noch keine Typen abbildeten, da diese Gruppen in sich wiederum ganz unterschiedlich ausgeprägte sog. Gruppentypen umfassten. Folglich verlagerte sich sein Erkenntnisinteresse immer mehr von den Lektürepräferenzen und der Leseintensität auf die subjektiven Leseinteressen als dem zentralen Kriterium der von ihm gesuchten Lesertypologie. Die wichtigste Frage der Leserkunde bzw. -forschung, so brachte er sein Interesse auf den Punkt, richte sich darauf, „was die Leser eigentlich bewegt, wenn sie z. B. die öffentliche Bibliothek aufsuchen und dort, oft mit größter Beharrlichkeit, zugleich aber auch mit dunkler, unklarer, nur gesammelter Motivierung, sich der Bücherwelt zuwenden. Leserkunde, wenn sie an die entscheidenden Lebenstatsachen der Leser herankommen will, muß vor allem Interessenkunde sein.” Aus der disziplinhistorischen Perspektive der Kommunikationswissenschaft war diese Forschungsarbeit insofern aufschlussreich, als Hofmann seine theoretische und methodologische Konzeption und ihre Annahmen in einer Reihe von Aufsätzen u. a. zur Theorie der Interessen und zur leserkundlichen Typologie darlegte, die sein Verständnis derjenigen Faktoren, die die Buchnutzung beeinflussen, verhältnismäßig klar offen legen und sich als Konturen einer Lesetheorie beschreiben lassen.

Ihren Ausgangspunkt bildete die Annahme, wonach die subjektiven Leseinteressen oder -motive einerseits aus nicht materiellen Bedürfnissen, den sog. geistig-seelischen Lebensantrieben, resultieren, die im Charakter des Menschen verankert sind. Andererseits werden diese Interessen durch den sozialen „Lebenskreis” des Menschen strukturiert, d. h. durch seine sozial-positionellen Merkmale wie Geschlecht, Alter, formale Bildung und sozialer Status. Die Kategorie „Lebenskreis” umschrieb Hofmann allerdings nur sehr vage; man kann unter ihr annäherungsweise am ehesten noch ein durch die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die soziale und/oder familiäre Rolle strukturiertes Milieu verstehen, für das je spezifische, für die Buchnutzung (Präferenzen, Leseintensität) relevante Werthaltungen charakteristisch sind. Subjektive Interessen bilden sich nach Hofmanns Argumentation stets durch einen wechselseitigen Prozess zwischen „Lebensantrieben” und „Lebenskreis” aus. Dem Leser bzw. nun speziell dem Bibliotheksbenutzer, so nahm er weiter an, ist i. d. R. weder dieser Prozess bewusst, noch hat er die Substanz seiner Interessen notwendigerweise rationalisiert. Vielmehr handele es sich häufig um vage, bspw. inhaltlich-thematische oder stoffliche „Motive”, die wiederum die Suche nach einer Befriedigung auslösten. Unter der absichtsvollen Abwägung zwischen verschiedenen (auch medialen) Möglichkeiten führe diese Suche zu der Entscheidung, das subjektive Interesse durch die Lektüre eines Buches („Leselust”) zu befriedigen und dazu eine (Volks-) Bibliothek aufzusuchen, um sich ein entsprechendes Buch auszuleihen und zu lesen.

Der Bibliothekar habe die Aufgabe, diesen aktiven, aber nicht notwendigerweise sich seiner eigenen Interessen eindeutig bewussten Leser derart zu beraten, dass er das Buch oder Literaturgebiet findet, mit dem er seine Interessen angemessen befriedigen kann. Dabei bedingen Umfang und Zusammensetzung des Bibliotheksbestandes (Buchangebot) die Auswahlentscheidung. Die Auswahlberatung setze beim Bibliothekar vielfältige Kenntnisse und Erfahrungen über das generelle Ausleihverhalten in (Volks-) Bibliotheken voraus, die er aus der Leserforschung, aus eigenen Beobachtungen sowie aus „Intuition” erlangen kann. Eine sinnvolle Leserberatung setze die Verständigung mit dem Leser voraus und die als ein wechselseitiger Prozess gedachte Verständigung sei nur möglich durch eine „gemeinsame Sprache”, einen gemeinsamen Vorrat von Bedeutungen.’ Der beschriebene Weg zum Lesen basiert mithin auf einem mehrstufigen und mehrdimensionalen Auswahlprozess, in dem die Interessenidentifikation und die aus ihr folgende Buchauswahl durch Kommunikation (Verständigung) zwischen Leser und Bibliothekar unterstützt oder sogar erst erreicht werden (vgl. Abb. l). In dieser eingegrenzten Hinsicht kann man die Lese-Konzeption von Hofmann durchaus als einen sozialen Prozess verstehen, aus dem jedoch der Einfluss von wichtigen gesellschaftlich-strukturellen Faktoren wie etwa die Freizeit- und die übrigen Medienangebote ausgeblendet blieben. Ferner muss hervorgehoben werden, dass dieser Prozess selbst und seine Dynamik keine Untersuchungsgegenstände im ILS bildeten.

Die erste groß angelegte Leseranalyse des ILS erschien 1931 unter dem Titel „Lektüre der Frau”.2 Ihre Bedeutung lag in dem — auch Hofmann überraschenden — Befund, dass die Lektürevorlieben von Arbeiterinnen und von bürgerlichen Hausfrauen/-töchtern weitgehend übereinstimmten. Kommunikationsgeschichtlich bemerkenswert war darüber hinaus, dass es Hofmann gelang, mit seinem empirischen Verfahren diese „Interessenidentität” auf ein geschlechtsspezifisches Eskapismusbedürfnis zurückzuführen, das Schichten-bzw. „Lebenskreis”-unabhängig in Büchern solche Gratifikationen suchte und offenbar auch fand, die ein ganz bestimmtes nostalgisches Welt- und Menschenbild reproduzierten: 70 Prozent der Bücher, die sowohl die Arbeiterinnen als auch die bürgerlichen Hausfrauen/-töchtern aus den Städtischen Bücherhallen entliehen hatten, waren in den Bereich der „Erzählenden Literatur” entfallen. Von ihr wiederum waren die weitaus meisten der “neuromantischen Heimatkunstbewegung” zuzuordnen.

Als Bibliothekar wie als Leserforscher war Walter Hofmann ein Autodidakt. In seinen veröffentlichten Studien und unveröffentlichten Manuskripten finden sich allerdings nur spärliche Hinweise auf seine intellektuellen Quellen, und folglich lassen sich diese lediglich in wenigen Fällen verlässlich identifizieren. Verhältnismäßig gut nachvollziehen lässt sich der Einfluss, den die Individuationstheorie von Wilhelm Dilthey auf Hofmanns Denken und insbesondere auf seine Annahme von der Bedeutung der subjektiven Interessen bzw. Motive des Lesers ausübte. Dass sich Hofmanns Erkenntnisinteresse von den Lektürevorlieben und der Leseintensität auf die subjektiven Leseinteressen als dem entscheidenden Kriterium der Lesertypologie verlagerte, kann man ferner einigermaßen gesichert auf sein Studium von Diltheys Lehre über die Grundformen (Typen) der Individuation und von Eduard Sprangers Lehre von den idealen Grundtypen der Individualität zurückführen.3 Vergleichbare Belege für einen Einfluss von Theodor Litt auf das Denken von Hofmann finden sich hingegen nicht. Denkbar ist allerdings, dass Litts Lehre von den Ausdrucksbewegungen, insbesondere von ihrer Reziprozität, und der durch einen sprachlich-symbolischen Austausch hergestellten Verständigung4 Walter Hofmann nicht nur bekannt war, sondern darüber hinaus auch für das zentrale Element seiner Lesekonzeption, nämlich die nur durch eine sprachlich-symbolische Verständigung zwischen dem Leser und dem Bibliothekar ermöglichte bzw. geförderte Buchauswahl, genau jenen zentralen Denkansatz bildete, mit dem sich sein Erfahrungswissen, das er aus der bibliothekari-schen Praxis gewonnen hatte, theoretisch fundieren und absichern ließ.

Anfänge einer Zusammenarbeit

Lässt sich mithin ein kognitiver Einfluss von Theodor Litt auf das lesetheoretische Denken von Walter Hofmann nicht valide nachweisen, so tritt Lifts Bedeutung als ideeller Förderer von Hofmann, als Förderer seines „Leipziger Büchereiwerk” und nicht zuletzt seiner Leserforschung aus den Quellen greifbarer hervor. Diese Bedeutung wurde offenkundig, nachdem das ILS 1931 aus der Verantwortung der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Bibliothekswesen herausgelöst und in die Zuständigkeit eines neu geschaffenen Trägervereins übertragen wurde. Die Gründungsversammlung des Vereins am 13. März 1931 in Leipzig wählte den Kölner Büchereidirektor Rudolf Reuter zum Vorsitzenden und ernannte Walter Hofmann „unwiderruf-bar” zum unkündbaren Institutsleiter. Als Verwaltungs- und Beratungsgremium für das Institut richtete der Verein einen Institutsrat ein, der sich aus Vertretern der öffentlichen Hand, des Buch- und Bibliothekswesens, der Volksbildungsbewegung und der Universität Leipzig zusammensetzte. Diesem Rat oblag es, „die sachgemäße Führung des Instituts zu gewährleisten”, seine Mittelbewirtschaftung zu beaufsichtigen und es „mit dem öffentlichen, wissenschaftlichen, bibliothekarischen und sozialpädagogischen Leben zu ver-binden”. Zu den Mitgliedern des Gremiums gehörten die Universitätsprofessoren Alfred Doren (Wirtschaftsgeschichte), Hans Freyer (Soziologie), Felix Krüger (Entwicklungspsychologie) und Theodor Litt, ferner Gerhard Menz, der an der Handelshochschule Leipzig eine ao. Professur für Buchbetriebslehre innehatte. Das Bibliothekswesens und die Buchwirtschaft waren u. a. durch Otto Glauning, den Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, sowie durch Paul Blaschke (Brockhaus Verlag) und Albert Max Hess (Generaldirektor des Börsenvereins des deutschen Buchhandels) vertreten; den Vorsitz übernahm der Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler.
Vier Monate nach der Neuorganisation des ILS verlieh die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig an Walter Hofmann die Ehrendoktorwürde. Den Antrag hatten Theodor Litt und Otto Glauning gestellt. In seinem Gutachten hob Litt zunächst die volksbibliothekarischen Leistungen des Laurea-ten hervor: „Ausgehend von einer wohldurchdachten und vortrefflich organisierten Praxis, hat er die Grundsätze und Verfahrensweisen dieses Zweiges der Bildungsarbeit in einer Reihe von Schriften geklärt und in durchaus originaler Weise begründet. Das Büchereiwesen der Stadt Leipzig ist durch sein Wirken zu hoher Blüte entwickelt worden. In einer aus allen Teilen Deutschlands besuchten Bibliotheksschule hat er bereits eine große Zahl von jüngeren Menschen im Sinne seiner Grundsätze zur bibliothekarischen Praxis herangebildet.” Die Auszeichnung sollte jedoch nicht allein dem Volksbibliothekar Hofmann gelten, auch seine wissenschaftlichen Leistungen sollten gewürdigt werden. Dazu führte Litt in seinem Gutachten weiter aus, Hofmann habe „durch sein Buch ,Die Lektüre der Frau’ den Beweis geliefert, dass er auch fähig ist, die soziologische und psychologische Forschungsarbeit durch gründliche selbständige Untersuchungen von wissenschaftlichem Rang zu bereichem.” In einem Schreiben vom 20. Juli 1931 teilte Hans Driesch, der Dekan der Philosophischen Fakultät, Walter Hofmann die Ernennung zum Ehrendoktor mit.

In dieser Ehrenpromotion kam gewiss die erwachsenenpädagogische und wissenschaftliche Wertschätzung zum Ausdruck, die Theodor Litt zu Beginn der 1930er Jahre Walter Hofmann entgegen brachte. Die außergewöhnliche Auszeichnung lässt vermuten, dass die Beziehung zwischen Litt und Hofmann zu dieser Zeit eine über ihre geschäftsmäßige Verbindung auf der Ebene des Institutsrates hinausgehende persönliche Qualität besaß, so dass man die offensichtlich von Litt initiierte Ehrenpromotion auch als das Zeichen einer Zuneigung zu Hofmann verstehen kann, der im menschlichen Umgang als ziemlich problematisch galt.10 Das verbindende Element zwischen den —vor allen aus Hofmanns Sicht — ungleichen Persönlichkeiten aus zwei gesellschaftlich ganz unterschiedlichen Welten, dem nicht examinierten und wegen seiner büchereipolitischen Dogmatik nicht unumstrittenen Volksbibliothekar und autodidaktischen Leserforscher einerseits und dem renommierten Universitätsprofessor und Rector magnificus der Universität Leipzig auf der anderen Seite, war dabei zweifellos das herausragende Engagement, das beide, jeder auf seine Weise, in eine systematische Verbesserung der freien außerschulischen Volksbildung investierten. Es liegt nahe anzunehmen, dass Litt in diesem Zusammenhang den wissenschaftlichen Stellenwert von Hofmanns empirischer Leserforschung sowie ihres Anwendungspotentials für die praktische Volksbildungsarbeit hoch einschätzte und sich deshalb bemühte, ihr zu einer breiteren, auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu verhelfen, als sie bis dahin besaß. So gesehen, kann man die Initiative von Litt auch als eine ideelle Förderung des ILS verstehen, deren längerfristiges Ziel es möglicherweise war, ihm den Weg für eine forschungsorientierte Zusammenarbeit mit der Universität zu bereiten.

Dafür schienen die Auspizien nach der Neuorganisation des ILS viel versprechend. Zu dieser Zeit genoss Hofmann als Volksbibliothekar und Leserforscher eine beachtenswerte internationale Reputation. 1930 war er zum Präsidenten des Internationalen Büchereikomitees im Weltbund für Erwachsenenbildung (London) gewählt worden. Ferner führte Hofmann mit dem amerikanischen Bibliothekswissenschaftler Douglas Waples eine international vergleichende Leserbefragung durch, als sich dieser Ende 1931 im Rahmen eines Forschungsstipendiums mehrere Monate in Leipzig aufhielt» Nachdem Hofmanns Buch ,Die Lektüre der Frau’ erschienen war, würdigte Waples, einer der renommierten Gründungsprofessoren der 1928 an der University of Chicago eröffneten Graduate Library School, die Studie an einer fachlichwis-senschaftlich prominenten Stelle in den Vereinigten Staaten ungewöhnlich ausführlich und wies in seinen folgenden Veröffentlichungen immer wieder auf die Bedeutung des Leipziger Leserforschers hin. Andererseits stellte Hofmann, offenbar ermuntert durch den Impuls von Litt, dem Institut für Zeitungskunde der Universität Leipzig 1932 umfangreiches Datenmaterial aus seinen Leseranalysen zur Verfügung — wahrscheinlich mit dem Ziel, in diesem Fach eine Erörterung von Fragen des (Buch-) Leseforschung und ihre denkbare Erweiterung auf die Medien Zeitung und Zeitschrift anzuregen und eine diesbezügliche Zusammenarbeit mit dem ISL zu stimulieren»

In diesem Zusammenhang sollte man außerdem die Mitwirkung von Hofmann an der von Theodor Litt, Eduard Spranger, Hermann Nohl und Aloys Fischer herausgegebenen Fachzeitschrift Die Erziehung sehen, die nach der Vereinsgründung begann. Litt beabsichtige offenbar, Hofmann das Periodikum als Forum zugänglich zu machen, um sein Volksbildungs- und Bibliothekskonzept einem breiteren Interessentenkreis in der wissenschaftlichen und praktischen Pädagogik vorzustellen. Jedenfalls veröffentlichte die Zeitschrift 1932 gleich zwei strategisch geschickt platzierte Aufsätze, die auf die Relevanz des Instituts für Leser- und Schrifttumskunde und der Städtischen Bücherhallen zu Leipzig aufmerksam machten. In seinem Aufsatz über das Verhältnis von „Wissenschaftlicher Bibliothek und Laienbücherei” plädierte Hofmann für die Autonomie der Volksbibliothek, wofür in erster Linie ihre besondere Orientierungs- und Vermittlungsleistungen für den „Laienleser” sprächen, die von der wissenschaftlichen Bibliothek nicht erbracht würden. Konsequenterweise hob Hofmann hervor, wie notwendig dafür eine systematische volksbibliothekarische Ausbildung sei, da erst sie die entscheidende Grundlage schaffe für eine individuelle Beratung und Literaturvermittlung, die den Bedürfnissen und den Interessen des „Laienlesers” gerecht werden. Im zweiten Aufsatz würdigte Georg Koch, der Direktor der Universitätsbibliothek Gießen, die Leserforschung des ILS aus einer neuen, bis dahin nicht thematisierten Perspektive, indem er den Studien von Walter Hofmann einen bedeutsamen Stellenwert für die Entwicklung einer akademischen Volkskunde zuwies.

Noch ehe solche Perspektiven und eine intensivere Zusammenarbeit auch zwischen Litt und Hofmann zu greifbaren Ergebnissen führten,I6 machte die nationalsozialistische Machtergreifung dem ein rasches Ende. Ganz im Gegensatz zu Theodor Uni’ verhielt sich Hofmann gegenüber dem NS-Regime äußerst widersprüchlich. Hatte er noch im Laufe des Jahres 1933 versucht, die schlimmsten Folgen der unmittelbar nach Hitlers Regierungsantritt verhängten „Bibliothekssäuberungen” in den Städtischen Bücherhallen zu verhindern, zumindest jedoch hinaus zu zögern, ließ er sich in der Frage, wie das Institut für Leser- und Schrifttumskunde unter den neuen politischen Verhältnissen zu organisieren sei, auf eine riskante Paktiererei mit den nationalsozialistischen Machthabern ein. Sie endete noch 1933 mit der Eingliederung des ILS in NS-Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums von Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg. Durch die nicht zum geringsten von Hofmann selbst herbeigeführte ideologische Überformung seines Instituts hatte er zugleich den theoretischen und methodischen Verfall der (Buch-) Leserforschung eingeleitet. Nachdem Carl Goerdeler, der bis dahin seine Hände über das Institut hielt und mit Hofmann freundschaftlich verbunden war, am 2. Dezember 1936 seinen Rücktritt als Leipziger Oberbürgermeister erklärte, wurde Hofmann im Februar 1937 aus seinen Positionen als Direktor der Städtischen Bücherhallen und als ILS-Leiter gedrängt. Erst danach scheint es wieder zu einer Annäherung zwischen ihm und Theodor Litt gekommen zu sein, der seit 1934 faktisch mit einem Vorlesungsverbot belegt war. Ein halbes Jahr bevor Litt, zermürbt durch den gegen ihn gerichteten Terror der NS-Studentenschaft und die Behinderungen durch die Wissenschaftsbürokratie im Oktober 1937 seine vorzeitige Emeritierung beantragte, beschrieb er in einem Brief an Hofmann klar und weitsichtig die verheerenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik auf die wissenschaftliche Pädagogik und die Volksbildungsarbeit. Er sei überzeugt, so resümierte Litt tief resigniert, „dass alle Bemühungen, die wir, an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Wegen, dem Ganzen der deutschen Bildung zugewandt haben, aufs Ganze gesehen vollkommen nutzlos gewesen sind. Die Zerstörungsarbeit, die heute in allen Stockwerken des Bildungsgebäudes verrichtet wird, ist gründlich, vor allem weil sie den Charakter er-faßt.” Und es klang fast wie ein Abschied, als Litt, gleichwohl aufmunternd, schloss, Hofmann solle sich dennoch seinen Arbeits- und Lebensmut bewahren.

Freundschaftliche Verbundenheit aus der Distanz

Erst nach dem Ende der Diktatur und des 2. Weltkriegs fanden Hofmann und Litt wieder zueinander. Das dokumentiert ihr Briefwechsel, der für die Jahre nach Hofmanns Rückkehr aus der Tschechoslowakei, wohin er in Folge der Kriegsereignisse umgesiedelt war, bis zu Hofmanns Tod 1952 in Markkleeberg bei Leipzig überliefert ist. Nachdem Litt 1947 an die Universität Bonn wechselte, wurde dieser persönliche Austausch aus der Distanz und über die deutsch-deutsche Grenze hinweg freundschaftlich und zugleich melancholisch. Er galt einer retrospektiven Selbstvergewisserung der Ideale und Ideen und der in ihnen gesuchten Identitätsbewahrung einer Generation, die sich durch die Diktatur um wichtige Früchte ihrer volksbildnerischen und wissenschaftlichen Arbeit gebracht sah und sich noch die Illusion machte, die verheerende Tabula rasa, die das nationalsozialistische Regime in Deutschland hinterlassen hatte, mit diesen Idealen und Ideen überwinden zu können.
Den Ausgangspunkt dazu bildete ein Buch über Hofmanns Jugenderinnerungen, an dem er seit seiner Entlassung als Direktor der Städtischen Bücherhallen und des ILS arbeitete. Nachdem das Buch 1948 unter dem Titel „Mit Grabstichel und Feder” erschien,22 sandte Hofmann Anfang Mai ein Exemplar nach Bonn. Schon zwei Monate später schrieb Litt über das Interesse, mit dem er Hofmanns Erinnerungen gelesen hatte: „Was Sie darstellen, das ist ja ein persönliches Wachstum inmitten einer Epoche, in der auch ich gross geworden bin, und es ist ungemein lehrreich, die Antworten zu vergleichen, die Sie den Forderungen und Anregungen der Zeit erteilt haben. Im Grunde sind Sie viel früher erwacht als ich, der in der Hut scheinbar [unleserlich] Bürgerlichkeit Herangewachsene. In Ihrer sehr eindrucksvollen Darstellung fesselt ebenso sehr das Bild des Menschen, von dem sie berichten, wie das Bild der Epoche, mit der dieser Mensch sich auseinanderzusetzen hatte. Ich bin sicher, dass auch Ihnen selbst diese Rekapitulation des eigenen Werdegangs ein hoher Genuss gewesen ist. Melancholisch dabei der Gedanke: es ist eine versinkende Welt, die nun gross gezogen hat.”

Wie wichtig dieses Urteil von Litt für Hofmanns Selbstvergewisserung war und welche enorme Bedeutung die Bestätigung und Anerkennung durch den Gelehrten für den aus dem Handwerkerstand hervorgegangenen Autodidakten besaß, lässt sich nur erahnen, als Hofmann bald danach Litt antwortete: „Ich habe während der Niederschrift meiner Erinnerungen mir immer wieder die Frage vorgelegt: wie wird ein Mann wie Theodor Litt, der Philosoph, der Pädagoge und der unbestechliche Kritiker dieses Opus beurteilen? Und nicht immer war ich davon überzeugt, daß die Beurteilung positiv ausfallen wür-de.”24 Litts Urteil gewann für Hofmann offensichtlich immer größere Bedeutung, als dieser in seinen letzten Lebensjahren an der Fortsetzung seiner Lebenserinnerungen schrieb.25 Jedenfalls sandte er immer wieder Teile seines Manuskripts an Theodor Litt, und dessen Einschätzungen und Ermunterungen, vor allem aber das von Litt zum Ausdruck gebrachte, gemeinsame Lebensgefühl ihrer Generation waren für Hofmann offenbar das Elixier, das ihn motivierte, die Niederschrift seiner Erinnerungen fortzuführen. Nur wenige Wochen vor Hofmanns Tod bekräftigte Litt noch einmal: „Ich habe auch stark die innere Bewegung mitempfunden, die Sie beim Heraufbeschwören und Gestalten dieser Erinnerungen ergriffen hat. Jeder, der auf dem Felde der deutschen Erziehungswirklichkeit verantwortlich tätig war, kennt die Stimmung tiefer Resignation, die im Rückblick auf die eigenen Anläufe das Gemüt erfüllt. Trotzdem wird man nichts von dem bereuen oder auch nur unnütz fmden, was man in redlichem Streben versucht hat. Ich denke, dass auch Ihnen so zu Mute ist, wenn Sie Bilanz ziehen.”

Ein kurzes, aber eindrückliches Zeugnis der Wertschätzung für die volksbildnerischen und -bibliothekarischen Verdienste von Hofmann ließ ihm Theodor Litt 1951 zuteil werden. Als der Kölner Bibliotheksdirektor Rudolf Reuter einen umfänglichen Band mit Aufsätzen und Reden zu Bücherpolitik und Leserforschung seines ehemaligen Lehrers Walter Hofmann besorgte, steuerte Litt ein Geleitwort zu dieser Edition bei, in dem er eindringlich die Stichhaltigkeit, Aktualität und Gültigkeit von Hofmanns „gestaltendem” Volksbildungskonzept beschwor: „Wann hätte der Bildungsdrang des einzelnen, im Massendasein verlorenen Menschen so sehr der Hilfe und Beratung bedurft, die er bei dem im Sinne von Hofmanns ausgebildeten Bücherkundigen finden sollte, wie gerade heute, da das allgemeine Leben so sehr der richtenden und ordnenden Kräfte verlustig gegangen ist? Wenn wir recht daran tun, in dem Schrifttum der Nation eine der Quellen zu erblicken, aus denen ein tief gebeugtes Volk wieder den Mut zum Leben und das Vertrauen zu sich selbst trinken kann, dann werden wir auch den Ratschlägen, mit denen Walter Hofmann seit Jahrzehnten die Pflege dieses Schrifttums begleitet, die ihnen gebührende Achtung entgegenbringen.”

Das Manuskript seines Geleitwortes hatte Litt im Dezember 1950 als ein „vorweihnachtliches Geschenk” nach Leipzig gesandt. Für Hofmann war es ein ungemein wichtiges Geschenk, weil es den Vorwurf der verbissenen Dogmatik seines volksbibliothekarischen Konzeptes entkräftete, an dem er offenbar bis in seinen Lebensabend schwer trug. Er antwortete Litt: „So oft ich auch versucht habe, Idee und Sinn der Volksbücherei zu formulieren, so hätte ich nicht geglaubt, daß das Entscheidende in so kurzen Worten gesagt werden könnte: der einzelne im Massendasein verlorene Mensch und das allgemeine Leben, das so sehr der richtenden und ordnenden Kräfte verlustig gegangen ist! Es macht mich glücklich, daß Sie in diesen einfachen und großen Zusammenhang meine vielfältigen Bemühungen hineingestellt und sie damit vor dem naheliegenden Verdacht methodisch-pädagogischer Verranntheit des Fachmannes geschützt haben.”

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