Skip to content
Kategorien
Forschung

Alfred Baeumler: Begegnung mit Theodor Litt’27 min read

Solveig Dittrich
Alfred Baeumler: Begegnung mit Theodor Litt’
Eine „kritische” Erwiderung auf Litts „Der deutsche Geist und das Christentum”

Theodor Litts 1938 erschienene Gegenschrift zu Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit” stellte eine der wenigen Auseinandersetzungen mit dem Grundlagenwerk der nationalsozialistischen Weltanschauung dar, die auf einem rein wissenschaftlichen Diskurs basierte und der offensichtlich zugleich die Intention zur Schaffung eines Diskussionsrahmen zugrunde lag, der sich nicht in den Grenzen der für die nationalsozialistische Wissenschaftsauffassung typischen Maxime „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns” bewegen sollte. So schließt Litts Vorwort mit dem Zitat des Rosenberg-Wortes: “Dem forschenden ehrlichen Gegner wird jeder wirkliche Streiter Respekt bezeugen.”
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie Litts Bemühungen, den „Mythus” wissenschaftlich zu untersuchen und zu widerlegen, auf Seiten der nationalsozialistisch-weltanschaulichen Denker aufgegriffen wurde. Dass hierfür Alfred Baeumlers Aufsatz “Begegnung mit Theodor Litt” das Beispiel bildet, hat mehrere Ursachen: Zum einen erschien Baeumlers “kritische” Stellungnahme in der Zeitschrift „Weltanschauung und Schule” nur einen Monat nach der Veröffentlichung von Litts Buch.Zum anderen spricht das Verhältnis zwischen Baeumler und Rosenberg für eine solche Betrachtung.
Letztgenannter hatte Baeumler im Mai 1933 nicht nur — unter Umgehung aller Berufungsmodalitäten — auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Politische Pädagogik an der Universität Berlin gehoben, zugleich setzte Rosenberg in Baeumler die Hoffnung, dass er der Wissenschaftler sei, „der den Nationalsozialismus als Konsequenz der deutschen Geistesgeschichte interpretieren und der daher auch eine begründete Theorie für nationalsozialistische Bildung und Erziehung erarbeiten konnte.” Dass diese Respektsbekundungen nicht einseitig waren, zeigen unter anderem Baeumlers Aufsatz „Rosenberg der Ghibelline” und seine 1943 als Einzeldruck erschienene Einleitung zu Rosenbergs „Schriften und Reden”.
Ein weiterer Aspekt, der sich zwar nur in einer Fußnote manifestiert, aber für Baeumler von unbedingter Wichtigkeit gewesen sein muss: Rosenberg verweist im “Mythus” auf Baeumlers Buch über Bachofen8 als positive Aufführung des Kampfes der Rassenseele in der Orestie.
Bevor auf die inhaltliche Erwiderung Baeumlers eingegangen werden soll, scheint mir in -einem ersten Schritt eine Betrachtung, wie er Litt „begegnet”, notwendig, zum einen, weil sie charakteristisch für Baeumlers Haltung gegenüber geisteswissenschaftlichen Pädagogen bis etwa 1939 ist, zum anderen, weil dadurch eine grundsätzliche Voreingenommenheit sichtbar wird.
Baeumler beginnt seine Darstellung der „Begegnung mit Theodor Litt” in der für ihn bis dahin typisch desavouierenden Weise:
„Theodor Litt hat von jeher gern den Finger erhoben und sich als Praeceptor Germaniae aufgeführt. (…) Diese Selbsttäuschung scheint der Geistesverfassung jener Klasse von Menschen unabtrennbar zu sein, die immer wieder anderen am hellichten Tage eine Kerze anzuzünden sich gedrungen fühlen.”
Obwohl Baeumlers Text kaum acht Seiten umfasst, ist dieser gespickt mit anmaßenden Formulierungen. Um das deutlich zu machen, sollen hier noch eini ge Beispiele aufgeführt werden, die auch ohne ihren textlichen Zusammenhang Aussage genug sind:
„Ohne zu erröten, setzt uns Litt zunächst einmal den lieben alten Schlager des Liberalismus wie etwas Neues vor.”
„So doziert er [Litt; S.131 denn mit einer Ahnungslosigkeit, die erschütternd zu nennen wäre, wenn sie nicht eben durch den ewig erhobenen Zeigefinger lächerlich wirken würde, über Begriffe, die nach seiner Meinung dem Werke Alfred Rosenbergs zu Grunde liegen.”
„Wenn Litt sich einen Popanz von starren Anklagekomplexen zurecht macht und auf dieses Phantom fleißig einschlägt, so gehört diese Tätigkeit zu den sogenannten Privatvergnügungen.”
Alfred Baeumler beweist anhand der hier ausgewählten Aussagen nicht nur, dass er Theodor Litts Angebot, einer ehrlichen und respektvollen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus, ausschlägt, sondern vielmehr, dass er Litts These der Begegnung, wonach sich nur zwei ebenbürtige Partner wirklich begegnen können, mit seinen herabsetzenden Äußerungen ad absurdum meint zu führen in der Lage sei. Dass er stattdessen nur seine blinde Gläubigkeit an ein menschenverachtendes System zur Schau stellt, sollte ihm bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nicht zu Bewusstsein kommen.
Zum Abschluss dieses Teils der Darstellung soll Baeumlers Urteil über die Quintessenz der Litt’schen Schrift belegt werden:
„Wir wollen uns damit begnügen, abschließend festzustellen, daß Theodor Litt in seiner letzten Schrift uns zwar nichts neues zum Thema gesagt hat, dafür aber so entgegenkommend war, uns unaufgefordert eine vollständige Personalbeschreibung zu überreichen.””
Nach dieser eher in Bezug auf Baeumler aussagekräftigen Charakterisierung soll nun in einem zweiten Schritt die inhaltliche Ebene seines Aufsatzes näher untersucht werden, wobei die Problematik des Rassebegriffs gesondert dargestellt wird. Dies scheint mir insofern berechtigt, als Baeumler in seinen während der NS-Zeit erschienenen Aufsätzen immer deutlicher zu erkennen gibt, dass er Rasse — im Gegensatz zur vorherrschenden Weltanschauung und der naturwissenschaftlichen Einordnung des Begriffes — nicht biologistisch verstanden wissen will.
Zunächst gibt Baeumler eine zusammenfassende Schau der Litt’ schen Schrift wieder, ohne dabei irgendwelche Kritik zu üben. Allerdings geben seine Formulierungen Anlass, auf eben diese einzugehen, weil dem Leser seines Aufsatzes suggeriert wird, dass es sich nicht um Aussagen aus dem „Mythus” handele, sondern um Litts (Fehl)Interpretation. Litt hatte am Anfang seiner wissenschaftlichen Darlegung die Kernaussagen des „Mythus” vorgestellt. Baeumler interpretiert dies um und beginnt seine Ausführung mit einer Unterstellung seitens Litt gegenüber Rosenberg:
„Der Verfasser des ,Mythus’ huldigt nämlich (nach Theodor Litt) der Anschauung, daß am Anbeginn alles geschichtlichen Werdens und Formen-wandels gewisse Werte stehen, die den Charakter der Unveränderlichkeit tragen, ein immer gegenwärtiger Gehalt gleichsam, dem gegenüber es nur zwei Möglichkeiten geben kann: die Erhaltung dieser ursprünglichen Wertfülle oder das Absinken von der Höhe, die sie darstellt.”
Dass diese Huldigung nicht ein Konstrukt ist, sondern anhand von entsprechenden Zitaten aus dem „Mythus” durch Theodor Litt belegt ist, davon ist hier nichts zu lesen. Doch beim Leser — Wie viele werden den „Mythus” oder „Der deutsche Geist und das Christentum” gelesen haben? — entsteht der Eindruck, dass dies ein Produkt der Phantasie Litts sei. Litt hatte mit dieser Feststellung Rosenbergs Auffassung richtig dargestellt. Dies war Baeumler, der die Schriften Rosenbergs sehr gut kannte, bewusst. Denn auch er konstatierte in seiner Rosenberg-Schrift:
„Nicht genug zu bewundern ist die Sicherheit der Intuition, mit der gerade dieser Begriff [Ehre; S.D.] von Rosenberg in den Mittelpunkt der nationalsozialistischen Weltanschauung und Geschichtsdeutung gerückt worden ist. Mit einem Schlage ist die germanische Ordnung der Werte wiederhergestellt, die unter der Wucht fremder Überlieferungen solange verschüttet lag.”
Warum Baeumler also zu einer solch falschen Formulierung kam, darüber soll später — so weit es möglich ist — Aufschluss gegeben werden.
Weiter stellt Baeumler aus der Schrift von Litt heraus, dass „die Frage nach dem Inhalt der christlichen Heilslehre von den Anhängern des ,Mythus’ gar nicht aufgeworfen werde; es genüge ihnen, so meint er [Litt; S.D.], festzustellen, daß der christliche Glaube nicht zu dem ,Urbesitz’ gehöre, mit dem das Germanentum seinen Lebensgang antrat.”
Baeumler meint, dass darin die Kennzeichnung des Begriffes der „Artfremdheit” durch Litt vollzogen sei, die rein naturwissenschaftlich, also biologistisch, determiniert wurde, und das zu Unrecht. Die Empörung Baeumlers gegenüber der Verwendung biologistischer Begriffe mag zu Recht verwundern, zumal sie sich hier gegen Theodor Litt wendet, dem es fern stand, sich philosophischen oder gesellschaftlichen Themen auf diese Art auch nur im Ansatz zu nähern?’ Von da aus skizziert Baeumler Litts Gedankengang über die „Begegnung” zwischen zwei gleichberechtigten Personen in stark verkürzter Weise weiter, um zu der Feststellung zu gelangen, dass Theodor Litt:
„soweit […] den Inhalt eines seiner früheren Bücher („Individuum und Gemeinschaft”) wieder gegeben [hat].”
Litt hatte seine Schrift so strukturiert, dass er von der Begegnung mit “meinesgleichen” über die Begegnung mit dem „Anderen” schließlich zu der Begegnung mit dem „ganz Anderen” nicht nur deren immanente Sinnhaftigkeit, sondern auch die Verquickungen derer, die sich begegnen, aufzeigte. Im vierten Kapitel (Begegnung und Maßstab) hob er die Bedeutung der Begegnung mit dem “Anderen” heraus, denn:
„[r]eicher und reifer werden kann ich nur an dem, dessen Seinsgehalt nicht schon meinem Besitzstand einverleibt ist.”
Litt geht aber über eine bloße Vermehrung des eigenen Besitzstandes durch die Begegnung mit dem „anderen” hinaus, denn er misst diesem auch eine korrigierende Leistung zu:
„Ob und in welcher Hinsicht eine Korrektur nottäte, das kann mir nie zu Bewußtsein kommen, solange ich allem aus dem Wege gehe, was von meinen Maßen abweicht: es kann mir nur in der Anschauung dessen fühlbar werden, was durch seine Anschauung mich der eigenen Fehlsamkeit inne werden läßt.”
Für Baeumler bedeutet diese Erweiterung des Begegnungsbegriffs auf das „Andere” zunächst nur eine:
„kaum merkliche, aber entscheidende Umbiegung des Gedankens in ein besonderes Verhältnis.”
Baeumler führt anschließend seinen Lesern zwei Zitate aus Litts Schrift an, die letzterer wohlüberlegt in solch kraftvolle Worte gefasst hatte, dass sie jedem überzeugten Anhänger der NS-Ideologie ins Gesicht schlagen mussten:
„Am besten aber werde ich in solchem Umgang dann fahren, wenn das Gegenüber deshalb ‚anders’ ist als ich, weil es besser, weil es größer ist als ich. Denn dann werde ich von ihm über den Stand, den ich bereits erreicht habe und den ich, auf mich allein angewiesen, nicht überschreiten könnte, recht eigentlich emporgehoben. Wie vermag doch der Aufblick zu dem, was mehr ist, als ich bin und ja zu werden mir zutrauen dürfte, meine Kraft zu verzehnfachen und mir Leistungen zu entlocken, die ich aus eigenem Vorrat niemals vollbracht hätte. Von diesem ganzen Reichtum schließt sich unweigerlich aus, wer vorab die eigene Art zum Kanon und Auswahlkriterium erhöht.”
Mit diesen Worten bezog Litt eine eindeutig konträre Position zu dem Grundgedanken sowohl in Rosenbergs Schrift als auch zu Baeumlers eigener Auffassung, wonach jeder, der den Mythos der Rasse erkannt hat, sich der rassebe-dingten Kraft bewusst werden muss, aus der jeder Einzelne wie auch das Ganze zu der ihr bestimmten Höhenlage emporwächst. Von diesem Grundgedanken selbst erfasst, verwundert Baeumlers Entgegensetzung nicht:
„Es gibt zweifellos sehr merkwürdige Wege für den Menschen, die eigene Kraft zu erfahren. Aber gestaltend wirksam kann immer nur eine Kraft werden, die in uns ist. Jeder neue Versuch, uns von einer Bereicherung und Steigerung über uns selbst hinaus, abgesehen von dieser uns innewohnenden Kraft, zu erzählen, vermag uns lediglich davon zu überzeugen,
daß der Glaube an Zauberei auch heute noch nicht ausgestorben ist.”
Den Übergang zum Kern der Litt’ schen Schrift, der Begegnung zwischen Ger-manentum und Christentum — also mit dem „ganz Anderen” —, benutzt Baeum-ler wiederum zur Suggestion, indem er Litt eine unzulässige Behauptung zuschreibt. Zunächst aber ein Blick darauf, wie Litt diesen Weg zum „ganz Anderen” vollzieht. In Anlehnung an Rosenbergs „Mythus” nimmt Litt jenen Gedanken auf, der dem Volk — im Gegensatz zum Einzelwesen — die Berührung mit dem „Anderen” entbehrlich macht, denn es:
„sei keineswegs mit gleicher Dringlichkeit auf dieses Lebensverhältnis [Ich-Du; S.D.] angewiesen, weil es doch einen unendlichen Reichtum an produktiven Begegnungen in seinem eigenen Schoße trage […] Im Lichte solcher Erwägungen sieht es so aus, als ob das Volk wirklich alles das in sich habe, dessen es zu seiner Selbstverwirklichung bedürfe; als ob es sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, nur sein Eigenleben zu pflegen brauche, um seinem Auftrag Genüge zu tun.”
Litt begnügt sich aber nicht mit der in solch einer Konstellation ergebenden Ebene der Selbstverwirklichung und wirft für den Fortgang seiner Arbeit folgende Fragen auf:
„Wir fragen demgegenüber, ob, falls die Begegnung mit dem völkischen Partner in der Tat nicht erforderlich sein sollte, damit bereits über die Ent-behrlichkeit aller Begegnungen entschieden wäre. Wäre eine völkische Gemeinschaft denkbar, die sich wirklich bloß mit sich selbst zu schaffen machte? Und falls sie denkbar wäre — wäre sie wünschbar?”
Die Frage nach der Entbehrlichkeit aller Begegnungen schließt Litt aus, weil jede Gemeinschaft der Notwendigkeit unterliegt,
“in und mit dem zu existieren, […] was wir die ,Welt’ nennen.”
Mit dieser Notwendigkeit in der Welt existieren zu müssen, wird auch die zweite Frage beantwortet. Denn es obliegt zwar der Gemeinschaft, der Welt begegnen zu wollen, aber nicht, ob und in welcher Form die Welt der Gemeinschaft begegnet.
„Wenn die Welt der Gemeinschaft ein verwandeltes Antlitz zukehrt, ihr ungewohnte Gunst gewährt oder unerwartete Feindschaft erweist, dann ändert sich nicht bloß der ,Stoff , an dem die fragliche Menschenart einen unveränderlichen Vorrat von Funktionsweisen zu erproben hätte — dann hat in der Verhandlung zwischen Mensch und Kosmos die Gegenseite einen neuen Sachwalter erhalten und das Zwiegespräch entsprechend Richtung und Farbe gewechselt. Der Schicksalsgang der Gemeinschaft ist in einen neuen Abschnitt eingetreten.”
So wenig die Selbstabschließung einer Gemeinschaft möglich ist, so wenig ist sie auch wünschenswert, weil sie dann, mit bewusstem Rückgriff auf einer der zentralen Aussagen des „Mythus” — das Volk bildet schon in der Morgenfrühe seines Erdentages das Beste und Höchste — „die werdende Seele in der Dumpfheit der Frühe festhalten [müßte]. Sie würde unbehelligt, aber auch unerhellt bleiben.”
Mit einem Blick auf den „Mythus” verweist Litt darauf, was dem Seelenleben der Gemeinschaft verloren gehen müsste. Aber nicht nur für den Verlust, der einer Gemeinschaft dann widerfahren muss, wenn sie sich in Selbstabschlie-ßung übt, legt für Litt der „Mythus” Zeugnis ab, sondern — weitaus wichtiger —dafür, dass in ihm
„eine Sehnsucht und Ergriffenheit [innewohnt], die sich über die Schranken des Eigenwesens weit und leidenschaftlich zu einem „Anderen” hin-überneigt und emporstreckt.”
Und Litt steigert diese Sehnsucht und Ergriffenheit nach dem „Anderen” noch damit, indem er aus der Religionswissenschaft (Rudolf Otto) dieses Gefühl als das „ganz Andere” bezeichnet. Das Fazit für Litt — an dem Baeumler Anstoß nehmen sollte — lautet:
“Nicht innermenschliche Werte, sondern übermenschliche Mächte sind es, von denen der Mythos Zeugnis ablegt. Nie hätten der erwachenden Seele aus der Beschäftigung mit sich selbst die Inspirationen zuströmen können, denen die mythenbildende Phantasie, ein getriebenes Werkzeug, gehorchte.”
Soweit die Darstellung des Litt’ schen Gedankenganges. Die Erwiderung Alfred Baeumlers fällt auch hier erwartungsgemäß knapp aus. Ausgehend von seiner Feststellung, dass Litts Widerlegung bezüglich der Rückführung aller historischer Taten auf die gestaltenden Kräfte einer rassebestimmten Gemeinschaft nur dadurch möglich war, indem er eine andere — nicht aufgestellte Behauptung — widerlegt, schreibt Baeumler:
„Wer hat denn den Satz aufgestellt, daß der erwachenden Seele aus der Beschäftigung mit sich selbst die Inspirationen zuströmen, denen die mythenbildende Phantasie gehorcht? ,Gestaltung aus eigener Kraft’ und ,Beschäftigung mit sich selbst’ sind für jeden unverdunkelten Verstand sehr verschiedene Dinge.”
An dieser Stelle bleibt Baeumler dem Leser leider schuldig, wieso es sich hierbei um zwei verschiedene Dinge handelt. Der rassebestimmte Volksgenosse, der den nur ihm eigenen Mythos erkannt hat, soll doch durch die ihm blutbedingte Kraft gestaltend am Volksganzen mitwirken. Um aber seiner Aufgabe in der Volksgemeinschaft gerecht werden zu können, muss er, gerade durch die Beschäftigung mit sich selbst, ergründen, was er zu leisten in der Lage ist.”
Baeumler führt weiter aus, dass es Litt nur noch darauf ankäme,
„,innermenschliche Werte’ und ,übermenschliche Mächte’ einander gegenüberzustellen und darzutun, daß der Mythus nicht von menschlichen, sondern von übermenschlichen Kräften Zeugnis ablegt. Die ,Begegnung’ enthüllt sich demnach als Begegnung des Menschen mit einem Übermenschlichen, Transzendenten, sie ist eine Begegnung nicht mit dem Anderen, sondern mit dem ganz Anderen.”
Mit der von Litt bewusst vollzogenen Gegenüberstellung von menschlichen Werten und übermenschlichen Mächten liegt Baeumler nicht falsch. Allerdings lässt Baeumler mit seiner reduktiven Formulierung („Es kommt ihn nur noch darauf an”), die Frage, warum Litt auf diese Gegenüberstellung abzielt, unbeantwortet. Den Ausgangspunkt dafür stellt das dar, was Rosenberg mit seinem „Mythus” intendierte: Die Infragestellung des christlichen Glaubens als einen Bestandteil der deutschen Wirklichkeit einerseits und andererseits, darauf basierend, die Schaffung eines neuen Glaubens durch den Mythus des Blutes.
Auf den eigentlichen Kern der Litt’ schen Schrift, die Verquickung von Germa-nentum und Christentum, geht Baeumler nur noch insofern ein, als dass er herausstellt, dass nach Theodor Litts Auffassung, „das Christentum also […] die nicht mehr zu überbietende Religion [ist], weil sie den Charakter der Begegnung des Menschen mit dem ,ganz Anderen’ wie keine zweite Religion hervortreten läßt.”
Von hieraus lenkt Baeumler den Fokus darauf, dass Litt Begriffe vertauschen würde, wenn er zunächst von einer ebenbürtigen Begegnung über die Begegnung mit dem „Anderen” schließlich zum „ganz Anderen” kommt. Den Sinn eines solchen Verfahrens sieht Baeumler nur darin, dass es Litt um die Widerlegung der nationalsozialistischen Weltanschauung gegangen sei. In diesem Punkt ist Baeumler beizupflichten! Nach knapp vier Seiten der Erwiderung auf Litts Schrift endet die inhaltliche Auseinandersetzung damit, dass Baeumler ihr keinerlei philosophische Leistung zumisst.
Auf den folgenden letzten vier Seiten seines Aufsatzes referiert Baeumler über die rassetheoretische Geschichtsauffassung. Da diese keinen Bezug zu Litts Schrift hat — zur Person nur insofern, dass Baeumler ihn mit allerlei desavouierenden Zuweisungen belegt — soll hier, unter weitestgehendem Verzicht auf diese Seiten, noch ein prägnanter Blick auf Baeumlers Ringen um den Rasse-begriff geworfen werden.
Karl-Heinz Dickopp hatte in seinem 1970 erschienenen Artikel „Die Voraussetzung der bildungspolitischen Konzeption Alfred Baeumlers” konstatiert, dass die Termini Politik, Rasse, Gemeinschaft und Weltanschauung für Baeum-ler keine sinnsetzende Funktion haben,
„in ihnen konkretisieren sich nur seine in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geistesgeschichte gewonnenen Einsichten. Diese Begriffe haben ihm keine neuen Inhalte eingebracht, sie haben daher auch keine konstituierende Bedeutung für die erziehungstheoretischen und bildungspolitischen Gedankengänge bekommen.”
Inwiefern Dickopps Einschätzung verifizierbar ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Doch zunächst ein Blick darauf, was durch Rosenbergs „Mythus” für Baeumler möglich geworden war. Indem Rosenberg nicht nur ein neues Geschichtsbild entwarf, sondern zugleich die Volksgenossen zu ihrem Anfang zurückholte, war für Baeumler die Möglichkeit gegeben ein neues philosophisch bzw. weltanschaulich fundiertes Begriffssystem zu schaffen.4I In seinen frühen Schriften nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten taucht der Rasse-begriff immer wieder als ein „Modebegriff` auf, ohne dass klar ist, ob Baeumler ihn biologistisch oder anders inhaltlich auflädt. Erst Ende der 1930er Jahre wird immer deutlicher, dass er darum bemüht ist, den Begriff Rasse aus seinem biologistischen Determinationsrahmen herauszulösen — zumindest insoweit, dass diese nicht die einzige Deutung war —, um ihn philosophisch bzw. soziologisch zu begründen. Genau darin aber liegt die Crux: Wie kann ein eindeutig biologischer Begriff in ein philosophisches oder soziologisches Erklärungsmuster umgedeutet werden? An dieser Stelle könnte man sagen, dass diese Crux nicht zu lösen sei und sich daher alles weitere erübrige. Aber meines Erachtens ist es interessant, nachzuzeichnen, wie Baeumler das Problem zu einer Lösung gebracht hat und was das Ergebnis eigentlich aussagt.
Immer wieder wurde Baeumlers Aufsatz „Rasse als Grundbegriff der Erzie-hungswissenschaft” referiert, wenn es darum ging, den Zusammenhang von Rasse und Bildsamkeit des Menschen darzustellen. Viel wichtiger erscheint mir allerdings der ein Jahr später erschienene Aufsatz »Das Bild des Menschen und die deutsche Schule”, sowohl in Bezug auf die inhaltliche Aufladung des Ras-sebegriffs als auch für Baeumlers anthropologische Bildungskonzeption.
Den Ausgangspunkt für letztgenannten Aufsatz bildet die Frage nach den geistigen Grundlagen und der Gestalt der Schule vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Um sich dem Rassebegriff zuwenden zu können, stellt Baeumler die Verbindung zwischen Philosophie und Pädagogik dadurch her, dass Schule und Bildung auf den Menschen bezogen sind und man nicht von erstgenannten reden könne, ohne ein Bild vom Menschen zu haben.
„Sobald aber der Mensch als Mensch in Betracht gezogen wird, ist auch schon die Philosophie da. Nun ist aber da, wo von Schule und Bildung die Rede ist, stets vom Menschen die Rede.”
Durch die Entdeckung der Vererbung hat die Erkenntnis des Menschen einen gewaltigen Anstoß erfahren, mit der zugleich die Umwelttheorien außer Kraft gesetzt worden sind. Daraus folgt, dass
„im Mittelpunkt der künftigen Lehre vom Menschen der Rassebegriff stehen [wird].”
Allerdings will Baeumler die Philosophie nicht durch die Rassekunde oder Biologie ersetzt oder ihre wichtigsten Begriffe von der Biologie entlehnt wissen, denn „die philosophische Menschenkunde braucht den Rassebegriff in einem umfassenderen Sinne. Für sie ist der Begriff der Rasse, soweit er sich auf die Lebewesen überhaupt bezieht, der Grundbegriff einer Einzelwirtschaft [sic !] wie viele andere.”
Damit schließt Baeumler zwar den biologischen Begriff mit ein, öffnet aber gleichzeitig den Rassebegriff für weitere Determinanten. Der Schritt dahin, Rasse philosophisch aufzuladen, ist für ihn dadurch möglich, dass sich der Ras-sebegriff nicht auf das Lebewesen, sondern auf den Menschen bezieht. Somit erhält Baeumlers Rassebegriff zwei Momente, die er näher darstellt:
„Als Grundbegriff der philosophischen Menschenkunde sagt der Rassebegriff einmal, daß es selbst im Bereich der menschlichen Freiheit niemals einen völligen Neuanfang geben könne. Das ist der Sinn der Vererbung. Was im menschlichen Bereich geschieht, ist nicht von vornherein kausal determiniert; aber es ist auch nicht den Einfällen und der Willkür einzelner überlassen. Vielmehr bewegt es sich innerhalb eines Kreises von Möglichkeiten, innerhalb eines Spielraums, und das Wort Rasse ist der Hinweis auf den bestimmten Charakter eines solchen Umkreises von Mög-lichkeiten.”
Hieraus leitet Baeumler den Teil seiner Bildungskonzeption ab, der auf die biologische Ausgangssituation eines Menschen abzielt. Der Aspekt, dass es niemals einen völligen Neuanfang geben könne, entspricht seiner Kritik gegen den Intellektualismus, der — nach Baeumler — annimmt, dass der Mensch als reine, d.h. unbestimmte Anlage (tabula rasa) auf die Welt komme und — darauf bezieht sich der zweite Teil des Zitates — dass die Umwelt die Macht habe, auf diese Tafel zu schreiben, was sie wolle. Baeumler hält dagegen, dass der Mensch vielmehr durch Vererbung Anlagen mitbringt, von dem aus die Richtung der Bildsamkeit des Menschen bestimmt wird. Anlagen sind aber nicht vorgegebene feste Größen, sondern Möglichkeiten, die durch die Bildung zu ihrer Entfaltung gebracht werden sollen .
Das zweite Moment des Rassebegriffs liegt darin, den Menschen von seinem Wesen her zu erfassen. Über einen kurzen historischen Blick kommt er sowohl zu der Kritik an der Zweiweltenlehre der Aufklärung als auch an der Theologie:
“Ein Teil des Menschen blieb in der ,Natur’ stecken und erlitt das Schicksal der Vergänglichkeit des Natürlichen; der andere Teil erhob sich auf eine unbegreifliche Weise über die Natur und wurde für unzerstörbar und unvergänglich erklärt. Der ,Mensch’ war die widerstreitende Einheit dieser beiden Richtungen, halb Engel und halb Tier.”
Gegen die Ontologie führt er ins Feld, dass der Mensch eben nicht von seinem Sein her zu verstehen ist. Will man den Menschen verstehen, dann dürfe man nicht von der Vernunft, der rationalen Seele oder einem höheren Sein ausgehen, sondern vom wirklichen Menschen. Der wirkliche Mensch wurde von Baeumler als ein ursprünglich handelndes Wesen beschrieben, somit ist also sein Handeln immer im Werden, weswegen er den Seinsbegriff ablehnte. Die Affinität zu Nietzsche wird deutlich — und damit ist auch Dickopps eingangs dieses Teils aufgestellte Einschätzung zu verifizieren, denn der Rekurs auf Nietzsche besagt, dass Baeumler auf seine philosophischen Erkenntnisse vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zurückgreift —, bei dem es heißt:
„Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein ,Seins’ hinter dem Tun, Wirken, Werden; ,der Täter’ ist zum Tun bloß hinzugedichtet, — das Tun ist Alles.”
Schließlich setzt Baeumler an die Stelle der ontologischen Trennung von Natur — Übernatur die ethische: Mensch — Nichtmensch, wobei der Mensch als sinnlich-geistige Existenz verstanden wird.
Soweit sind die zwei Momente des Rassebegriffs beschrieben und Baeumler kann auf dieser Grundlage seine eigentliche Definition vornehmen:
“Als Begriff der philosophischen Menschenkunde bedeutet Rasse also nicht einen Naturbegriff, nicht die Einordnung des Menschen in das Nichtmenschliche, die Entmenschlichung, sondern das Wesen des Menschen, sofern er es mit anderen, die gleicher Abstammung mit ihm sind, gemeinsam hat. Dieses Wesentliche und Gemeinsame sind elementare Verhaltensweisen, Aktionen und Reaktionen von einem. bestimmten Rhythmus und Charakter, unbewußte Antriebe und Instinkte (womit wir selbstverständlich nichts Tierisches, sondern etwas spezifisches Menschliches bezeichnen wollen). […] Wir definieren den Menschen nicht als eine mit Nervensystem und Stoffwechsel verbundene Vernunft (Kopf), sondern als eine atmende und sich bewegende rhythmische Einheit, als ein Zentrum von Aktionen und Reaktionen von bestimmter Haltung. Rasse nennen
wir ein im Wechsel der Generationen sich erhaltendes System solcher elementarer Verhaltensweisen.”
Man braucht nur den letzten Satz zu lesen, um sich die Frage zu stellen, ob Baeumler nicht „einfach” den Rassebegriff an die Stelle des Kulturbegriffes gesetzt hat, der, als dem Begriffssystems des Liberalismus zugeordnet, im Dritten Reich verpönt war. Denn wie sonst soll man „ein im Wechsel der Generationen sich erhaltendes System solcher elementarer Verhaltensweisen” vorstellen, die nicht auch als tradierte Kulturtechniken zu verstehen sind? Auch wenn Baeumler durch den „bestimmten Rhythmus und Charakter, unbewusste Antriebe und Instinkte” einem Kulturbegriff entgegenzuwirken scheint, diese Einschränkung zugunsten einer rassisch bedingten Gemeinsamkeit enthält keinerlei wissenschaftliche Qualität, weil diese Begriffe schwammig, also nicht zu fassen sind. Und dass es sich hierbei um einen abgewandelten Kulturbegriff handelt, zeigt sich auch darin, dass die Definition von Rasse auf jede durch kulturelle Gegebenheiten verbundene Gemeinschaft bzw. Gesellschaft angewandt werden kann.
Als Fazit bleibt, dass es Baeumler nicht gelang — und auch nicht gelingen konnte — die Crux zwischen biologistischer Determination und einer philosophischen Erweiterung des Rassebegriffs zu lösen.
Zum Abschluss soll der Blick noch darauf gerichtet werden, warum die Intention Theodor Litts, einen wissenschaftlichen Diskurs zu den weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus initiieren zu wollen, bei seinen Gegner —hier am Beispiel Alfred Baeumlers — nicht aufgenommen wurde bzw. werden konnte.
Baeumler sah im Nationalsozialismus die historisch herbeigeführte Entscheidung im Irrationalismus- bzw. Rationalismusstreit, den er selbst in zahlreichen Studien vom 18. Jahrhundert an verfolgt und mit erforscht hat.54 Diese Entscheidung war für ihn eine unumstößliche historische Tatsache. Baeumler fehlte es einfach an dem Verständnis dafür, dass gerade die deutschen Christen und Geisteswissenschaftler sich nicht dieser neuen „Tatsache” hingeben wollten, dass sie eben nicht vom Mythos ergriffen waren.55 So formuliert er für den Protestantismus die einzig zulässige Schicksalsfrage:
„Wie ist der Glaube an eine rassisch nicht gebundene Offenbarung möglich, wenn der Gedanke der Rasse überhaupt einmal anerkannt ist?”
Konkret auf Litt bezogen muss Baeumler konstatieren:
„Litt ist von dem Gedanken der Rasse nicht ergriffen worden, er ist mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus innerlich nicht zusammengestoßen, er hat keinen Anruf gehört — nur eine Aufforderung zum Dozieren glaubte er zu vernehmen.”
Abgesehen von seinem Unverständnis gegenüber einer anti-nationalsozial-istischen Haltung: Wem räumt Baeumler überhaupt das Recht auf Erwiderung zum „Mythus” ein und mit welchen Einschränkungen? Aufschluss darüber gibt seine bereits mehrfach erwähnte Schrift „Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts”.
Eine erste Positionierung zu dieser Frage ‘findet sich, nachdem Baeumler zuvor über Rosenbergs Infragestellung der historischen Entwicklung referiert hatte:
„Wer sich mit diesem Buche in eine Auseinandersetzung einlassen will, darf nicht diese oder jene Einzelheit aufgreifen, sondern muß sich mit dem Maßstab auseinandersetzen, der hier angewendet wird. Dieser Maßstab ist aber nicht zu sehr ein persönlicher Geschmack als eine wissenschaftlich wohlbegründete Überzeugung.”
Die Frage ist, warum sollte man nicht über Einzelheiten debattieren können, wenn doch der Maßstab, mit dem an dem „Mythus” gearbeitet wurde, auf einer „wissenschaftlich wohlbegründeten Überzeugung” basiert. Die Antwort ist einfach: Rosenbergs „Mythus” ist nicht frei von Missverständnissen, selbst für Baeumler, weswegen er sich zu einer Korrektur veranlasst fühlt, nämlich in Bezug auf Rosenbergs Aussage, dass die große Kunst der Griechen nicht zur großen indogermanischen Kunst gehöre:
„Im Grunde war die Entgegensetzung der germanischen und der griechischen Kunst für ihn [Rosenberg; S.D.] nur ein Mittel dazu, seine Vorstellungen vom Charakter als dem Urgrund ihrer künstlerischen Schöpfung so plastisch wie möglich darzustellen. Niemals war es seine Absicht, innerhalb des indogermanischen Bereichs nicht bestehende Wesensgegensätze aufzuzeigen.”
Baeumler muss noch eine Fehlinterpretation Rosenbergs in Bezug auf einen Vergleich von Homer und dem Nibelungenlied richtigstellen:
Jeder große Gehalt schafft sich die ihm allein entsprechende Form, und nur aus den formenden Kräften heraus kann die endgültige Gestalt begriffen werden. Die Anwendung der Maßstäbe einer absoluten Ästhetik führt zur schlimmsten Ungerechtigkeit. Auf die Beseitigung dieser Ungerechtigkeit kommt es an, nicht darauf, daß die Kritik Homers in allen Einzelheiten richtig ist. Wer nur die Kritik kritisiert, verrät lediglich, daß er den entscheidenden Punkt nicht erfaßt hat.”
Bisher wurde aufgezeigt, warum Baeumler einer dezidierten Kritik am „Mythus” keine Berechtigung erteilen wollte. Theodor Litt ging in seiner Schrift auch nicht auf zu vernachlässigende Details ein, sondern er formulierte seine Kritik am „Mythus” von der Position einer positiven, befruchtenden Begegnung her, auch und vor allem zwischen Christentum und Germanentum. Obwohl Baeumler in Litts Ausführungen nur eine „plötzliche” Hinwendung zum Protestantismus sieht, ist er es doch, der zunächst eine kritische Stellungnahme auf Rosenbergs Schrift nur seitens der Theologie zugesteht:
„Der Mythus ist die hervorbringende Kraft und das schaffende Leben selber, er ist die Quelle aller Werte und Wertsetzungen, der Ursprung aller geschichtlichen Sinngebung und die schöpferische Einheit aller Taten. Nicht weil er irgendwelche Gedanken verkündet hat, die den Wertmaßstäben der Konfessionen widersprechen, oder weil er einige historische ‚aufreizende’ Anmerkungen zur europäischen Kirchengeschichte gemacht hat, ist Rosenberg von den Vertretern der Kirchen so ernst genommen worden, sondern deshalb, weil er mit letzter Ehrlichkeit und Folgerichtigkeit bis zu dem Punkt gegangen ist, wo die Entscheidung fallen muß. […] Aber viele erkannten doch, daß durch den ,Mythus’ eine Frage an ihre Kirche gestellt war, die nur aus dem Mittelpunkt der Kirche selber heraus beantwortet werden konnte. Die Reaktion auf den ,Mythus’ verdient nur da ernst genommen zu werden, wo sie theologisch ist: denn nur die theologische Antwort wird der Tatsache gerecht, daß Rosenberg die Kirche selbst in Frage stellt — nicht durch Verneinung des liberalen Stils, sondern durch den Aufweis der schöpferischen Einheit, aus welcher der Mensch wirklich lebt. Die theologische Antwort erkennt wenigstens die Ebene, in der Rosenbergs Werk sich bewegt.”
Insofern war Litts wohldurchdachte Kritik, also die Verquickung von deutscher Geschichte und Christentum durch die Begegnung, auf den „Mythus” nicht nur richtig, sondern, nach Baeumlers Auffassung, die einzig mögliche. Doch auch für die Einschränkung der Kritik auf die theologische Ebene findet Baeumler noch eine jegliche Kritik zur Unzulänglichkeit abstellende Einschränkung:
„Die gewaltige Erregung, die Rosenbergs Werk hervorrief, darf nicht nach den Argumenten beurteilt werden. Kein Unbefangener wird heute mehr bestreiten, daß die apologetische Bewegung, die gegen den ,Mythus’ aufzustehen versuchte, an ihren eigenen geistigen Unfruchtbarkeiten erstickt ist. […] Gegen die erlebte Idee stand das nicht erlebte Dogma, gegen den Mythus stand das ‚Wort’, gegen die Gewißheit des Glaubens die Sicherheit der Institutionen. Trotzdem ist die einzigartige Aufregung um den ,Mythus’ als Symptom von hoher Bedeutung. In dieser Erregung meldet sich das an, was von den Verteidigern der Kirchen wörtlich nicht ernst genommen wurde: das Bewußtsein, daß eine neue Epoche des Kampfes um das Christentum begonnen hat. Früher erhob die Kirche den Anspruch, alles was geschah, an sich zu messen; nun ist ein neuer Maßstab aufgerichtet: die Wirklichkeit des deutschen Volkes und seiner Geschichte. Nicht wir haben uns vor der Kirche zu verantworten, sondern die Kirche hat sich vor uns zu verantworten — das ist die entscheidende Erkenntnis, zu der jeder Leser des ,Mythus’ gelangen muß, wenn er sich nicht durch ein geheimnisvolles, das Opfer seines Verstandes forderndes ,Wort’ gefangennehmen läßt.”
Schließlich konstatiert Baeumler, dass die Gegner des „Mythus” noch nicht den Standort gefunden haben, von dem aus geantwortet werden kann. Er fügt gleichzeitig hinzu, dass „man […] einen solchen Punkt niemals finden [wird], weil es keinen gibt.”
Somit ist klar: So anerkennenswert Litts Versuch war, die Grundlage für einen wissenschaftlichen Diskurs um den „Mythus” bereiten zu wollen und dabei gleichzeitig ein mutiges Bekenntnis gegen die Irrlehre vom rassebestimmten Mythos abgelegt zu haben, er stieß auf blinden Glauben.
Mit Blick auf Alfred Baeumler, der sich nach 1933 dazu berufen fühlte, die weltanschaulichen Grundlagen des NS durch seine Arbeiten untermauern zu müssen, auch wenn sich dabei eine — innerhalb eines bestimmten Rahmens steckengebliebene — kritische Haltung abzeichnete, scheint jene Erkenntnis von Lingelbach treffend, in der es heißt:
„Wenn der Nationalsozialismus nun den bis dahin eher unreflektierten Anpassungsvorgang zur bewußten politischen Forderung erhob, indem er der wissenschaftlichen Forschung die Funktion zuwies, die ideologischen Prämissen der gegenwärtigen politischen Realität lediglich zu untermauern, wurde er für zahlreiche Geisteswissenschaftler zu einer Versuchung, der sie nur allzu leicht erlagen.”

pdf

Theodor-Litt-Jahrbuch
2007/5
Leipziger Universitätsverlag 2007