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Forschung

„Die Verhältnisse sind von Semester zu Semester unerträglicher geworden”42 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
1999/1
Leipziger Universitätsverlag 1999

CARSTEN HEINZE
„Die Verhältnisse sind von Semester zu Semester unerträglicher geworden”
Litt 1930 bis 1936

I. Vorbemerkung

Zeitsignaturen der politischen Geschichte, an denen sich Epocheneinteilungen orientieren, verstellen oft den Blick auf das Leben und Wirken des Einzelnen wie auch auf Entwicklungslinien bzw. deren Unterbrechung. So orientiert sich der zeitliche Rahmen dieses Vortrages an wesentlichen Zäsuren im Leben Theodor Litts.
Mit Litts Rektoratsjahr 1931/32 als Ausgangspunkt soll bewußt dem 30. Januar 1933 vorgegriffen werden, um Litts Positionen in der Endphase der Weimarer Republik einbeziehen zu können. Die Einreichung seines Emeri-tierungsgesuches vom 28. Oktober 1936 bildete für Theodor Litt den Abschluß eines Prozesses, in dem er sich schrittweise von seinem Amt als Hochschullehrer löste.
In der Darstellung können angesichts der Fülle des Materials nur ausgewählte Aspekte berücksichtigt werden.

  1. Theodor Litt 1931-1933

Wenn man Theodor Litts Auseinandersetzungen mit dem NS-Staat hinsichtlich der Motive der jeweiligen Aktionen gegen Litt analysiert, fällt das Gewicht der Konfrontationen Litts, im Amt des Rektors, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) im Jahre 1932 auf. Sein konsequentes wie couragiertes Verhalten in diesem Zusammenhang wird bis .1936 immer wieder zum Anlaß genommen, um Litt in seiner Person und seiner Stellung als Hochschullehrer anzugreifen.
Bereits im Februar 1931 errang der NSDStB in der Leipziger Studentenschaft die absolute Mehrheit in der Kammer des AStA und damit auch die Kontrolle über den Vorstand.1 Die Strategie entsprach der der NSDAP: mit den Mitteln des Parlamentarismus an die Macht zu kommen und diesen dann Stück für Stück auszuschalten. Diese Zielstellung versuchte die nationalsozialistische AStA-Fraktion mit dem Entwurf einer neuen Studentenschaftsverfassung, die den AStA auf eine beratende Funktion beschränken und gleichzeitig die Stellung des Vorstandes und des Vorsitzenden im Sinne des Führerprinzips stärken sollte, zielstrebig in die Tat umzusetzen. Über den Entwurf wurde am 10.2.1932 in der Vollversammlung der Leipziger Studentenschaft abgestimmt und durch diese mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen: 1351 gegen 508 Stimmen bei 12 Enthaltungen.2 Bevor die neue Satzung in Kraft treten konnte, bedurfte es allerdings noch der Zustimmung des Rektors, des Senats der Universität und des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung, die nicht sofort erfolgte.
Vergleicht man das Abstimmungsergebnis mit den Zahlen der AStA-Wahlen des Jahres 1932, in denen die Nationalsozialisten mit 54,1% die absolute Mehrheit erreichten, so entspricht es den Mehrheitsverhältnissen an der Universität Leipzig. Die Wahlergebnisse der nationalsozialistischen Studenten in Leipzig bildeten dabei keine Ausnahme, denn bereits 1931 erreichte der NSDStB in 28 deutschen Hochschulen die absolute Mehrheit in den Studentenvertretungen. Insofern übernahm der NSDStB eine Vorreiterrolle für die NSDAP, die das Ziel der absoluten Mehrheit in den Reichstagswahlen nie erreichen sollte.
Der Rückhalt des NSDStB in der Leipziger Studentenschaft, der sich im Erfolg der Abstimmung um den Verfassungsentwurf sowie dem erneuten Erreichen der absoluten Mehrheit bei den AStA-Wahlen im Februar 1932 manifestierte, scheint der nationalsozialistischen AStA-Fraktion weiteren Auftrieb gegeben zu haben, so daß sie es auf eine Kraftprobe mit dem Rektorat ankommen lassen wollte.
Am 17. Juni 1932 beantragte der Vorstand der Leipziger Studentenschaft beim damaligen Rektor der Universität Leipzig, Theodor Litt, die Genehmigung zur Durchführung einer Protestkundgebung gegen den Vertrag von Versailles für den 28. Juni 1932.4 Ausgehend von seiner gestärkten Position in der Leipziger Studentenschaft wollte der NSDStB die Anti-Versailles-Kundgebung in seinem Sinne als Demonstration der nationalsozialistischen Bewegung gestalten. Dies widersprach aber dem in der noch gültigen alten Verfassung formulierten Ziel der Leipziger Studentenschaft, „dem Gemeinschaftsgedanken innerhalb der Studentenschaft […] zu dienen” und dabei „parteipolitische und konfessionelle Zwecke” auszuschließen, so daß die Pflichtmitgliedschaft für keinen Studenten zum Gewissenszwang werden konnte.
In den Verhandlungen mit dem Vorstand des AStA, von denen ein Protokoll angefertigt wurde, bestand Litt ausdrücklich auf diesen Punkten: „Der Herr Rektor ist sehr gern bereit, die Wandelhalle sowohl für die Kundgebung gegen Versailles wie für die Langemarck-Feier zur Verfügung zu stellen, unter der Voraussetzung, daß die Durchführung in einer Weise erfolgt, die das Gemeinsame betont und allen Studierenden, gleichviel welcher Weltanschauung, die Teilnahme wünschenswert macht”. Außerdem verwies Litt in den Verhandlungen auf die unbedingte Einhaltung der Verordnung des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung von 1922, in der den Studierenden die Teilnahme an Veranstaltungen, „[…] in denen Erörterungen stattfinden, die zur Beseitigung der republikanischen Staatsform oder zu Gewalttaten gegen Mitglieder der jetzigen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reiches oder eines Landes aufreizen”, sowie das Tragen politischer Abzeichen an der Hochschule untersagt wird Da der Hochschulgruppenführer des NSDStB, Hellmut Merzdorf, keine Garantie dafür übernehmen konnte, daß die Mitglieder des NSDStB nicht in Uniform erscheinen, erhielt der AStA vom Rektor keine Genehmigung für die Durchführung der Kundgebung in der Wandelhalle der Universität.
Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielten sicherlich Theodor Litts Erfahrungen mit ähnlichen Veranstaltungen an der Universität, denn schon 1924, am 9. Juli, fand z.B. in der Wandelhalle der Universität eine solche statt, deren Ausgang sogar eine Debatte des sächsischen Landtages nach sich zog.
Nach dem Verbot der Kundgebung in der Universität plante man deren Durchführung im Kyffhäuserhaus. Dazu erhielt Litt am 17.6.1932 vom Vorstand der Leipziger Studentenschaft eine persönliche Einladung10 mit dem Ziel, ihn in eine „Zwangslage” zu bringen, wie Hans Fritzsche, der damalige hochschulpolitische Referent des Hochschulgruppenführers, 1936 rückblickend schreibt» Litt betrachtete die Situation allerdings nicht als solche und nahm an der Anti-Versailles-Kundgebung teil, denn, so schrieb er 1936 an den Prorektor Golf als Reaktion auf einen Artikel im „Offenen Visier”, dem Organ des Gaustudentenbundes Sachsen, in dem ihm sein Verhalten von 1932 zum Vorwurf gemacht wurde: „ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich mich mit dem, was sie [die Kundgebung, C.H.] bezweckte, durchaus solidarisch fühlte.”
Gut eine Woche nach der Veranstaltung im Kyffhäuserhaus, am 6. Juli 1932, ging der Studentenschaft ein Schreiben des Rektorats zu, in welchem mitgeteilt wurde, daß die neue Studentenschaftsverfassung vom Ministerium abgelehnt worden war.13 Nach dem Bekanntwerden der Ablehnung entstand unter den Studenten eine Unruhe, die sich in der Rede des zufällig in Leipzig weilenden Kreisleiters IV der Deutschen Studentenschaft, Walther Schöttler, in Form von Kampfrufen und Liedem kanalisierte. Litt forderte von der aufgebrachten Menge die Wiederherstellung der Ordnung des Hauses und die Räumung der Wandelhalle. Als dem nicht nachgekommen wird, erfolgt die Schließung der Universität durch Litt für Mittwoch nachmittag und Donnerstag. Am Freitag, dem 8. Juli, war die Universität wieder geöffnet.
Mit einer Ablehnung der neuen Studentenschaftsverfassung hatte die nationalsozialistische AStA-Fraktion nicht gerechnet, da sie ja auf parlamentarischem Wege legitimiert worden war. Um so mehr waren sie nun erzürnt und bekundeten am 14. Juli 1932 in einer Erklärung ihren „Unwillen […] über die Haltung von Rektor und Senat.” Im weiteren Verlauf wurden diese Vorgänge, wie noch zu zeigen sein wird, mit Theodor Litt identifiziert.
Welche unmittelbaren Konsequenzen zog nun Litt aus den Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Studenten? In seinem Geleitwort für das “Taschenbuch der Leipziger Studentenschaften 1932/33″ vom Oktober 1932 rief Litt die Studenten dazu auf, „die eigentümliche seelische Haltung des akademischen Seins vor der Vernichtung zu bewahren […]. Nur die beharrliche Wachsamkeit, nur die gewissenhafteste Selbstkontrolle kann den akademischen Bürger davor schützen, daß er von den Sorgen des Augenblicks, von den Leidenschaften des Tages, von den Suggestionen des Massendenkens fortgerissen, die Freiheit der selbständigen Prüfung und Stellungnahme fahren läßt und in irgendeinem Haufen von Interessenten untergeht.”
Auch in seinem Bericht zum Rektoratswechsel am 31. Oktober 1932 reflektierte Litt die Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Studenten: Das Bekanntwerden der Ablehnung des Ministeriums „war für einen eng begrenzten Kreis von Studenten ein ausreichender Grund, in der Wandelhalle der Universität durch eine lärmende und im Verlauf immer schlimmer ausartende Demonstration zu protestieren. Die Szenen, die sich hierbei abspielten, waren so unwürdig, daß der Rektor die Universität einen Tag lang schließen mußte, um Zeit zur Besinnung zu geben. […] Als Verfechter akademischer Freiheit und Selbstverwaltung aufzutreten sind diejenigen am wenigsten qualifiziert, die durch ihr Verhalten beweisen, daß ihnen der Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit, zwischen Selbstverwaltung und brutaler Gewaltausübung noch nicht aufgegangen ist.” Diese Ausführungen wurden in einem Zeitungsbericht der Neuen Leipziger Zeitung vom 1. November als bemerkenswert und mutig bezeich net.
Eine dritte unmittelbare Reaktion Litts erfolgte auf dem Hochschulverbandstag im Oktober 1932 in Danzig. Hier setzte sich Litt für eine Erklärung der Hochschullehrer „gegen die Unzuverlässigkeit und Lügen-haftigkeit” der nationalsozialistischen Studentengruppe ein — eine Erklärung die u. a. durch die Intervention Sprangers verhindert wurde, wie Spranger selbst 1955 berichtete. Er hielt „die Bewegung der nationalen Studenten noch im Kern für echt, nur in der Form für undiszipliniert”.
Litts Verhalten in den Auseinandersetzungen mit dem NSDStB und seine unmittelbaren Reaktionen zeigen deutlich sein Eintreten für das Nebeneinander von sich tolerierenden Weltanschauungen. Er wandte sich einerseits aktiv mit Sanktionen gegen eine einseitige Politisierung der Universität und behielt sich dabei auch den Ausschluß von Unruhestiftern aus der akademischen Gemeinschaft vor, andererseits versuchte er die Studenten immer wieder zur Besinnung aufzurufen, um sie angesichts der auf sie einstürmenden Weltanschauungen davor zu bewahren, sich unreflektiert und ohne Besinnung Absolutheitsansprüchen hinzugeben.
Diese Positionen entwickelte Litt auf der Grundlage einer differenzierten wie auch distanzierten Analyse der politischen Wirklichkeit der Weimarer Republik, die sich auch in seiner umfangreichen Vortragstätigkeit widerspiegelt, wie z.B. in seinem Vortrag „Die geistige Krise der Gegenwart”, gehalten 1932 in der Frauenhochschule Leipzig.
In diesem Vortrag tritt für Litt, ausgehend von der seit Rousseau bestehenden Sorge um den inneren Menschen bei gleichzeitiger Kulturbejahung und Fortschrittsoptimismus, als neuer Aspekt die Erschütterung des Zutrauens zu den äußeren Leistungen der Kultur hinzu. Beispielhaft nennt er die Wirtschaft, an der „der Mensch in maximalem Ausmass in d.[er] ganzen Kulturwelt, das Versagen des Geistes, und zwar nicht gegenüber einer äusseren Gewalt, sondern gegenüber seinem eigenem Werk” erlebt. Die Tragik dabei läge in dem Umstand, daß die Wirtschaft „zum ersten Mal Millionen von Menschen, nicht bloß einer Elite, in der denkbar schwersten Form [diese] Tatsache zum Bewußtsein bringt.”
Den Hintergrund dieser Aussage bildet der 1932 im Jahresdurchschnitt erreichte Höchststand der Arbeitslosenzahlen von 5,575 Millionen; das entspricht 30,8% der Erwerbstätigen. Im Februar 1932 waren es sogar 6,128 Millionen.
Von der Wirtschaft überträgt Litt diesen Gedanken in die Politik. „[W]er ‚macht’ die Resultate?” fragt er. Seine Antwort lautet: „Alle und keiner. Mechanismus v.[on] Wahl, Abstimmung, Kompromiss. […] Kein Gott macht uns.[er] Schicksal, sond.[ern] wir selbst, und doch sind wir Opfer. […] [K]ein Fürst, sond.[ern] d.[as] Volk regiert, und doch ist die Freiheit eines jeden Unfreiheit eines jeden.”
Durch den Verlust der Wertgewißheiten greife eine tiefe Orientierungslosigkeit um sich, charakterisiert durch „Ohnmacht und Unwissenheit des Einzelnen” und der Gewißheit, „dass von den anderen im Grunde keiner wissender ist, eingeschlossen die Mächtigsten! “
Die Folge davon ist für Litt das „Gefühl d.[er] Depersonalisier[un]g.”, der Vereinsamung, die nur durch angestammte Sozialbindungen, wie z.B. der Familie, aufgefangen werden könne. Diesem Zustand sei der Mensch nicht gewachsen, er suche „Rettung. Heilungsversuche!”, die viele vor allem in der Politik zu finden hofften.
Dabei vermischt sich, so Litt, der Kampf um die Existenz mit dem Kampf um das bedrohte Ich: „Der Kampf um Arbeit und Brot gibt sich die Würde des Kampfes um die moralische Existenz und gewinnt damit die metaphys.[ische] Bedeut[un]g. und Leidenschaft v.[on] echten Glaubenskämpfen — und der Kampf um das bedrohte Ich bedient sich der Methoden des Massenaufgebots und d.[er] Massenleidenschaft, die allenfalls beim Kampf um d.[ie] äussere Existenz am Platze wären. Sammelbecken dieser Meinung ist — die Politik! In ihr meint d.[er] Mensch heute beides zu finden: Rettung aus d.[er] materiellen Not und neue Sicherung seines persönl.[ichen] Daseins. Doppelsinnige Eschatologie!”
Er sieht die bewußte Ausnutzung dieses Phänomens durch die Politik in der Verbindung der “materiellen Verheissungen mit ideellen Zusicherungen”, so daß sich viele „in die Fieberhitze des polit.[ischen] Getriebes” stürzten, wobei „das persönl.[iche] Ich mit seinen Belangen” unterläge. Litt bezeichnet die Politik seiner Zeit als „die reinste Inkarnation jenes un-u.[nd] überpersönlichen Getriebes, in dem das Ich sich selbst verliert”.
Für den Menschen sieht er drei Fluchtpunkte:
Zuerst nennt er den „,Rausch'”. Darunter versteht er den „mit allen Mitteln herbeigeführten Zustand d.[er] Ekstase, in dem das Ich sich selbst zu erleben glaubt, während es in d.[er] Tat, im Strom fortgerissen, sich selbst wenigstens f[ür] einige Zeit vergisst.” Von der Politik bewußt eingesetzt in Form der ,Kundgebung’ als die mit „Massenaufpeitschung bewirkte Erregung der Vielen”.
Das von Litt hier beschriebene Prinzip haben Hitler und Goebbels zur Perfektion gebracht. Wo dies hinführt, sieht Litt deutlich vor sich: „Wollust d.[er] Selbstaufgabe […] Gleichschritt u.[nd] Sprechchor. Kommandiert werden.” Dabei macht er aufmerksam auf die Hintergründe für dieses Verhalten, die er mit der „aussenpolitischen Knebelung” und der „allgemeinen Wirtschaftslage”, welche die „Möglichkeiten an echtem Handeln […] furchtbar beschnitten” hätten, bezeichnet.
Als Gegenextrem bezeichnet Litt zum zweiten die „Flucht in eine Dies-seitseschatologie — die Flucht ins Transzendente!” Als Beispiel der von ihm als „Religion der Kulturverneinung, ja Kulturverzweiflung” bezeichneten Richtung führt er Friedrich Gogarten an.
Zuletzt verweist er auf die „Flucht vor dem Geist und dem Bewusstsein ins Unbewusste, Blut, zu d.[en] Trieben, ins Dunkel-Mystische und Okkulte, zu d.[en] ,Müttern.” Hier beschreibt Litt eine Seelenlage, die Thomas Mann schon 1930 in seiner „Deutschen Ansprache. Ein Appell an die Vernunft” als einen „irrationalistischen, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellenden Rückschlag” charakterisiert hatte, „der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chtonische, die heilige gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte.”
Doch zurück zu Litt. Harmloser sieht dieser im folgenden die „Flucht in den Leib!”, in den Sport und Tanz.

Einen konkreten Lösungsweg gibt Litt in diesem Vortrag nicht. Er verweist auf vorübergehende „Abnorme Notzeiten”, die es auszustehen gelte, wobei die „,Inseln’ personenhaften Daseins, Ehe[,] Familie[,] Gemeinschaft”, zu bewahren seien. Weiter betont er die Bedeutung der Erziehung, die „mehr denn je das Selbst auf sich zurückführen und den Gedanken echt personenhafter Bildung und Verantwortung vor d.[em] Verderben schützen” müsse.
Zusammenfassend kann man sagen, daß Litt sich in seinem Vortrag gegen die einseitige Politisierung des gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wendet und vor allem eine Gefahr im Aufgeben der eigenen Identität mit dem Ziel des Aufgehens in einem großen Ganzen, des Aufgefangenwerdens in einer suggestiven Weltanschauung sieht, die die allein seeligmachenden Lösungen verspricht.

  1. Theodor Litt 1933

Nach der „Machtübernahme” durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 schien die Zeit endlich reif zur Abrechnung mit unliebsamen, aus der „Systemzeit” verhaßten Personen, so daß viele Parteifunktionäre und „alte Kämpfer” in Eigeninitiative und aus andienendem Gehorsam gegen diese nun vorgingen. Jetzt konnte endlich in die Tat umgesetzt werden, wofür sie schon so lange gekämpft hatten.
Die lange Reihe von Angriffen gegen Litt wurde mit einem Artikel im „Freiheitskampf”, der Amtlichen Tageszeitung der NSDAP im Gau Sachsen, vom 4./5. Februar eröffnet. Der Titel lautete: „Marxisten in der Mirag”.22 Darin wurde der noch im Amt befindlichen Sächsischen Regierung vorgeworfen, daß sie “immer noch Marxisten auf Posten setzen läßt, auf die sie unter keinen Umständen gehören.” Hierbei hatte die Gauleitung Sachsens besonders den Programmbeirat der Mitteldeutschen Rundfunk-A.G. im Auge, für den Sachsen als Vertreter „u.a. den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Arndt, ferner Prof. Litt, […] den aktiver Bekämpfer der nationalen Jugend und den liberalen Theologieprofessor D. Müller” ernannte.
Auf der ersten Sitzung des Programmbeirates am 11. Februar 1933 verwahrte sich Litt gegen die Vorwürfe, „daß er Marxist und kein national denkender Mann sowie ein Bekämpfer der nationalen Jugend sei” und forderte ein Erklärung des Beirates, daß er die “Abwehr dieser verletzenden Behauptungen” wünsche. Zu einer solchen Erklärung konnte sich der Beirat allerdings nicht durchringen, lediglich dazu, die Sächsische Regierung zu bitten, den Beirat in Schutz zu nehmen. Doch dazu sollte sie nicht mehr kommen, sie war am 10. März 1933 im Zuge der Gleichschaltung der Länder zurückgetreten, und auch der Programmbeirat sollte in dieser Besetzung nicht mehr zusammenkommen.
Unbeirrt von den politischen Ereignissen hielt Litt an seiner umfangreichen Vortragstätigkeit und vor allem an den schon zuvor festgesetzten Themen seiner Vorträge fest. Am 12. Februar 1933 hielt er zum Festakt anläßlich des 100-jährigen Bestehens des Dresdner Lehrervereins den Festvortrag mit dem Titel „Der Realismus des Erziehers”. Im Nachlaß Litts befindet sich dazu ein ausführliches Redemanuskript sowie eine durch die Litt-Forschungsstelle aufgefundene und bisher in noch keiner Bibliographie erfaßte davon abweichende Druckfassung, die in der Leipziger Lehrerzeitung veröffentlicht wurde. Es ist anzunehmen, daß es sich bei letzterer um einen verkürzten Wortlaut des Vortrages handelt, auf den ich mich im folgenden auch beziehen möchte.
Litt beginnt mit der Feststellung, daß angesichts der 100-jährigen Geschichte des Dresdner Lehrervereins ein „Grundbegriff […] in seiner Geltung und Bedeutung” unverändert geblieben sei: der Idealismus „als die eigentliche Tugend des Erziehers.” Nur in der „allerjüngste[n] Zeit” solle dieser verworfen werden zugunsten eines „Wirklichkeits-” und „Tatsachensinns”. Ursache dafür sei der ‚Zusammenbruch so vieler Illusionen und Hoffnungen”, denn nach dem Krieg sei man mit dem Anspruch angetreten, „mit Hilfe der Jugend […] eine bessere, reinere, gerechtere Welt erstehen” zu lassen, aber „schwere Enttäuschungen” seien für das Volk wie auch für die theoretische und praktische Pädagogik gefolgt. Daraus sei für die Pädagogik nun die Schlußfolgerung des Tatsachensinns, der Selbstbescheidung und des Respekts vor der Wirklichkeit gezogen worden.
Den Hintergrund von Litts Gedankengang bildet die Diskussion um die Grenzen der Pädagogik in der Weimarer Republik. Einen Höhepunkt stellte dabei sein Eröffnungsvortrag auf dem Weimarer Pädagogischen Kongreß im Oktober 1926 mit dem Titel „Die gegenwärtige Lage der Pädagogik und ihre Forderungen” dar, in welchem er sich entschieden gegen die Pädagogisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens wendet.25 Durch den Umschlag in das genaue Gegenteil, vor allem die Bestrebungen, die Pädagogik zu politisieren, sah Litt nun die Notwendigkeit, auf der „Erhaltung der […] pädagogischen Provinz” zu bestehen.
So richtet er seine Kritik im weiteren gegen die Gleichsetzung des Wirklichkeitssinns des Erziehers mit der „Unterwerfung unter bestimmte Tatsachenkreise”, wie z.B. den der Politik, die „dem Erzieher die Normen seines Handelns geben möchte”. Begründet wird diese Forderung, so Litt, mit dem Verweis auf die „Zeit unerhörter Spannung”, in der „das innere und äußere Dasein des Volkes von politischen Entscheidungen bestimmt wird”, so daß „alle Kräfte ohne Unterschied in den Dienst des politischen Wollens gestellt werden” müssen. In einem solchen, seiner Meinung nach falsch verstandenen Realismus sieht er die „Abdankung aller pädagogischen Ideen und Prinzipien”. Der Pädagoge solle sich zwar ein „möglichst realistisches Bild über die Eigenart und Lage der politischen Sphäre […] machen, etwa über die Mitleidlosigkeit politischen Kampfes, er darf sich von diesen Realitäten nicht ausschließlich das Gesetz des Handelns vorschreiben lassen.”
Nun gebe es aber eine Reihe politischer Ziele, denen der Pädagoge zuzustimmen verpflichtet wäre: ein “Hinarbeiten auf einen Zustand, der dem Volke den nötigen Lebensraum sichert, Arbeitsmöglichkeiten bringt, Demütigungen durch übermächtige Nachbarn erspart.”
Problematisch wird für Litt nun die Sachlage erst, wenn der Politiker diese allgemeinen Zielsetzungen in seine Richtung hin konkretisiert und für die Umsetzung die Erziehung im Sinne der „politischen Methoden der Menschenbehandlung” im Kampf „um Menschenseelen und auch gegen Menschenseelen” in Dienst stellen will.

Eine detaillierte Bezeichnung dieser „politischen Methoden der Menschenbehandlung” nimmt Litt noch in seinem Vortragsmanuskript vor.Dabei glaube der Politiker immer an die Allgemeingültigkeit des eigenen Zieles, womit, so Litt, „Dogmatismus […] unbedingte Gläubigkeit, Ablehnung aller Zweifel und Bedenken in d.[er] eigenen Kampffront, Unduldsamkeit gegen alles Andersgerichtete” und eine „Kreuzzugsstimmung” einhergingen — eine Beschreibung, die vor allem auf die NSDAP bei ihrem Aufstieg in der Weimarer Republik zu passen scheint. Es ist anzunehmen, daß Litt angesichts der veränderten politischen Konstellation provokativ wirkende Passagen des Vortrages unter Beibehaltung der inhaltlichen Aussage beiseite ließ.
Doch zurück zur Druckfassung. Hier ist nun der Erzieher auf die Eigenheiten des pädagogischen Handelns verwiesen, auf die Bewahrung der pädagogischen Provinz vor einer einseitigen Überformung durch die Politik. Den „Sinn des erzieherischen Tuns” beschreibt Litt mit der „Sorge um den Menschen, zumal um den werdenden Menschen,,, weiterhin mit der „Sorge um die Seelen, um die geistig-sittliche Überlieferung, um eine Reihe von Werten, an die der Politiker in der Hitze des Kampfes nicht denken kann.” Die Aufgabe der Erzieher bestehe darin, als „Gegenmacht gegenüber der Glut des Hasses und der Verhärtung der politischen Meinungen aufzutreten.” Vor allem soll der Erzieher „die Unmündigen [nicht] bereits mit Haßkomplexen vergiften, darf nicht ihr Menschentum vernichten helfen.”
Die Formulierung der Aufgabe des Erziehers als „Gegenmacht” zur politischen Sphäre stellt gegenüber dem Redemanuskript eine Verschär-
fung der Aussage dar, da Litt dort noch von einem Komplementär-verhältnis ausgeht. Angesichts der, wie es Litt dann im Vortrag tatsächlich formuliert, „von allen Seiten her dem Erzieher [drohenden] Gefahr der Überwältigung und Dienstbarmachung”, scheint Litt selbst die Abwehrposition der Pädagogik verstärken zu wollen, um „die eigentümliche Welt seines Wirkens [des Erziehers, als der sich auch Litt verstand, C.H.] nicht überrennen [zu] lassen von erziehungsfremden Mächten.” — Aussagen, die sich so im Manuskript nicht finden. Litt stellte damit an die Pädagogik m.E. allerdings Anforderungen, denen sie im Hinblick auf den jetzt einsetzenden umfassenden Zugriff nicht gewachsen sein konnte.

Im weiteren Vortrag begegnet Litt der Liberalismuskritik seiner Zeit. Er beschreibt eine Forderung des Liberalismus damit, „daß nicht alle geistigen Güter und Bewegungen in den Strudel der politischen Leidenschaften hineingezogen werden dürfen, daß die pädagogische Provinz vor dem Politiker zu schützen ist. In diesem Sinne sollten alle Erzieher liberale sein.” Dies ist, wie ich finde, eine bemerkenswerte Äußerung in Anbetracht der Verteufelung des Liberalismus durch die neuen Machthaber und wiederum im Manuskript nicht enthalten.
Am Ende des Vortrages verweist Litt noch einmal auf die Diskussion über die Grenzen der Pädagogik in der Weimarer Republik. „Wir können nicht die politische Sfäre pädagogisieren, wie Illusionisten der Nachkriegszeit glaubten. Aber wir sollen uns auch nicht blind dem Politiker zu Vor-spanndiensten ergeben.” Dabei stellt Litt hohe Anforderungen an den Erzieher, der ja auch, so Litt, ein „politisches Ziel in der Seele” trage und deshalb durch „kritische Selbstbesinnung und Selbstzucht” „im eigenen seelischen Haushalt auf saubere Grenzziehung bedacht sein” müsse. Dies ist eine hohe Anforderung, die Litt jedoch selbst vorlebte. Soweit zu diesem Text.
Mit Beginn des ersten Semesters nach der „Machtübernahme”, am 18. April 1933, hatten die neuen Machthaber die verfassungsmäßige Ordnung der Weimarer Republik im wesentlichen faktisch außer Kraft gesetzt. Ein wichtiges Instrument dazu war die nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 von Hindenburg erlassene Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat”, mit der unter Ausnutzung der günstigen Gelegenheit mit einem Schlag die rechtsstaatlichen Grundrechte außer Kraft gesetzt und durch die Herstellung des dauernden zivilen Ausnahmezustands willkürliche Maßnahmen gegen Andersdenkende ermöglicht wurden. Ergänzend hierzu stellte die „Heimtückeverordnung” vom 21. März 1933 jede Kritik an der neuen Regierung unter schwere Strafen. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7. April 1933 gab die Handhabe zur Entlassung der im Sinne des Nationalsozialismus politisch belasteten und „nichtarischen” Beamten und damit auch die Grundlage für die „Säuberung” der Hochschulen.
An den Universitäten war jetzt die „große Stunde” der nationalsozialistischen Studenten gekommen, die nun die offenen Rechnungen mit unliebsamen Hochschullehrern aus der „Systemzeit” begleichen wollten. Da die neuen Machthaber über kein wissenschaftspolitisches Konzept verfügten, entstand, so der Historiker Michael Grüttner, an den Hochschulen ein Vakuum, welches der NSDStB und die von Nationalsozialisten beherrschte Deutsche Studentenschaft auszunutzen versuchten, um „auf eigene Faust eine ‘nationalsozialistische Hochschulrevolution’ zu inszenieren.”
In einem Brief an seine Frau vom 3. Mai 1933 schilderte Litt den Beginn des ersten Semesters nach der Machtübernahme mit den ersten Auswirkungen des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”: „Also vor allem […] Beurlaubungen'! Hellmann, Witkowski, Goetz, Apelt, Richter, Everth [...]. Also das Politische war einstweilen stärker als das Semitische." Weiter heißt es da: "Einstweilen kommandieren in den Ministerien noch die Studenten, ein unsagbar entwürdigender Zustand. [...] Mein Kolleg begann mit einer Trampeldemonstration (minutenlang!), die ich nicht erwartet habe: offenbar eine Demonstration derjenigen Studenten, die keine 'gleichgeschalteten' Professoren wollen! [...] Ich habe dann, wiederholt von Beifall unterbrochen, die Stellung des Philosophen und Pädagogen zur nationalsozialistischen Lehre klar und grundsätzlich fixiert und das Recht der freien Meinungsäußerung und Kritik mit Nachdruck für mich in Anspruch genommen (soweit eben der Nationalsozialismus ‚Weltanschauung' und nicht bloß Politik sein will) — alles selbstverständlich in einer absolut nicht provozierenden Form. Es wäre feige gewesen, hätte ich diese Stellungnahme vermieden."28 Der Beginn des Sommersemesters brachte für Litt allerdings nicht nur die Erfahrung eines starken Rückhalts in einem großen Teil seiner Hörerschaft, es brachte auch die erste Auseinandersetzung mit dem NSDStB, der nach der „Machtübernahme" das Recht für sich in Anspruch nahm, die Hochschullehrer nach seinen Maßstäben zu beurteilen. Im Mai 1933 forderte die Leipziger Studentenschaft von Litt — unter Zugrundelegung seines Vorgehens gegen die nationalsozialistischen Studenten im Jahre 1932 — den Rücktritt als Prorektor. Dieses Ansinnen wies Litt unter Androhung, von seinem Amt als Hochschullehrer zurückzutreten, erfolgreich als unberechtigt zurück, ausführlich dargestellt bei Wolfgang M. Schwiedrzik und Friedhelm Nicolin.29 Auf der „Los von Versailles!"—Kundgebung am 28. Juni 1933 ließ es sich der Führer der Leipziger Studentenschaft, Eduard Klemt, natürlich nicht nehmen, wiederum an die Vorgänge der Kundgebung im vergangenen Jahr zu erinnern. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte er: „Inzwischen hat die Jugend gesiegt." Doch Litt war immer noch im Amt. Dies schien auch für einen Parteifunktionär der Gauleitung Sachsens einen nicht hinnehmbaren Zustand darzustellen. Die Rede ist von Arthur Göpfert, dem Gauamtsleiter des NSLB Sachsens, der eine großangelegte Kampagne gegen Litt plante. Einen Anlaß brauchte er bei Litt nicht lange zu suchen, da dieser sich trotz der veränderten politischen Verhältnisse keine Zurückhaltung in der Stellungnahme zu Fragen der nationalsozialistischen Weltanschauung auferlegte. Im April 1933 war Litt auf dem baltischen Lehrertag in Riga zu Vorträgen eingeladen. Dort sprach er mehrmals über das Thema „Die Krisis der Humanitätsidee", dessen unangepaßte Behandlung durch Litt sich schnell bis nach Dresden herumsprach. Außerdem war da ja noch das von „Systemgeist" getragene und bisher ungesühnte Vorgehen gegen die nationalsozialistische Studentenschaft von 1932. Am 6. und 13. Juli sollte beim WDR jeweils ein Rundfunkvortrag Litts gesendet werden. Unmittelbar vor der Ausstrahlung jedoch wurden die beiden Vorträge vom Programm genommen. Am 30. Oktober 1933 rechtfertigte sich der WDR in einem Schreiben an Litt: „Die Parteistellen des Gaues Sachsen baten uns in einem dringenden Schreiben unmittelbar vor der Sendung, die Vorträge abzusetzen. [A Eine Durchgabe Ihrer beiden Vorträge hätte damals vermutlich eine öffentliche Auseinandersetzung zur Folge gehabt, die weder Ihnen noch uns erwünscht sein dürfte."31 In diesem Fall läßt sich der genaue Urheber sowie die konkrete Begründung nicht ermitteln, es ist aber davon auszugehen, daß die Absetzung der Vorträge den Beginn der Maßnahmen Göpferts gegen Litts bildete. Ein weiterer Vortrag, den Litt auf Einladung des Pädagogisch-Psychologischen Instituts München Anfang August 1933 auf der Tagung „Die Erziehung im nationalsozialistischen Staate" mit dem Thema „Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate" halten sollte, wurde wiederum durch die Intervention Göpferts verhindert. Hierbei hatte Göpfert einen ungleich größeren Trumpf in der Hand, als es bei den Vorträgen im WDR der Fall war. Das Protektorat der Tagung sollte Hans Schemm, der bayrische Staatsminister für Unterricht und Kultus sowie Gauleiter der NSDAP der Bayrischen Ostmark und außerdem Gründer und „Reichswalter" des NSLB, also mit Göpfert als dem Gauamtsleiter des NSLB Sachsen über diese Organisation bestens bekannt, übernehmen. Göpfert sendete im Vorfeld der Veranstaltung am 17. Juli Schreiben an Schemm und die Organisatoren, in denen er Litt als „durch den Kampf gegen die nationalsozialistische Studentenschaft politisch [...] stark belastet" bezeichnet. Gleichzeitig schrieb er an Litt „Wenn es Ihnen bekannt ist, mit welcher Hochachtung und Verehrung ich auf Ihr wissenschaftliches Werk schaue, können Sie vielleicht ermessen, wie tief ich die von Ihnen in den letzten Jahren gezeigte politische Haltung bedaure." Hier werden die Motive Göpferts deutlich, der keine Stellungnahme der Partei bzw. des NSLB, sondern sein persönliches Mißfallen formuliert und unter Ausnutzung seiner exponierten Stellung gegen Litt vorgeht. Es wäre eigentlich ein einfaches gewesen, wenn Hans Schemm in seiner Funktion als bayrischer Kultusminister den Vortrag Litts untersagt hätte, dazu fehlte ihm aber anscheinend die rechtliche Grundlage. So baten nun die Veranstalter Litt in ihrem Schreiben vom 20. Juli, vom Vortrag zurückzutreten, mit dem Verweis auf „Vorwürfe, die sich vor allem auf [... das] Verhalten als Rektor gegenüber der N.S.D.A.P. und auf [...] [die] Einstellung hinsichtlich 'Individuum und Gemeinschaft', Hegelsche Dialektik u.a. beziehen." Weiter verwiesen sie auf „unliebsame [...] Störungen" und richteten die Bitte an Litt, „uns und Ihnen [...] Unannehmlichkeiten zu ersparen."35 — kein Verweis auf restriktive Konsequenzen des Staates also, sondern die Angst vor Unannehmlichkeiten. So einfach machte es Litt der Tagungsleitung jedoch nicht. Er forderte diese am 23. Juli auf, seinen Vortrag, wenn er denn nicht erwünscht sei, vom Programm zu nehmen und stellte den Druck des Vortrages in Aussicht, dessen Veröffentlichung dann auch in „Die Erziehung" erfolgte.» Auf dem Schreiben Göpferts vom 17. Juli notierte Litt handschriftlich die sich anschließenden Ereignisse: „Meine Erwiderung hat Herr Göpfert spätestens am Morgen des 22. Juli erhalten. Am Abend desselben Tages erfolgte dann sein neuer Vorstoß in der Versammlung des studentischen Kampfbundes deutscher Christen." Auf dieser Versammlung verschärfte Göpfert die Kritik an Litt, indem er ihn beschuldigte, in seinen Rigaer Vorträgen den Nationalsozialismus und Adolf Hitler herabgesetzt zu haben. Das Sächsische Ministerium für Volksbildung forderte sofort am 24. Juli über den Rektor der Universität Leipzig, Achelis, von Litt eine verantwortliche Äußerung dazu,» d.h. die Beschuldigung Göpferts allein war ausreichend, um Litt zu einer Rechtfertigung aufzufordern. Nicht Göpfert mußte seine Anschuldigungen, sondern Litt seine Unschuld beweisen. Er tat dies sogleich am 25. Juli 1933 in einem ausführlichen Brief an das Dresdner Ministerium, in welchem er den Inhalt des Vortrages „Die Krisis der Humanitätsidee" kurz umriß. Litt ging von der Bedrohung der deutschen Bildungsüberlieferung durch starke Gegenkräfte aus wie dem Neuprotestantismus, dem Triebhaft-Unterbewußten und dem soziologischen Realismus, „der nur in der ‚Gesellschaft' und ihren Kämpfen die massgebende Realität anerkennen will und die Bildung zum bloßen ‚Überbau' entwertet", außerdem „den unbedingten 'Primat der Politik' verkündet, der den Glauben an die Autonomie von Wissenschaft und Kunst u. dgl. alsliberales’ Vorurteil ablehnt […].” Als Vertreter nannte Litt Ernst Krieck und Teile der deutschen Studentenschaft. Demgegenüber betonte Litt, daß „das recht verstandene Wohl des deutschen Volkes nicht nur eine geschlossene Einheit des politischen Willens, sondern auch eine Pflege der Bildung und Bildungstradition fordere […], dass das pädagogische Handeln und Wirken nicht einfach den Formen des politischen Handelns unterworfen werden dürfe.” Pädagogik und Politik stünden in einem Komplementärverhältnis, „in dem die Bildung der Politik zur Seite tritt”. Litt verwies nun darauf, daß „[i]n allen diesen Ausführungen […] nichts enthalten gewesen [sei], was auch bei argwöhnischster Auslegung als ,Herabsetzung des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers’ bezeichnet werden kann.” Bliebe noch die Behauptung des ,„Nichtverstehens der deutschen Jugend’, mit der, so Litt, „allenfalls derjenige Teil meiner Ausführungen gemeint sein [kann], der sich auf das Überwuchern des politischen Aktivismus bezog”, dessen Übertreibungen Litt trotz Verständnis seiner Ursachen nicht gutheißen könne, da er die Aufopferung einer Bildungstradition zur Folge habe, der Litt „ein Leben lang gedient […] [hatte] und die […] [ihm] für die deutsche Zukunft […] unentbehrlich scheint.”
Alles in allem hatte Litt zwar nicht den Nationalsozialismus herabgewürdigt, sich aber kritisch mit wesentlichen weltanschaulichen Positionen desselben auseinandergesetzt.
Für den Sächsischen Volksbildungsminister Wilhelm Hartnacke war die Angelegenheit mit Litts Gegenäußerung erledigt, sah er doch Göpferts Kritik in seinem Antwortschreiben vom 28. August lediglich als „Kritik der Zeit” an.41 So leicht konnte Litt die Beschuldigungen nicht nehmen. An Spranger schrieb er am 12. September 1933: „Das Existieren in dieser Atmosphäre der Anfeindung, Verleumdung, Knechtung wird mir von Tag zu Tag mehr zur Qual. Ich habe darüber meinem Minister Hartnacke einen sehr deutlichen Brief geschrieben.” In dem Brief an Hartnacke vom 31. August 1933 kommt die Belastung der nun seit reichlich einem halben Jahr auf Litt einstürmenden Angriffe zum Ausdruck. Er bezeichnete die Vorstöße Göpferts als „Angriff auf […] [seine] bürgerliche und berufliche Existenz”. Weiter schrieb er an Hartnacke: „Ich brauche nicht zu sagen, was mir widerfahren wäre, wenn der Angriff sich als begründet erwiesen hätte.” Die oben bereits erwähnte Heimtückeverordnung lieferte eine rechtliche Grundlage zur Ahndung solcher „Vergehen”, wie sie Litt vorgeworfen wurden. Ein Beispiel dafür ist der Philosoph Hans Leisegang, der 1934 zu 6 Monaten Haft wegen Beschimpfung des „Führers” verurteilt wurde. Eine Handlung Leisegangs, die Litt in einem Brief an Spranger als unklug bezeichnete.
Bei Litt stellte sich in dieser Zeit das Gefühl einer ständigen Bedrohtheit ein. Am 29. August 1933 schrieb er an Spranger: “Natürlich wird, wenn dies erledigt ist, wieder etwas Neues kommen. Ich schlage aber unentwegt um mich, so lange ich noch auf meinem Posten stehe. Der Münchener Vortrag ist gestern mit einer entsprechenden Vorbemerkung an die Druckerei abgeliefert worden.”
Göpfert hatte es mit seiner doppelten Strategie, einmal Vorträge Litts durch vorzeitige Intervention zu verhindern und andererseits, Litt auf öffentlichen Kundgebungen anzugreifen, dank vorauseilenden Gehorsams, geschafft, daß Litt für kurze Zeit faktisch Redeverbot hatte. An Aloys Fischer schrieb Litt am 26. Juli einen deutlichen Brief: „Es ist um dieses Münchener Vortrags gegen mich ein wahres Kesseltreiben arrangiert worden, immer von ganz bestimmten einflußreichen Leuten […]. Verschieben wir unsere Zusammenkunft auf die Zeiten, da jemand, der nicht abgestempelt ist, auch auf pädagogischen Tagungen das Maul aufmachen darf. Oder heißt das ad kalendas Graecas aufschieben?”46
Mit der abschließenden Entscheidung durch das Sächsische Ministerium für Volksbildung, der in die8em Fall zuständigen Behörde, war die Sache aber noch nicht ausgestanden, die Studenten gaben keine Ruhe. In einem Schreiben an das Sächsische Ministerium für Volksbildung vom 28. Oktober 1933 berichtete der Kreisführers IV des NDStB, Wolf Friedrich, daß der Dekan Weidmann ihn in Kenntnis gesetzt habe, „dass eine Gruppe von Studenten beabsichtigt, in dem ersten Kolleg von Professor Dr. Litt einen Sprechchor auftreten zu lassen mit dem Titel: ‘Was halten Sie von Ihrem Vortrag in Riga?'” Friedrich teilte weiter mit, er hätte „dafür Sorge getragen, dass die Ruhe gewahrt wird und dieser Sprechchor an der Universität selbstverständlich nicht auftritt.” Allerdings, so Friedrich weiter, wäre die „Studentenschaft aber geschlossen der Meinung […], dass Professor Dr. Litt in der gegenwärtigen Situation sich nicht die nötige Zurückhaltung gegenüber dem neuen Staat auferlegt.” So sehe er sich gezwungen, „dem Ministerium von der beiliegenden Broschüre des Professor Dr. Theodor Litt ,Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate’ Kenntnis zu geben.”47 Das von Friedrich verfaßte Gutachten, welches er seinem Schreiben zur Untermauerung seiner Anschuldigungen beigelegt hatte, erwies sich als so verworren und substanzlos, daß dieser erneute Versuch nicht zu seinem Ziel kommen konnte.
Ministerium und Universität waren jetzt bestrebt, die Angriffe aus der Studentenschaft zu unterbinden. Einerseits sollten die Beschuldigungen gegen Litt inhaltlich entkräftet werden, andererseits sollte sich Litt in einer Erklärung „vorbehaltlos hinter den nationalsozialistischen Staat stellen”, so der Vorschlag von Oberregierungsrat Lange in einer Besprechung mit Weickmann am 2. November.48
So schrieb Weickmann am 30. Oktober 1933 an das Sächsische Ministerium für Volksbildung: „Was die Meinung des Kreisführers betrifft, dass `Professor Litt sich in der gegenwärtigen Situation nicht die nötige Zurückhaltung gegenüber dem neuen Staate auferlege’, so muss ich sagen, dass mir die zum Beweise vorgelegte Broschüre keine Anhaltspunkte für diese Behauptung zu bieten scheint.”49 In dieses Schreiben wurde Litts Stellungnahme zu Friedrichs Gutachten übernommen, dessen Widersprüchlichkeit und Substanzlosigkeit Litt ohne Mühe offenlegte. In einer Besprechung, die die Dekane Weickmann und Freyer mit Litt am 29. Oktober 1933 führten, legten sie ihm Zurückhaltung nahe.50
Eine grundsätzliche Stellungnahme hatte Litt schon, unabhängig von Langes Vorschlag, mit seiner einleitenden Bemerkung zur ersten Veranstaltung der Vorlesung „Pädagogik, Politik und Weltanschauung” am 2. November 1933 abgegeben, die er nachträglich am 5. November schriftlich fixierte. Er begann mit der Reflexion über den nationalsozialistischen Gruß, um dann daran sein Verständnis von Gemeinschaft darzustellen: „Dieser Gruss symbolisiert, wie wir alle wissen, das Bekenntnis zu unserer Volksgemeinschaft, zu der neuen staatlichen Form, die sie sich gegeben hat, und zu dem Führer, den sie sich erkoren hat. Ich frage aber weiter, wo und wie diese Gemeinschaft sich im einzelnen verwirklicht. Sie verwirklicht sich überall da, wo deutsche Menschen in gemeinsamer Arbeit zusammen stehen.” Nach seiner Auffassung von der akademischen Gemeinschaft wäre es angebracht gewesen, „wesentliche Einwände” gegen Positionen eines Dozenten zuerst bei diesem selbst vorzubringen. Hier griff Litt implizit die Denunziation betreffend seiner Vorträge in Riga auf und betont: „Eine direkte Befragung würde unter Umständen genügen, die Sache richtig zu stellen und ein Weiterwuchern der Gerüchte zu verhindern. […] Hierin erblicke ich […] einen wesentlichen Teil der Verpflichtungen, zu denen die Glieder der akademischen Gemeinschaft sich durch den Austausch des deutschen Grusses bekennen.”
Außerdem hatte er in einer Ansprache, in der er auf die Bedeutung der Reichstagswahl vom 12. November 1933 hinwies, wiederum Stellung genommen zu den „Zielen des neuen Staates”. Litt zitierte dazu aus seinem Buch „Geschichte und Leben” einen Abschnitt, in welchem er sich gegen den Vertrag von Versailles wandte. „Daß die Art von europäischer Politik, deren Frucht der Weltkrieg gewesen ist und die in den sogenannten ‚Friedensschlüssen’ ihre Krönung erfahren hat, den Ruin unserer Kultur nach sich ziehen muß, dürfte über allem Zweifel stehen. […] Gegen wen richten sich denn die Forderungen, die im Namen eines ernst gemeinten ‚Ausgleichs’ erhoben werden können. Doch wohl nur gegen die, die durch Verstümmelung, Knechtung, Beraubung eines Volks die elementarsten Voraussetzungen eines gesamteuropäischen Zusammenlebens zerstört, durch ihren ‚Frieden’ die Friedlosigkeit permanent gemacht haben.” 52
Zu Beginn des Wintersemesters 1933/34 scheint Litt eine endgültige Klärung seiner Position angestrebt zu haben, indem er seinen Angreifern scheinbar Zugeständnisse machte, um ihnen die Argumente zu nehmen. Dies ging allerdings nicht so weit, sich selbst zu verleugnen: „Ich sehe nur eins: bleiben, der man ist, in aller Stille seine Arbeit tun, für die unsereins noch immer wieder einen Kreis von Dankbaren findet, und es der Zukunft überlassen, wie weit man, aufs Ganze gesehen, Recht behält’. […] Um mich ist es zur Zeit ruhig […]. Aber es kann immer wieder etwas vorkommen, da ich im Grundsätzlich—Weltanschaulichen kein Blatt vor den Mund nehme”, schrieb er am 24. Dezember an Spranger.
Allen Anschuldigungen zum Trotz hatte Litt den Vortrag „Die Krisis der Humanitätsidee” am 22. Dezember 1933 nochmals vor dem Leipziger Lehrerverein gehalten.

  1. Theodor Litt 1934-1936

Gleich im Januar 1934, als die Vorlesungen des jüdischen Philosophen Richard Kroner von NS-Studenten gesprengt worden waren und Hermann
von Braunbehrens als dessen Senior ein Protokoll über die “maßlosen Kra-wallszenen” an alle namhaften Universitätsphilosophen, wie u.a. Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Eduard Spranger, Wilhelm Flit-ner, in der Hoffnung auf Beistand und Protest richtete, wie v. Braunbehrens in einem Brief an Friedrich Nicolin am 8. Februar 1986 schildert, war „Litts unmittelbar an Kroner gerichteter Brief die eindeutigste und mutigste Reaktion.”53 Gleichzeitig war es für Litt selbstverständlich, nach Kroners Entlassung den nun lehrerlosen Braunbehrens unter seine „Fittiche” zu nehmen.
Das Sommersemester 1934 sollte für Litt äußerlich einige Ruhe bringen, da er infolge eines gebrochenen Arms vom Ministerium beurlaubt wurde. Darüber hinaus bedeutete für Litt der sogenannte „Röhm-Putsch”, in welchem in der Zeit vom 30.6.-2.7.1934 mindestens 85 SA-Führer und Regimegegner von der SS mit der Begründung der „Staatsnotwehr” ermordet worden waren, einen inneren Tiefpunkt. Am 17. August schrieb er aus dem Urlaub an Spranger mit dem wiedererstarkten Gefühl ständiger Bedrohung: „Alles zusammen liegt derart schwer auf mir, dass die erhoffte Auffrischung durch Landschaft, Wandern und dergleichen völlig ausgeblieben ist. Man schleppt seine Last überall mit und grübelt von Morgen bis Abend. Immer wieder stehe ich dabei vor der Frage, ob es für unsereinen nicht besser und richtiger ist, selbst die Pensionierung zu beantragen. […] Vor der Wiederaufnahme der Vorlesungen graut mir genauso wie Ihnen. Man spürt ja ständig die Faust an der Kehle. […]. Ein grauenhafter Zirkel, in dem man da rund getrieben wird!” Zerrissen zwischen der Angst und dem Verantwortungsbewußtsein gegenüber Gleichgesinnten begann Litt das Wintersemester 1934/35.
Trotz allem trug er sich weiter mit Vortrags- und Publikationsplänen, um sich „vor dem moralischen Erstickungstod zu bewahren”, wie er am 8. Januar 1935 an Aloys Fischer in bezug auf seinen Vortrag „Philosophie und Zeitgeist” schrieb. In diesem Brief verdeutlichte Litt im weiteren die Aufgabe, die er für sich in der aktuellen Situation sieht: „Und glauben Sie mir: wie viele sind es, die von uns, gerade von uns ein erlösendes Wort erwarten, hören wollen, um sich nicht selbst ganz verlassen vorzukommen. […] [S]ie verzweifeln, wenn die Anwälte des deutschen Geistes schweigen oder gar sich dem Ungeist zur Verfügung stellen.”
Den von Litt geplanten Vortrag „Philosophie und Zeitgeist” bot er vorab am 20. Oktober 1934 dem Verlag Teubner zur Veröffentlichung an.54 Doch Teubner reagierte, nach allem, was bisher gewesen war, vorsichtig und wollte erst das Manuskript einsehen. Im Anschluß daran lehnte er ab. „Man wird nicht sehr geneigt sein, eine Schrift zu erwerben, von der man nach Verfasser und Titel weiß, daß sie die Korrektur der heute bestehenden Meinungen zur Absicht hat […]”, schrieb Teubner am 1. November 1934.
Litt hielt den Vortrag auf Einladung der Kant-Gesellschaft am 10. November 1934 in Berlin. Am 15. November reagierte der „Völkische Beobachter” mit einer harschen Kritik, die Litt nun nicht mehr treffen konnte. Er schrieb am 15. November an Spranger: „Heute gab mir ein Kollege die ausführliche Besprechung meines Vortrags im ,Völk[ischen] Beob[ach-ter] […]. Sie ist ausgefallen, wie zu erwarten, mit radikalen Verdrehungen des von mir Gesagten. Ich fühle mit Vergnügen, wie völlig abgehärtet ich dagegen bin. Jetzt bin ich doch so weit, dass ich Vieles mit Gelassenheit ertragen kann.” Und so hielt Litt den Vortrag nochmals auf Einladung der Philosophischen Gesellschaft am 3. Dezember in der Universität Bonn.
Eine kurze Zusammenfassung erschien bereits in der „Kölnischen Zeitung” am 10. Januar 1935, die zum Vortrag erweiterte Fassung im Anschluß daran bei Felix Meiner. Dazu schrieb Litt an Spranger bereits am 15. Dezember 1934 nicht ohne Galgenhumor: „Ich mustere mit meiner Frau schon die in Betracht kommenden Univ.[ersitäts]-Städte, in die ich exiliert werden kann. Es wird wieder kräftig gegen mich gearbeitet — und wird Hartnacke auf d.[ie] Dauer widerstehen können? […] Nach Weihnachten erscheint mein Berliner Vortrag, mit ausdrücklicher Erwähnung des Kölner Vortrags des Reichspressechefs O.[tto] Dietrich ,Philos.[ophische] Grundlagen des Nationalsozialismus’. Den müssen Sie lesen. ,Zum Kringeln!’ sagt mein Ältester in solchen Fällen. Möglich, dass die besagte Schrift das Mass voll macht!”
Und so war es dann auch. Hatten Universitätsleitung und Ministerium die nationalsozialistischen Studenten Ende 1933 nochmals in Zaum halten können, so brach zwei Tage nach dem Brief an Spranger der Sturm der Entrüstung unter den Studenten in Form einer „genau abgestimmten Kampagne gegen Litt” los.56 Den Kern der Beschuldigungen bildete der Vorwurf, daß durch Theodor Litts Wirken an der Universität „nicht nur eine Gefährdung der politischen Erziehung der Studenten, sondern eine Gefährdung der politischen Erziehung unseres gesamten Volkes” erfolge.
Am 23. Dezember 1934 kommentierte Litt mit erstaunlicher Distanz das aufgebrachte Gebaren in einem Brief an Spranger: „Sie sollen doch in Kürze hören, daß der ‘Krach um Jolanthe — um Litt’ in vollem Gange ist. Nachdem es schon längere Zeit gekriselt hatte, brachte die ‘Hochschul-Zeitung’ den offenen Ausbruch. Urheber sind natürlich die ,Führer’ der Studentenschaft; ihr Opfer ist der völlig willenlose Nazi-Rektor [Arthur Golf, C.H.], der aus Angst vor ‘Erregung’ verordnete, dass meine Vorlesungen ab 18.12. auszufallen hätten.” Litt ging schon zu diesem Zeitpunkt davon aus, daß „die genannten eine Niederlage erlitten haben”, denn wie so oft stand seine Hörerschaft hinter ihm und auch der ihm gesonnene Minister für Volksbildung Wilhelm Hartnacke ließ sich nicht mitreißen. Weiter schrieb Litt: „Ich begrüsse das Ganze (wie auch der Ausgang sein möge), weil die Unerträglichkeit gewisser Dinge damit noch offenbarer wird. […] Wir gehen mit völlig ungestörter Seelenruhe dem Fest entgegen.”
Diesmal wurde die Entscheidung über Litt delegiert, denn darüber, ob die Philosophie Litts „mit den Grundsätzen des nationalsozialistischen Staates verträglich ist”, sollte der Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, befinden.58 Zu einer Entscheidung kam es aber erst im Mai 1935. Litt durfte seine Lehrtätigkeit unter der Bedingung, sich ganz auf „das Gebiet der wissenschaftlichen Philosophie [zu] beschränken”, weiter ausüben.59 Litt behielt sich aber in einem Schreiben an den neuen Rektor Felix Krüger am 22. Mai 1935 vor, sich weiterhin mit der nationalsozialistischen Weltanschauung auseinanderzusetzen, auch wenn er „möglicherweise von den Ansichten namhafter nationalsozialistischer Schriftsteller abweichen könnte”.60 Inzwischen konnte Litt aber im Januar 1935 den Vorlesungsbetrieb wieder aufnehmen.
Das Sommersemester 1935 sollte für Litt noch einmal mit einer Ungewißheit beginnen, die dann in eine schlimme Gewißheit umschlagen sollte, denn der sächsische Volksbildungsminister Wilhelm Hartnacke wurde in den Ruhestand versetzt und an seine Stelle trat der Gauwalter des NSLB Sachsens Arthur Göpfert.
Infolge der fast stetig — außer im Sommer 1934 — andauernden Auseinandersetzungen hatte sich Litt Schritt für Schritt von seinem Hoch-schullehreramt gelöst. Am 26. Oktober 1935 schrieb er an Aloys Fischer: „Dem Semesterbeginn sehe ich mit der Empfindung wahren Ekels und gleichzeitig, was meine Stellung angeht in der Erwartung aller Möglichkeiten entgegen.” Mit dem Hintergrund der am 15. September 1935 anläßlich des Reichsparteitages der NSDAP verkündeten „Nürnberger Gesetze”, mit denen den Juden ihre bürgerlichen Rechte genommen und Eheschließungen mit „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes” verboten wurden, schrieb Litt an den mit einer sogenannten Halbjüdin verheirateten Kollegen weiter: „Offenbar ist doch jetzt jede Scham gefallen. Man fühlt sich sicher und pfeift auf das Urteil der Welt. Ich glaube, die Hochschulen werden noch gründlich durchgekämmt werden.”
Ende 1935 war Litts Motivation am Boden. Am 27. Dezember 1935 schrieb er an- Spranger: „Krueger sagte mir, es werde von Neuem gegen mich gewühlt. Gemerkt habe ich nichts davon. […] Meine Arbeitslust und Energie ist fast gleich 0. Ich arbeite nur für einige Vorträge im Westen.”
Als im Februar 1936 die Studentenschaft in einer Kampagne gegen Litt im „Offenen Visier” wiederum die Vorgänge von 1932 aufgriff,61 setzte sich Litt noch einmal entschieden zur Wehr und verlangte vom Reichs-erziehungsministerium, daß er in „einer durchgreifenden Form gegen Angriffe dieser Art geschützt werde.”62
Das Ministerium sah anscheinend keinen Handlungsbedarf, denn Litt wurde über den Prorektor Golf63 und den kommissarischen Leiter des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung Arthur Göpfert64 auf die Entscheidung von Rudolf Hess verwiesen. Damit drehte sich die ganze Sache im Kreis. Lins Argumentation -wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen, denn er wollte ja vor allem eine endgültige Klärung der Vorgänge der Vergangenheit, stattdessen erhielt er erneut eine beschwichtigende Zusicherung für die Zukunft, die sich bis jetzt immer nur von kurzer Dauer gezeigt hatte.
Litt begann zu resignieren, als er am 17. Mai 1936 an Spranger schrieb: „Bei mir verstärkt sich immer mehr der Eindruck, dass es mit unserer Auffassung vom deutschen Geist für lange Zeit aus ist. […] Ich finde, dass Sie zur Zeit noch mehr Initiative haben als ich, der ich (ohne körperlich irgendwie angegriffen zu sein) eine tiefe innere Mattigkeit verspüre.”
Und am 23. Mai setzte er diesen Gedanken fort: „Aber wenn ich die Feder in die Hand nehme überfällt mich der Gedanke: Du sprichst ins Leere. [. .1 Dazu die Ansicht, von Unberufenen kritisiert, wahrscheinlich zerfetzt zu werden, ohne, dass die Möglichkeit entsprechender Replik besteht. Diese ganze Atmosphäre widert mich so an, dass mir das Schweigen immer wieder als das Beste erscheint.”
Dieser Gedanke scheint sich bei Litt immer mehr verfestigt zu haben, so daß es anscheinend nur noch auf einen entsprechenden Anlaß ankam, den er dann auf seiner Vortragsreise nach Österreich im Oktober 1936 geboten bekam. Nachdem er bereits drei Vorträge, in Graz: „Der Staatsgedanke des deutschen Idealismus”, in Marburg an der Drau: „Die Wiederherstellung der natürlichen Weltansicht” und in Wien „Die Krisis des Geistes” gehalten hatte, wurde ihm der für den Österreichischen Rundfunk am 26. Oktober geplante und zuvor beim Reichserziehungsministerium eingereichte Vortrag „Der Mensch und das Schicksal” am gleichen Tag untersagt. Die folgenden zwei Vorträge in Wien und Brünn waren zwar nicht erwünscht, Litt hätte sie dennoch halten können. Er brach die Reise aber sofort ab und diktierte am 28. Oktober 1936 seinem Assistenten Walter Steger sein Emeritierungsgesuch.

  1. Schlußbemerkung

Welche Aspekte in Litts Denken waren es, die sich als widerständig gegen die Suggestionen des Zeitgeistes erwiesen?
Ein Aspekt ist m.E. Litts Auffassung, daß die geistige Welt ihrem Wesen nach dialektisch sei. Er betrachtete die Wirklichkeit, wie es Wolfgang Klafki 1955 in seinem Aufsatz „Dialektisches Denken in der Pädagogik” formulierte, „als Wirkzusammenhang dialektisch aufeinander bezogener Momente.” Diese Betrachtungsweise bewahrte ihn davor, einer einseitigen weltanschaulichen Verabsolutierung Folge zu leisten. Als Beispiele seien hier das dialektische Spannungsverhältnis zwischen der Autonomie der Pädagogik und den ihr gegenüberstehenden „mit nicht weniger autonomen Prinzipien” ausgestatteten „Wertbereichen”68 sowie das Spannungsverhältnis zwischen Erleben und Besinnung genannt.
lm ersten Fall trat Litt nach der zuerst erfolgten Ablehnung der All-machtsbestrebungen der Pädagogik nun in der Endphase der Weimarer Republik gegen die Versuche der Funktionalisierung der Pädagogik im politischen Kampf auf. Im zweiten forderte er immer wieder die Zurücknahme des Erlebten in die Besinnung und sah darin eine wichtige Aufgabe der Erziehung, „mehr denn je das Selbst auf sich zurückzuführen” und sieh nicht den Suggestionen des Zeitgeistes und später des Ungeistes, wie er es winmal genannt hat, hinzugeben.

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