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GERALD WIEMERS
Das Rektoratsjahr von Theodor Litt 1931/32
Als Theodor Litt traditionsgemäß am 31. Oktober 1931 das Amt des Leipziger Rektors für ein Jahr nach vorausgegangener Wahl durch den Senat antrat, tat er das in der Gewissheit in der sich abzeichnenden Endphase der Weimarer Republik schweren Zeiten entgegenzusehen.’ Wir wissen heute, wie von einigen zurecht beklagte, wenig, allzu wenig über seine Beweggründe sich dem Amt zu stellen und noch weniger, wer ihn dafür vorgeschlagen haben könnte. Die Akten schweigen. Die Fakultäts- und Senatsprotokolle lassen, wie übrigens auch in vorangegangenen Fällen, keine Rückschlüsse zu. Dort ist lediglich in der Juni-Sitzung Litt als rector designatus vermerkt. Die damaligen Akteure können nicht mehr befragt werden. Ein mündliches, relativ verschwiegenes Verfahren darf vorausgesetzt werden. Litt und sein Nachfolger, der Theologe Hans Achelis sind die letzten demokratisch gewählten Rektoren, ehe dann das „Führerprinzip” obwaltete.
Theodor Litt ist kein Anfänger in einem hervorgehobenen akademischen Amt. Bereits im Rektoratsjahr 1926/27 wird er zum Dekan der Philosophischen Gesamtfakultät, der mit Abstand größten an der Universität, gewählt. Eine ehrenvolle Berufung 1922 an die Universität Hamburg hat der Gelehrte abgelehnt. Große, richtungsweisende Berufungsentscheidungen stehen in Leipzig bevor. Der Physiker Theodor Des Coudres ist gestorben und die Liste für seine Nachfolge weist drei Kandidaten von Weltruf aus, die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden: Peter Debye (ETH Zürich), Erwin Schrödinger (Universität Zürich) und an dritter Stelle Max Born aus Göttingen. Als kurze Zeit später der Experimentalphysiker Otto Wiener in Leipzig stirbt, folgen 1927 das Ministerium in Dresden, die Kommission zur Wiederbesetzung der Professur und der Dekan Theodor Litt dem Wunsche von Peter Debye, die Nachfolge Wieners antreten zu dürfen. Erst später soll die vakante Professur für theoretische Physik besetzt werden. Auch diese Entscheidung wird unter dem Dekan Litt gefällt, der den Nachruf auf Otto Wiener selbst hält.
In der Fakultätssitzung am 27. Juli 1927 wird der Kommissionsbericht zur Wiederbesetzung der Professur für theoretische Physik vorgetragen. An erster Stelle steht der noch nicht 26-jährige Lektor der Universität Kopenhagen Werner Heisenberg, dann folgen der drei Jahre ältere Gregor Wentzel und als dritter Wolfgang Pauli, ein Jahr älter als Heisenberg. Alle drei sind sie aus der Schule von Arnold Sommerfeld in München hervorgegangen. Heisenberg, der den Ruf annimmt, und Pauli werden später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im Jahre 1927 wird der Althistoriker Helmut Berve nach Leipzig berufen, der Germanist Theodor Frings nimmt den Ruf nach Leipzig an und Joachim Wach erhält einen kleinen Lehrauftrag für Religionssoziologie. Wach, der aus einer alten jüdischen Gelehrtenfamilie stammt, steht scheinbar am Anfang einer großen akademischen Laufbahn, die 1935 abrupt durch die Nazis abgebrochen wird. Ein erfolgreiches, vielfach richtungsweisendes Dekanatsjahr für Theodor Litt geht so zu Ende, nachdem er selbst vorher noch den Ruf an die Universität Frankfurt abgelehnt hatte.
Im Vorfeld der Machtergreifung der Nazis wird Litt in exponierter Stellung mit den aktuellen politischen Verhältnissen konfrontiert, bezieht Stellung, versucht seine akademischen Kollegen zu gewinnen, „ eine Front des Widerstandes gegen das Unerträgliche zu bilden, es ist eigentlich stets missglückt.” Im Auditorium sitzt aber auch sein Freund, der Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler. Als Rektor sah Litt deutlicher als andere das „Heraufsteigen des Unheils” und verfügte über „tiefe Einblicke sowohl in das Treiben der Studentenschaft als auch in die Seelenverfassung” seiner Kollegen. Bereits in seiner Rede zum Antritt des Rektorats am 31. Oktober 1931 in der Aula über „Hochschule und Politik” warnt er vor der verstärkten Politisierung der Wissenschaft, vor der „Umwandlung der wissenschaftlich forschenden Hochschule in eine gesinnungsmäßig gebundene” oder noch klarer: „ Gesinnungsbildung statt Geistesschulung”. Für die Wissenschaft kann und darf es keine Vorgaben geben, deren Inhalte schon vorher feststehen. Eine politische Instanz, die „außerhalb oder oberhalb” der Universität steht, lehnte Litt deshalb folgerichtig ab. Die Leipziger Presse würdigt die Rede als bedeutsam, in der Litt „ernste und grundsätzliche Mahnungen formulierte.” Konsequent und mutig tritt er zu einer Zeit für den Erhalt der Demokratie und einer weitgehend unabhängigen Hochschule ein, als die Kräfte von links und rechts die Polarisierung vorantrieben. Litts Ziel ist es, die Universität nach seinen Vorstellungen „freizumachen und freizuhalten von den Zwecken und Interessen der politischen Parteien”.
Schon in dieser frühen Phase stand Litt allein. Die meisten seiner Kollegen hielten sich zurück und mochten die Gefahr nicht wahrnehmen. Der inzwischen nationalsozialistisch beherrschte Allgemeine Studentenausschuss rüstete gegen Litt auf, als dieser die Forderung, eine Wahlkampfrede Hitlers in das Foyer der Universität zu übertragen, ablehnte. Es kam zu Tumulten und Störungen von Vorlesungen, als bekannt wurde, dass der Senat in Übereinstimmung mit dem Volkbildungsministerium in Dresden eine Änderung der Satzung des Allgemeinen Studentenausschusses im nationalsozialistischen Sinne ablehnte. In der Wandelhalle hatten sich Studenten am 6. Juli 1932 zu einer eindeutig nationalsozialistischen Versammlung zusammengetan und Litts Aufforderung die Halle zu räumen, nur teilweise befolgt. Unter tumult-artigen Szenen schloss der Rektor die Universität für zwei Tage. Das war ein einmaliger, ungeheuerlicher Akt, den Litt vollzog, um Unheil von der Universität abzuwenden: Die NS-Studenten mussten zurückweichen und die Entgleisungen formal zurücknehmen. Das haben sie Litt später nicht vergessen. Ein Jahr zuvor hatte ihn sein eigener Sohn vor den Konsequenzen gewarnt: „Hoffentlich wirst Du in Deinem Rektoratsjahr nicht zu große Kämpfe ausfechten müssen,. das macht mir Angst.” Als der ältere Sohn der NSDAP beitrat, ging der Riss durch die eigene Familie. Die Vermittlungsversuche der Ehefrau schlugen fehl. Vater und Sohn gingen sich aus dem Wege. Mit der „Partei der Skandalbrüder” wollte Litt nichts zu tun haben.
In der ersten Sitzung des Senats am 24. November 1931 mit Theodor Litt als Rektor, wird der Verlagsbuchhändler und langjährige Vorsitzende der Gewandhaus-Konzertdirektion Max Brockhaus einstimmig zum Ehrensenator gewählt. Der äußere Anlass war die unmittelbar bevorstehende Feier zum 150-jährigen Bestehen des Gewandhauses. Der Festakt fand am 25. November 1931 im großen Saale des Gewandhauses statt. Die Festrede hielt Max Brockhaus. Neben dem sächsischen Volksbildungsminister sprachen der Reichsgerichtspräsident und nacheinander der Oberbürgermeister Carl Goerdeler und der Rektor Theodor Litt. „Und wenn ich einen Weg mache vom Augustusplatz zur Beethovenstraße”, berichtet Litt, „so ist das zwar, räumlich betrachtet, eine kurze Spanne, aber der Übergang aus der Halle der forschenden Wissenschaft in diesen Tempel der Kunst bedeutet doch, so scheint es fast, zugleich den Übertritt in ein völlig andersartiges geistiges Klima. Dort herrscht der Geist der Methodik und des geschulten begrifflichen Denkens, hier die Freiheit der Phantasie, ja des künstlerischen Rauschs. Dort herrscht der ganze Ernst disziplinierter Arbeit, hier die Heiterkeit des Spiels und der seelische Überschwang”. Abschließend überreicht Litt dem neuen Ehrensenator Max Brockhaus das Kreuz, „ mit dem die Universität ihre Ehrensenatoren schmückt.”
Das enge, freundschaftliche Verhältnis zu Carl Goerdeler wird im Rektorats-jahr von Litt besonders augenfällig. So halten beide Ansprachen zur 100-Jahr-Feier des Gustav-Adolf-Vereins im Juni 1932, als Theodor Litt dem verdienstvollen Leipziger Theologen Franz Rendtorff, der gleichzeitig Vorsitzender des Zentralvorstandes der Gustav-Adolf-Vereine ist, die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät verleiht. Zu den Goethe-Feiern der Stadt Leipzig halten Litt und Goerdeler gleich zwei Ansprachen: zum Festakt im Neuen Theater und Ende Mai zur Eröffnung der bedeutenden Goethe-Ausstellung im Museum der bildenden Künste am Augustusplatz.23 Erneut treten Oberbürgermeister und Rektor bei der Einweihung des Großrundfunksenders Leipzig am 28. Oktober 1932 mit Ansprachen im Gewandhaus hervor.
Ein gewisse Signalwirkung löste der Artikel „Deutschland erwache!” des demokratisch gesinnten Nationalökonomen Gerhard Kessler aus, in dem dieser eindringlich vor Hitler und dem Nationalsozialismus warnte. Es folgen wütende Proteste der NS-Studenten gegen Kessler und im Senat verhinderte Litt mit dem Gewicht des Prorektors eine einseitige Verurteilung des Professors. Dennoch scheint Litt zu resignieren: „Ich habe so und so oft in der Fakultät oder im Seminar mir die denkbarste Mühe gegeben, eine Front des Widerstandes gegen das Unerträgliche zu bilden, es ist eigentlich stets missglückt.” Kessler wird nach 1933 verhaftet und nach seiner Entlassung emigriert er in die Türkei. Nach dem Zusammenbruch ist es 1946 nicht gelungen, für ihn eine Anstellung in Leipzig oder Jena zu erwirken.
Trauriger Höhepunkt im nazistischen Kesseltreiben gegen Litt in seinem Rektoratsjahr war die Drohkarte vom 12. Februar 1932 in der er als „Judenknecht” betitelt und von Anschlägen bedroht wird: „Du erlebst die nächste ASTA-Wahl nicht mehr. Die Rache naht”, heißt es er in dem mit Hakenkreuz und Totenkopf unterzeichneten Pamphlet. Litt hat längst vor der Machtübernahme 1933 die Gefahr des nationalsozialistischen Umsturzes erkannt und davor gewarnt. Es besteht kein Zweifel, dass Litt bereits im Rektoratsjahr „ entschiedener Gegner jeder Diktatur, also auch des Nationalsozialismus war”.
Als die NSDAP bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 einen großen Erfolg, aber nicht die absolute Mehrheit der Sitze erreicht, kommentierte das Litt so: „Die Wahl entspricht in etwa meinen Erwartungen. Alles ist auch jetzt ganz dunkel. ” Im Sommer 1932 nennt er die NSDAP die „Partei der Skandalbrüder”. Er sah die „wahnwitzigen Gewaltaktionen” von Hitler und seinen Anhängern voraus.
Auch in seinem Rektoratsjahr versucht er Bildung und Haltung zu vermitteln. Er warnt davor, die akademische Wahrheit „an irgendwelche enge Interessen oder vergängliche Leidenschaften” zu verraten. In der Universität sieht er den Garanten für die „Erhaltung bedrohter geistiger Güter “. Neben kleineren Schriften veröffentlicht er in diesem arbeitsreichen und turbulenten Jahr als selbständige Schriften „Idee und Wirklichkeit des Staates in der staatsbürgerlichen Erziehung” sowie die Ansprache des Rektors und den Bericht über das Rektoratsjahr. Zu seinen Lehrveranstaltungen im Winterhalbjahr 1931/32 gehören Vorlesungen über die Hauptprobleme der Ethik, zur Geschichte der Pädagogik bis zum 30-jährigen Krieg und schließlich eine Übung über Pestalozzi. Nicht weniger anspruchsvoll sind die Lehrveranstaltungen im Sommerhalbjahr 1932. Litt liest zur Philosophie des deutschen Idealismus, setzt die Geschichte der Pädagogik bis zur Gegenwart fort und hält eine Übung zu Kants Kritik der Urteilskraft. Drei große Vorlesungen bietet er im Winterhalbjahr 1932/33 an: Geschichte der Philosophie von Descartes bis Kant, die pädagogischen Bewegung der Gegenwart und schließlich die philosophischen Grundlagen der Pädagogik.
Litt engagierte sich auch für die sozialen Belange der Studenten, für Freitische und allgemein für die studentische Selbsthilfe. Vom 21.-23. Juli organisiert er zusammen mit dem Universitätssportwissenschaftler Hermann Altrock ein Sportfest auf dem Universitätssportplatz mit Studenten und 950 arbeitslosen Männern und Frauen. Seit seinen Bonner Studententagen gehörte Litt der Sängerschaft Makaria an. Zum 75-jährigen Stiftungsfest 1953 hält er den Festvortrag und sagt: „Es ist das Grundgefühl , dass im Laufe der letzen hundert Jahre, seit dem Zeitalter eines Wilhelm von Humboldt die Wissenschaft sich zwar spezialistisch bis ins Unendliche entwickelt hat, gleichzeitig aber an menschenbildender Wirkung wesentlich eingebüßt hat.” In den Korporationen sah er 1932 mehr oder weniger Wegbereiter des Nationalsozialismus. Seine Forderung „denkendes Nationalbewusstsein” gegen den „Gefühlspatriotismus” zu stellen, blieb ungehört.”
Am Reformationstag 1932 fand der Rektorwechsel von Litt auf den Theologen Hans Achelis statt, dessen Wahl Litt unterstützt hat. In seinem Abschlußbericht lässt Litt noch einmal das Jahr Revue passieren und erinnert in vorsichtiger, aber deutlicher Weise an den letzten Rektor magnificentissimus, den letzten König aus dem Hause Wettin, Friedrich August III., der am 18. Februar 1932 gestorben war. „Untrennbar ist die Geschichte der Universität Leipzig”, so Litt, „mit den Schicksalen des fürstlichen Hauses verbunden, unter dessen sorglicher Pflege sie zu ihrer Bedeutung im deutschen Geistesleben herangewachsen ist.” Nicht unerwähnt bleibt auch die notwendige Schließung der Universität, die Litt verfügt hatte und die ihn auch später sehr beschäftigte, als NS-Studenten gewaltsam eine Änderung der studentischen Verfassung herbeiführen wollten. Litt kann und will diese Vorgänge nicht ausgespart lassen: “Als Verfechter akademischer Freiheit und Selbstverwaltung aufzutreten sind die am wenigsten qualifiziert, die durch ihr Verhalten beweisen, dass ihnen der Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit, zwischen Selbstverwaltung und brutaler Gewaltausübung noch nicht aufgegangen ist.”
Seine ausgedehnte, außeruniversitäre Vortragstätigkeit nahm Litt erst im April 1932 wieder auf. So behandelt er das Generationenproblem in Vorträgen in Glogau (Niederschlesien) und im Herbst in Saarbrücken. Auf der 92. Versammlung der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte” am 29. September 1932 in Wiesbaden spricht er über die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Bildung. In ersten Ansätzen warnt er vor den „formalisierenden Naturwissenschaften”.
Seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, schreibt Theodor Litt in einem Fragebogen vom 10. Mai 1945 für die amerikanische Militärregierung in Deutschland, „hat ein Konflikt mit der Partei und dem Ministerium (Leipzig und Berlin) den anderen abgelöst”. Die tieferen Erkenntnisse im Rektoratsjahr 1931/32 haben Theodor Litt befähigt, Wissenschaft von Ideologie zu trennen und das Wesen von Diktaturen frühzeitig zu erkennen».
Theodor-Litt-Jahrbuch
2003/3
Leipziger Universitätsverlag 2003