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Forschung

Theodor Litts Sicht des Verhältnisses von Philosophie und Pädagogik39 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
2009/6
Leipziger Universitätsverlag 2009

RUDOLF LASSAHN
Theodor Litts Sicht des Verhältnisses von
Philosophie und Pädagogik

Theodor Litt hat nie eine Allgemeine oder systematische Pädagogik geschrieben, auch keine Bildungstheorie oder Allgemeine Didaktik; seine Hauptwerke befassen sich alle mit systematischen philosophischen Problemen. Litts wissenschaftliches Werk hat seinen unverkennbaren Schwerpunkt in der systematischen Erschließung philosophischer Grundeinsichten, dem Aufbau einer Philosophie des Geistes, einer autonomen Anthropologie und der Reflexion auf das System der Wissenschaften, d.h. der Wissenschaftstheorie. In einer frühen Studie stellte er lapidar fest, es gebe für die Pädagogik „noch keine wissenschaftliche Begründung und Durchbildung”, erst in der Zukunft sei „vor allem erst einmal Begründung und methodische Festlegung ihres eigenen wissenschaftlichen Charakters” zu erwarten. „Eine wissenschaftliche Theorie der Pädagogik (habe noch) um ihre Anerkennung zu ringen”‘

Es gab kaum Lehrstühle für Pädagogik allein, in Preußen einen, in Frankfurt an der Oder besetzt mit Ziehen, in Sachsen hatte Wilhelm Rein in Jena einen Lehrstuhl und in Leipzig gab es einen für Philosophie und Pädagogik, den Spranger hatte und schließlich einen in München, besetzt mit Friedrich Wilhelm Foerster. Pädagogik saß in den philosophischen Fakultäten, wenn überhaupt, dann nur als Bindestrichwissenschaft am Katzentisch. In den 20er Jahren ging es Litt und Troelsch überhaupt erst um eine Etablierung der Pädagogik in die philosophischen Fakultäten und um eine Zustimmung der Philosophen. Eine Anerkennung schien nur als ,rein theoretische Disziplin’ zu erreichen.

Erste und vordringlichste Aufgabe der Pädagogik als Wissenschaft also sei eine „methodische Selbstgesetzgebung”, wenn sie über das Stadium vager Allgemeinheiten und unbegründeter Vermutungen hinausgelangen wollte. Ob es jemals eine eigenständige pädagogische Wissenschaft geben würde, ließ Litt offen. Vielleicht sei überhaupt nur eine „relative Autonomie der Pädagogik” möglich, da die Pädagogik als Kulturphänomen in einem Zusammenhang einer übergreifenden geschichtlichen Wirklichkeit eingebunden sei. Sie bleibe immer auf Beziehungen und Wechselwirkungen mit benachbarten Disziplinen angewiesen. Litts Einschätzung der Pädagogik war sehr realistisch. Als universitäre Wissenschaft war sie schlecht aufgestellt.

Hier sprach kein Pädagoge, sondern ein Philosoph, denn auch von seinem Bildungsgang her war Litt kein Pädagoge, es sei denn, man hält einen guten, typischen Altphilologen für den Prototyp eines Pädagogen.
Litt studierte von 1899 — 1904, mit einer Unterbrechung für ein Semester, in Berlin und in Bonn die damals klassische Kombination von Altphilologie, Philosophie und Geschichte. 1904 schloss er mit einer in Latein verfassten Dissertation über die römischen Dichter Flaccus und Labeo ab. Im gleichen Jahr noch publizierte er einen Aufsatz über Plutarch und etwas später zwei über den klassischen römischen Spötter und Satiriker Lucian. Seit seiner Promotion 1904 – 1918, insgesamt 14 Jahre, länger als das ,tausendjährige Reich’ dauerte, war er Oberlehrer an Gymnasien in Bonn und Köln und unterrichtete alte Sprachen und Geschichte. Diese Zeit war prägend für Litt, und seine Zeitgenossen haben ihn stets so gesehen. Als er 1920 den Ruf auf den Lehrstuhl Sprangers in Leipzig annahm, stand die sächsische Volksschullehrerschaft dem Ruf sehr skeptisch gegenüber, „man beruft einen Altphilologen ausgerechnet auf den Lehrstuhl für Pädagogik, den einst Ernst Meumann angenommen hatte, wir haben wenig Hoffnung, daß hier wieder angeknüpft wird”. Der Rheinische Philologenverband gratulierte, dass man einen der getreuen Kampfgenossen mit dem Lehrstuhl einer so ruhmvollen Universität geschmückt habe. Auch in den nächsten Jahren blieb das Bild vom Altphilologen erhalten, der „schon durch seinen Anzug den belächelten Typ des altfränkischen preußischen Professors vertrat”, schrieb Willy Hellpach 1927, als Litt in Frankfurt am Main zur Berufung anstand. Hellpach lehnte Litt ab. Dieser altfränkische Habitus stand auch einer Berufung in Wien im Wege, und noch nach dem Zweiten Weltkrieg werden Kritiker ihn als Bonner Hofphilosophen und Oberlehrer der Nation bezeichnen.

Was machte diesen traditionell geprägten Altphilologen zum Pädagogen?

Zunächst nicht viel! Das seit 1914 dahinrasende Völkerschicksal, die Katastrophe der europäischen Völkergemeinschaft’, die in seinem eigenen Erleben das Ausmaß eines antiken Dramas angenommen hatte, bewirkte bei ihm eine „völlige Umkehr des allgemeinen Denkens und Wollens im Hinblick auf das gemeinsame menschliche Leben”. Die „Riesenhaftigkeit dieser Dimension” veranlasste den damals 37-jährigen Litt 1917, noch vor Ende des Weltkrieges, zur Abfassung seiner ersten großen Monographie ,Geschichte und Leben’, in der er der damals viele Intellektuelle bewegenden Frage nachging: „Was war es dann, was der Welt immer wieder den Frieden vorenthält: der Wille der Völker oder die Hartnäckigkeit eines Einzelnen?” Es war die Frage nach dem Verhältnis von Einzelwille und Gesamtwille und nach dem Anteil, den die Wissenschaft an diesem Geschehen hat, die allemal eine Stellungnahme des tätigen Geistes darstellt, denn hinter allen sozialen und politischen Theorien, von Platon bis zur Gegenwart, das wusste der Altphilologe und Historiker, stand als stärkster Antrieb des Menschen der Drang handelnd, gestaltend und zielsetzend in den Gang der Geschichte einzugreifen. In der geschichtlichen Welt finden zwei Antriebe des menschlichen Geistes zusammen: „Es ist derselbe Geist, der sich von innen her als handelnder und von außen her als betrachtender mit dem Geschehen befasst, um dort wie hier in ihr (der geschichtlichen Welt) sich selbst wieder zu fmden”. Diese unauf-hebbare Verschränkung zeigt sich als Einheit von Welterschließung und Selbsterschließung, von Welterkenntnis und Selbsterkenntnis. Die Deutung der geschichtlichen Welt verwandelt sich in geschichtliches Handeln. Das war keine Neuentdeckung, der Altphilologe wusste es und formulierte es in seiner Leipziger Rektoratsrede so: „Seit Platon ist es die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft, sich um die Probleme der öffentlichen Ordnung zu kümmern”‘. Gleichzeitig konnte Litt sich dabei auf Fichte beziehen, der einst seine Zuhörer fragte: „Was will denn der Wissenschaftler und was kann er wollen? Nichts anderes, denn eingreifen in das öffentliche Leben und dasselbe nach seinem Bilde gestalten und umschaffen”8. Gestalten und umschaffen ist eine genuin pädagogische Aufgabe. Platons Pädagogik steht nicht zufällig in seiner Staatslehre. Hier sind Philosophie und Pädagogik im Grunde verbunden. Der Mensch, das Leben, Geschichte, Handeln und Denken des Menschen in der Welt — in diesem ,Gegenstand’ finden Philosophie und Pädagogik ihre gemeinsame Wurzel. Beide Disziplinen sind nicht methodisch verbunden, es handelt sich um kein Theorie-Praxis-Verhältnis, um kein Verhältnis eines Mittel-Zweck-Denkens, in dem die Philosophie die Theorie zu liefern hätte und die Pädagogik als praktische Wissenschaft diese umsetzt. Philosophie und Pädagogik haben eine gemeinsame Wurzel in der elementaren Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt und sich selbst, sie reicht anthropologisch in den elementaren Lebensbereich von Individuum, Gesellschaft und Geschichte. Es geht um eine wissenschaftstheoretische Reflexion über diesen gemeinsamen Gegenstandsbereich, alle übrigen Geisteswissenschaften und selbst die Naturwissenschaften bleiben dieser Grundstruktur verhaftet. In ,Individuum und Gemeinschaft’ fasst Litt diesen Zusammenhang wie folgt zusammen:

„Das Wichtigste, was diese Analysen uns lehren konnten, ist dies, dass alle diese Denkakte, scheinbar auf einen von ihnen unterschiedenen Gegenstand sich richten, in Wahrheit selbst mit der Gegenstandswelt eins sind, die in ihnen intendiert wird. Wo immer der Geist seine eigene Wirklichkeit denkend ins Auge faßt, baut er zugleich an dieser Wirklichkeit weiter. Er sucht das konkrete Weltgetriebe, wie es seine lebendige Gegenwart erfüllt, in Gedanken zu fassen — und hat damit auch den Gestalten dieser Welt eine neue hinzugefügt; er blickt auf die Phasen seines Werdeganges, die hinter ihm liegen — und in dem Bilde, das sie zurückrufen möchte, treibt schon der Wille, der sich der Zukunft entgegenstreckt; er fragt nach dem Sinn, in dem das Wirrsal des Erlebten und Erlittenen sich lichtet — und der Sinn, den er in ihm zu finden meint, ist in Wahrheit der Sinn, den er der werdenden Wirklichkeit zu verleihen entschlossen ist. Alle diese Akte, ihrer Intention nach ausschließlich ein Vorhandenes oder Abgeschlossenes aufzufassen bestimmt, rufen in Wahrheit etwas ins Leben, was so noch nie wirklich war, und erweisen damit ihre eigene Verwandtschaft mit solchen Akten des Geistes, die auch ihrer leitenden Intention nach Seiendes und Seinsollendes zusammengreifen: mit den Akten bewußter Gestaltung, wie sie etwa der Staatsmann, der Gesetzgeber, der Erzieher übt. Unter allen diesen Akten ist keiner, den nicht die Phänomenologie nach seiner im Wesen der geistigen Wirklichkeit gegründeten Struktur, nach seinem in eben diesem Wesen gegründeten funktionalen Zusammenhang mit der Gesamtheit der übrigen bestimmte. Indem sie es tut, macht sie den Gegenstand solchen Tuns und dieses Tun selbst in einem transparent. Denn gerade in seinen höchsten Formen hat der Geist seine Wirklichkeit in dem Gefüge der Akte, die er, sei es betrachtend und deutend, sei es planend und gestaltend, auf diese Wirklichkeit richtet”.

Menschlicher Geist ist immer handelnder Geist, er ist immer in seiner Aktualität, indem er sich zeigt oder er ist gar nicht. In der menschlichen Welt wird Erkenntnis zugleich Selbsterkenntnis, es handelt sich nicht um die Erkenntnis eines äußeren Gegenstandes, sondern um eigene innere Vorgänge. In dieser unaufhebbaren Wechselwirkung liegt der Ansatz für Bildung, die Nahtstelle für „erhellende Reflexion”. Der stets handelnde Geist will etwas, damit-greift er jedoch über das Gegebene, das die Empirie erfasst, hinaus auf eine ungewisse Zukunft. Das Erkennen des Individuums schließt die Gegenwart ein, ebenso wie die Vergangenheit, die als Wissen und geronnene Erfahrung vorhanden ist und verbindet ihn mit einem planenden Zugriff auf die Zukunft. In der zukünftigen Perspektive muss der Mensch unter Unsicherheit handeln und sich entscheiden. Wissenschaftliches Erkennen wird an dieser Nahtstelle mit dem irrationalen Lebensgrund verbunden, und zwar unlöslich, es trägt den Drang in sich, gestaltend und zielsetzend in das Leben einzugreifen, aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen „Nutzen für die Lebenspraxis zu ziehen, Wissenschaft vom Geist will und soll sein die Theorie eines Handelns”. Dieses Modell entwickelte Litt 1921. Vierzig Jahre später, nach der realistischen Wende, werden Pädagogen voller Entdeckerstolz verkünden, die Erziehungswissenschaft sei eine Handlungswissenschaft.

Dieser einzigartige Lebensprozess, der die Momente Besinnung und Gestaltung umfasst, vollzieht sich auf einer so elementaren Ebene, dass er auch abläuft, wenn sich wissenschaftliche Reflexion nicht auf ihn richtet. Er ist ein allgemeines anthropologisches Datum. Litt nannte den Vorgang deshalb die ,unreflektierte Weise der Menschenformung’.

Die unaufhebbare Verbindung von Erkennen und Handeln, in ihr sind in der Kategorie der Zeit die Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden, und mit ihnen unterschiedliche Erfassungsweisen dieser Dimensionen, bildet die gemeinsame metaphysische Prämisse sowohl für die Philosophie als auch für die Pädagogik. Dass Litt an dieser wissenschaftstheoretisch bedeutsamen Nahtstelle die Metaphysik bemühte, löste in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts und bis heute heftige Kritik aus und stempelte ihn zu einem konservativen Denker. Denn nicht zuletzt waren es die Geisteswissenschaften selbst, die den Aufruf Diltheys aufgegriffen hatten, aus den Kasernenbauten der Metaphysik’ auszubrechen und sich positiv auf die Autonomie der Vernunft zu verlassen.

Eine gründliche Analyse des Zusammenhangs von Erkenntnis und Leben, Denken und Sein, konnte unter Berufung auf eine alte antike Erkenntnis dem Handeln Priorität zuschreiben. Aristoteles, dessen Werke der Altphilologe Litt natürlich gut kannte, hatte in Ansetzung der ontologisch operierenden Vorsokratikern entschieden festgestellt: Das Sein ist kein Sein, sondern ein Werden. Dieser aus der älteren Metaphysik stammende Satz ist wohl der revolutionärste und wirkungsmächtigste aus der aristotelischen Philosophie und zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte abendländische Geistesgeschichte, und auch die gegenwärtige Erkenntnistheorie ist nicht damit fertig geworden. In der unbelebten Natur kommt allen Erscheinungen ein statisches Sein zu. Sie sind! In der belebten Welt ist es ein ständiges Werden, d.h. ein sich immer bewegendes und veränderndes. Die Veränderung erfolgt durch Energiezufuhr, im menschlichen Leben ist es die Tat. Für die natürlichen Phänomene löst die Energiezufuhr eine Wirkung aus, für die Lebenswelt unterschiedliche. „Die vernunftlosen Vermögen können immer nur eine Wirkung ausüben, die vernünftigen aber zwei, auch entgegengesetzte […]”, schrieb Aristoteles.

An dieser Stelle trennen sich die Wege der Ontologen und der Historikr, der Reflektionisten und der Handelnden, von hier an gehen vita activa und vita passiva auseinander. In der menschlichen Welt wird die Veränderung der Erscheinungen und Ereignisse durch die Tat bewirkt. In der Wirkungsgeschichte erzeugte Aristoteles eine über zweitausendjährige Philosophie der Tat.

Spätestens seit Marx versteht die Wissenschaft ihre Hauptaufgabe als Eingriff in die Menschenwelt und eine Veränderung dieser Welt. Hegel beschrieb eindrücklich die bildenden Wirkungen, die im Handeln liegen, indem der Mensch den Plan, die Idee, im Tun verwirklicht, sammelt er Erfahrungen und Wissen und modelt so am eigenen Sein. Hegels Zeitgenosse Goethe, der mit seinem Bekenntnis zu seinem ,Stirb und Werde’ sich als guter Aristoteli-ker zu erkennen gab, konstatierte die bildende Wirkung der Tat: „Wie kann man sich selbst erkennen? Durch Betrachten niemals. Wohl aber durch Handeln. Versuche, Deine Pflicht zu tun, und Du weißt gleich, was an Dir ist. Was ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages”. In der Geschichte der Pädagogik, die ohnehin nur aus Fußnoten zu Aristoteles und Platon besteht, wurden im Anschluss an die Termini Tat, Arbeit, Handlung und Werk eine kaum noch übersehbare Palette methodischer und didaktischer Modelle vorgelegt, von Selbsttätigkeit, Arbeitsunterricht, Arbeitsschule, Arbeitsgemeinschaft, Schularbeit, Schule der Tat, selbständiges Lernen, bis hin zum gegenwärtig inflationierenden Terminus Selbstverwirklichung.

Je selbstverständlicher dieser Terminus in die wissenschaftliche Sprache einzog, um so mehr gerieten die Voraussetzungen, Prämissen und Ungenauigkeiten menschlichen Handelns aus dem Blick. Alles Handeln beruht auf Wissen und Erfahrungen, die aus der Vergangenheit stammen, also aus einem Vorwissen, es gründet auf der Erfassung der Gegenwart und bezieht sich in der Zielsetzung auf die Zukunft, d.h. auf etwas, was noch nicht ist, sondern erst werden soll. Die Zusammenfassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird dominiert durch die Kategorie Zeit, die komplizierteste im Denken und Handeln des Menschen überhaupt. „Die Zeit erscheint dabei als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist”, befand Hegel.

Alle Selbsttätigkeiten bezeichnen Handlungen des Menschen mit der Natur, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Um die Bedingungen für Handeln zu erfassen, hat sich eine empirische Methode imperialistisch durchgesetzt. Diese Methode trifft eine Auswahl, die nie die gesamte Wirklichkeit umfasst. Die Selektion ist zugleich eine Deutung dessen, was als gegeben angenommen wird. Die Ausschnitte, die empirisch erfasst oder im Experiment erprobt werden, sind im Laufe des Forschungsprozesses immer kleiner geworden. Die Ergebnisse einer solchen Segmenterhebung werden dann verallgemeinert bzw. hochgerechnet und gelten als repräsentativ. In der Praxis werden Spezialisten herangebildet, die Experten für immer kleinere Formate sind.

Die Wirklichkeit ist sehr viel mehr als die wissenschaftlichen Methoden zur Erfassung abdecken. Es bleibt ein Rest latenter Irrationalität erhalten, und es bleiben ungeklärte metaphysische Annahmen. Gerade diese Gedankenführung Lifts wurde heftig kritisiert, ihretwegen stempelte man ihn zu einem konservativen Denker.

Ich darf hier, nicht ohne eine gewisse Genugtuung anfügen, dass Popper selbst in seinen Postskripten zur Logik der Forschung seinen Standpunkt revidierte und gerade metaphysische Voraussetzungen zur kritischen Durchsicht stellte. Seinen neuen Standpunkt nennt er einen metaphysischen Realismus. Bei ihm geht es exakt um die Gültigkeit und Reichweite des Kausali-tätsprinzips und um die Annahme, alle Vorgänge seien als deterministische Prozesse grundsätzlich berechenbar. Genau das sei empirisch weder beweis-noch überprüfbar. Die in den Forschungskonzepten enthaltenen Annahmen über Raum, Zeit, Kausalität und über die Struktur der Welt sind unbewiesene Wahrscheinlichkeitsannahmen. Popper spricht von ,metaphysisch-ontologischen Grundannahmen über die Beschaffenheit der Welt’. Zwar passen sich die Modelle immer weiter der Realität an, aber wir besitzen keine empirische Möglichkeit zu überprüfen, ob die Approximierung grundsätzlich abschließbar sei. Die meisten neopositivistischen Programme, die Popper ungewöhnlich scharf kritisiert, ignorieren das Reduktionsproblem und die prinzipielle Unvollständigkeit der Wissenschaft. Eine von ihm kritisierte neopositivistische Einheitswissenschaft ohne Philosophie nennt er eine ,bessere Art von Klempnerei’. Gestatten Sie mir eine Anmerkung in der Sprache Poppers: Er war aufgebrochen, um aus einer dogmatisch geschlossenen Welt eine offene Gesellschaft zu machen und bezeichnete dogmatisches Denken als Feind der offenen Gesellschaft. Der Neopositivismus machte aus Poppers Programm einen neuen Dogmatismus, der die plurale Gesellschaft in eine monokausal gesteuerte zurückzuführen droht.

Kehren wir zur Ausgangslage zurück: Eine Pädagogik habe noch um eine eigenständige Theorie zu ringen. Anerkennung in der Philosophischen Fakultät könne sie nur als theoretische Wissenschaft gewinnen, dafür sei methodische Selbstgesetzgebung erforderlich, die sich auf den Kern pädagogischen Tuns konzentriere, nämlich als praktische Wissenschaft des Handelns. Methodische Selbstgesetzgebung als theoretisches Wissen kann sie nur in Anlehnung an Philosophie gewinnen. Sie analysiert vorab das Problem, das allem praktischen Handeln metaphysische Prämissen zugrunde liegen. Litt greift an dieser Stelle seiner Analysen auf die alte zuerst von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung zwischen Erkenntniswissenschaft und praktischer Wissenschaft zurück.

Alles pädagogische Handeln wird durch diese These auf Philosophie als konstitutives Moment verwiesen, nicht, wie schon ausgeführt als Verhältnis von Theorie und praktischer Anwendung, sondern durch die Annahme, dass praktisches Handeln anderen Bedingungen folgt als theoretisches Erkennen. Letzteres ist immer interesselos, Ersteres immer anwendungsbezogen, d.h. es enthält normative Momente.

Wird pädagogisches Handeln derart auf Philosophie verwiesen, drängt sich die Frage auf, um welche Philosophie es sich dann handelt? Platon? Aristoteles? Seneca? Cicero? Thomas? Augustinus? Leibniz? Descartes? Kant? Fichte? Hegel? Schleiermacher? Dilthey? Die Geschichte der Philosophie ist sogleich die Geschichte ihrer Entwicklung, Probleme und Fragestellung. Ist es beliebig, an welche Philosophie man sich anschließt? Sind unter dem Aspekt des Fortschritts positivistischer Wissenschaften die traditionellen Philosophien überhaupt noch Wissenschaft oder nur noch interessante epigrammatische Argumente eher kurioser Feuilletonisten. Hat Platon nur Gleichnisse erzählt? Plauderte Locke nur aus seiner Erfahrung? Entwarf Rousseau nur eine Utopie? War Pestalozzi nur ein handwerkelnder Praktiker? Kann man Kants ,Vorlesung über Pädagogik’ überhaupt noch zur Wissenschaft zählen? Soll das Verhältnis von Philosophie und Pädagogik in der Sicht Lins dargestellt werden, drängt sich die Frage auf, welche Philosophie Litt vorschwebte, und was er sich von dieser Philosophie als Wissenschaft erwartete. Letzten Endes verstand er sich selbst in erster Linie als Philosoph.

Vorweg eine erstaunliche Feststellung: Litt, der zeitlebens einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik inne hatte, ist als Pädagoge besser erforscht als als Philosoph. Alle Hauptwerke Litts sind philosophische Abhandlungen: ,Mensch und Welt’ erlebte bis zu seinem Tode zwei Auflagen, Denken und Sein’ eine. Die eher kleinen pädagogischen Schriften, Führen oder Wach-senlassen’ bis 1967 die 13.Auflage„Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt’, 1955 erschienen, verzeichnete bereits 1959 die 6.Auflage, seit 1969 erschien es als Lizenzausgabe und hatte bis 1964 bereits 3 Lizenzausgaben erreicht. Der sich selbst immer vorrangig als Philosoph verstandene Litt hatte publizistisch den größten Erfolg mit seinen kleinen pädagogischen Schriften. Die Sekundärliteratur zu seiner pädagogischen Position füllt Regale, es gibt so gut wie keine zusammenfassende Darstellung der Philosophie Litts.

Blickt man in die Geschichte des Denkens zurück, bleibt seine Einordnung in seine geisteswissenschaftliche Pädagogik unbestritten. Eine Einordnung Litts in die Philosophie fällt schwerer. War er Neukantianer? Lebensphilosoph? Phänomenologe? Hegelianer? Soziologe? Existenzphilosoph? Anthropologe? Oder als Altphilologe Platoniker oder Aristoteliker? Diesen Fragen nachzugehen stößt auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten.

Litt war im Umgang mit Zitaten, Literaturangaben und Verweisen auf Referenzen, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst, aber alleräußerst sparsam. Sein Werk ,Wege und Irrwege geschichtlichen Denkens’ enthält eine einzige Fußnote, Litt verweist darin auf seine eigene Studie ,Die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch Herder’, sonst gibt es in dem Werk kein einziges belegtes Zitat, keine Literaturangabe und kein Literaturverzeichnis. Seine Abhandlung ,Die Philosophie der Gegenwart und der Einfluß auf das Bildungsideal’ (1924) weist vier Fußnoten auf, im Anhang wird auf eineinhalb Seiten pauschal Literatur zu den einzelnen Kapiteln aufgeführt. Es gibt keine nachgewiesenen wörtlichen Zitate. In ,Der lebendige Pestalozzi’ (1962) ist die Zitierweise nach gegenwärtigem Usus schlicht katastrophal. Er zitiert Pestalozzi nach der Ausgabe Spranger/Stettbacher bei 32 Fußnoten 22 mal, 6 mal verweist er auf eigene Schriften, bleiben vier Hinweise pauschal auf Referenzliteratur. Das ließe sich beliebig fortsetzen.

Ich bitte bei diesem Mäusezähnchenzählen um Nachsicht gerade in Anbetracht des Werkes von Litt, es ist lediglich ein Indiz dafür, was er selbst vom Alexandrinismus hielt: nämlich nichts. Entweder man folgt der Argumentation des Verfassers und vertraut ihm insgesamt, dann sind derartige Anmerkungen nicht erforderlich, oder man vertraut nicht, dann kann man sich besser die gesamte Lektüre ersparen. Ein Massengrab an zitierter Literatur jedenfalls schafft kein Vertrauen.

Gefragt nach dem Verhältnis zwischen Pädagogik und Philosophie muss man schon sagen: Es handelt sich immer um ein Verhältnis der Pädagogik, wie Litt sie Anfang der 20er Jahre sah und einer Philosophie, die er zu dieser Zeit selbst vertrat, und diese Philosophie ist zumindest zuerst in ihren Grundstrukturen zu umreißen.

Der Geschichtslehrer Litt, der vierzehn Jahre Geschichte an Gymnasien lehrte, ging vom eigenen historischen Denken aus und war wohl belesen in historischen und geschichtsphilosophischen Fragen seines Faches. Im Zentrum der philosophischen Diskussion seiner Zeit standen die Probleme des Historismus. Nach dem Abschied von den großen Systemen der Philosophie beherrschte historisches Denken die Szene. Die seinerzeit entstehenden neuen Disziplinen, Soziologie, Volkswirtschaft und Psychologie waren alle historisch geprägt.

Wenn in den ersten philosophischen Werken Litts Namen und Referenzen überhaupt genannt werden, dann sind es vorrangig Troelsch, Simmel, Vier-kandt, Husserl, Croce, Freyer, Spann, Weber und Rickert. Vorwiegend sind es, ich sage vorsichtig, die modernen Vertreter der Soziologie und Geschichtsphilosophie, die das Denken Hegels fortführten mit der Grundannahme, es gehe in der Geschichte vernünftig zu, und es sei der Mensch, der mit Vernunft die Geschichte gestalte. Dieser philosophische Historismus gründete auf mehreren Voraussetzungen.
Er verstand sich nach Troelsch als „grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte”. Es ging um die Formen menschlicher Vergesellschaftlichung, um das Verhältnis des Individuums zum allgemeinen Prozess des Geschichtsverlaufs. Bei Hegel geht in diesem transzendentalen Prozess die List der Vernunft gelassenen Schrittes über den Einzelnen hinweg. Wie weit aber kann das Individuum überhaupt mit Vernunft am historischen Geschehen mitwirken? Das war die Einstiegsfrage Litts: Was bewegt die Geschichte, der Wille der Völker oder die Hartnäckigkeit Einzelner?

Der Historismus entwickelte mehrere Aspekte:

1. Geschichtlichkeit ist mehr als Historie. In der Geschichte gibt es keinen Determinismus und es gibt keine transzendentalen Ziele der Geschichte, keine Teleologie, die noch Dilthey angenommen hatte. „Philosophie ist Methodologie der Geschichte", so B.Croce unter Berufung auf Hegel und Vico14 und verwies damit historisches Denken in den Raum der Wissenschaftstheorie.
2. Geschichtlichkeit, das Verhältnis von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaftslehre erweisen Eindeutigkeit, dass das Wesen der Gemeinschaft in der Ausweitung des Ichs über die engen Grenzen der Person hinaus besteht. Das Individuum hört nicht an den Grenzen der Person auf. Geist, Sprache, Geschichte, Bewusstsein, Kultur und Bildung einer Person sind überindividuelle Erscheinungen15.
3. In der Geschichtlichkeit gehen alle Wissenschaftsdisziplinen auf. Historismus und Naturalismus sind nach Troelsch ,die beiden großen Wissenschaftsschöpfungen der modernen Welt', und ersetzen die vormaligen Disziplinen Metaphysik, Ethik und Logik. Seit dem Historismus gibt es nicht mehr die Trennung in Natur- und Geisteswissenschaft (Rothacker), sondern in Natur und Geschichte. Der Naturalismus hat es letztlich mit gegebenen Körperschaften des Raumes zu tun, während der Historismus das Verständnis des Geistes ist, sofern es sich um die eigenen Hervorbringungen seiner selbst in der Geschichte handelt16. Dem Historismus liege „eine neue Schau des menschlichen Lebens überhaupt" zugrunde, ein neues Verständnis für alles, was Menschen- ,-antlitz trägt, wird erschlossen, das sei „eine der größten Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat" (Meinecke)17, die nichts anderes darstellt als die Anwendung des in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tod gewonnenen neuen Lebensprinzips auf das geschichtliche Leben. Es handele sich um eine neue Schau des menschlichen Lebens überhaupt. Man wird den seraphischen Ton nur verstehen, wenn man erkennt, dass es sich um ein neues Verständnis für alles handelt, was Menschen Antlitz trägt. Es umschließt Geschichte, Anthropologie, Kultur und eine neue wissenschaftliche Logik.
4. Der neuen Methodologie und Logik liegt eine neue Anthropologie zugrunde, die zugleich von einem pädagogischen Impuls getragen wird. Der Mensch als das erkennende Subjekt ist die Instanz in der Welt, die so etwas wie Natur und Geschichte überhaupt erst hervorbringt und gestaltet18 (Simmel). Durch das Erkennen und Gestalten von Kultur wird das Erkennen dieser Entwicklung zu einem Weg zu sich selbst, d.h. ein ‚Werkzeug menschlicher Selbstentwicklung'19 (Sim-mel). In diesem Sinne (Croce) wird Philosophie wieder Bildungsphilosophie, d.h. nicht nur Erkenntnis, sondern recht eigentlich der wesentliche Impuls für Bildung, die immer Selbstbildung ist. Dies war die entscheidende Kategorie im Historismus, die Litt bewegte. In dieser Kategorie verbanden sich Philosophie und Pädagogik vom Grunde her. „Jede historisch-philosophische Weltdeutung enthält ein Stück latenter Pädagogik, und jede Pädagogik trägt ein Stück latenter Philosophie in sich" 0, schrieb Litt 1927.
5. Im historischen Kulturprozess handelt es sich immer um gesellschaftliches Handeln, das bestimmt wird durch die Kategorie der Wechselwirkung (Simmel). So wie ich das Du behandele, so behandelt das Du mich. Wechselwirkung umschreibt damit auch das dialogische Prinzip. Die beiden Vorgänge, Erkennen der kulturell-geschichtlichen Entwicklung, d.h. einer bereits verfestigten Kultur, und das praktische Handeln als aktuelle Neugestaltung, führen zwangsläufig zu Antinomien zwischen dem, was ist und dem Impuls zur Neugestaltung. Diese Antino-mien bezeichnete Simmel als die ,Tragödie der Kultur', sie umschließt auch den ewig währenden Gegensatz des Verhältnisses der Generationen zueinander (Litt).

Unter diesem Aspekt des Historismus war für Litt der Gesamtzusammenhang von Mensch und Welt aufgerufen. „Die Philosophie ist nun einmal diejenige Richtung des Fragens, die nicht diesen oder jenen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit erforscht, sondern recht eigentlich das Ganze des Seins zu erforschen sich erkühnt”.

Den Sinn dieser Aussage muss man in seinem Grunde zu erfassen suchen. Litt verwendet absichtlich theologische Begriffe, wenn er in diesem Zusammenhang von der Sendung der Philosophie spricht. Für diese stellt „der ganze Weltprozeß eine Gesamtbewegung” dar.

Es ist ganz offenkundig, Litt hat, wenn er von Philosophie spricht, eine im Blick, die es heute nicht mehr gibt. Die gegenwärtige Philosophie ist in weiten Bereichen positivistische Einzelforschung geworden und differenziert sich in Sprach-, Kultur-, Gesellschafts-, Sozial-, Kommunikationsphilosophie etc. und gebiert jeden Tag neue Bindestrichphilosophien. Was soll man von einer Philosophie halten, wenn ein prominenter Vertreter sich selbst als einen transzendentalen Feuilletonisten bezeichnet und die verbliebenen Philosophen in die differenten politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Ethikkommissionen ausweichen, und jede philosophische Disziplin durch öffentlich wirksame Magazine und Zeitschriften vertreten sind. Historische und aktuelle Daten werden nach politischen und emotionalen Befindlichkeiten gruppiert und ergeben keine Philosophie mehr, sondern politische Modelle und Ideologien. Eine Ideologie der reinen Lernbewegung, longlife lear-ning, ohne, angeben zu können, was eigentlich gelernt werden soll, ist nur Ausdruck erschreckender Unfähigkeit. Hier ist die Philosophie nicht mehr Bildungsimpuls, sondern pädagogischer und philosophischer Nihilismus. In ,Erkenntnis und Interesse’ bilanzierte Habermas, „daß nach Kant Wissenschaft philosophisch nicht mehr ernstlich begriffen worden ist”. Philosophie sei aus der Wissenschaftstheorie durch Philosophie selbst verdrängt worden. „Erkenntnistheorie mußte fortan durch eine vom philosophischen Gedanken verlassene Methodologie ersetzt werden”.

Philosophie wird nicht gesehen als Bildung ermöglichendes Erkennen, sondern als ökonomisches Instrument, das den Regeln industrieller Arbeit folgt. Der ursprünglich Wissende wird zum industriellen Wissensarbeiter unter Ef-fizienzbedingungen. Interessant für mich ist in diesem philosophisch-soziologischen Prozess, dass Intellektuelle und Akademiker, die lange unter den Prämissen von Souveränität und Freiheit geforscht und gelehrt haben, eine Eingliederung in ein hybrides Produktions- und Kontrollkonzept mit Standards, Evaluation, Tests und Rankingskalen problemlos akzeptieren, und sich durch simple Rhetorik mit Begriffen von Autonomie, Flexibilität und Wettbewerb täuschen lassen, unabhängig davon, dass es unter ernsthaften Wissenschaftstheoretikern schon längst umstritten ist, ob so ehrwürdige Disziplinen wie Ökonomie und Psychoanalyse überhaupt noch Erkenntniswissenschaften sind. Die weltweiten Modellbauer in der Ökonomie der Finanzwirtschaft, des Gesundheitswesens, der Demographieforschung, der Umweltforschung und natürlich der Bildungsforschung haben es trotz hochklingender Versprechungen nicht geschafft, auch nur ein einziges funktionierendes Modell vorzulegen. Ist eines gerade verabschiedet, liegt schon der Entwurf für Reformen vor. Dennoch verwechseln sie unentwegt und unbeeindruckt Natur- mit Gesellschafts- und Kulturwissenschaften und meinen, Modelle, die den Menschen einbeziehen, steuern zu können wie Verkehrsströme (und selbst das gelingt nicht). Wird der Mensch einbezogen, handelt es sich eben nicht mehr um gesetzmäßige Abläufe, die man nach der Methode Poppers falsifizieren kann, sondern bestenfalls um Regeln, bei denen die Ausnahme die Regel ist.

Philippe Simonnot, einer der führenden Ökonomen Frankreichs, stellt ironisch fest, dass die Ökonomen zwar kein funktionierendes Konzept vorlegen können, und eine Welle die neueste ablöste, aber sie hätten für sich die Pforten des Staatsapparates geöffnet und tatsächlich verdienten heute die meisten Ökonomen ihren Lebensunterhalt als Berater, indem sie Irrtümer und Täuschungen am laufenden Band produzierten. Sie könnten dafür weder vom Markt noch von den Wählern abgestraft werden24. Litt würde sagen, hierbei handele es sich um eine strukturelle Erkenntnis, die auf andere Handlungswissenschaften übertragbar sei. Die Empirie öffnete der Pädagogik die Tore des Staatsapparates. Früher arbeiteten Pädagogen in der Lehrerbildung, sie waren Ausbilder, Gehilfen, manchmal auch ,Prügelknaben der Nation’, und jetzt sind sie Berater und Lenker der Bildungspolitik außerhalb der Universität und empfehlen, was aus sogenannten wissenschaftlichen Untersuchungen folgt. Die Parallele ist schon verblüffend. Den Ökonomen fällt nur ein Mittel zur Bewältigung der selbstdiagnostizierten Krise ein: Der Wettbewerb. Den Weltvergleichsangestellten der OECD fällt zur Behebung des PISA-Notstands nur ein Allheilmittel ein, Gesamt- und Ganztagsschulen, egal welche Daten sie erhoben haben. Litt kritisierte vor 50 Jahren diesen Vorgehen als ,Versuchung des Denkens’. Wenn der Erkenntniswille auf Wirkung bedacht ist, redet er bereits beim Erwerb des Wissens und der Fakten mit. „Wer die Wahrheit in der ,beschränkten’ Realität sucht, hat sie schon verloren, eine Wahrheit, die in einer Gesellschaft, der Natur und in ihren Gesetzen liegt, ist keine Wahrheit, sondern nur eine Teilwahrheit”.

Noch einmal: Litt hatte den Zusammenhang von Philosophie und Bildung im Blick, wenn er vom Verhältnis von Philosophie und Pädagogik sprach; er dachte nicht an Ökonomie, Effizienz und Verwertung. Die Kluft zum gegenwärtigen Denken kann nicht tief genug gedacht werden. Da es sich um metaphysische Grundannahmen handelt, ist längst noch nicht ausgemacht, wer Recht hat.

Die Diskussion über theoretische und methodische Selbstgesetzgebung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin führte Litt auf ein Feld, auf dem zugleich seine größten philosophischen Leistungen zu finden sind, das der Anthropologie. In ihr stand Litt vor der uralten Frage: Was ist der Mensch? Die Wissenschaftsgeschichte bot bereits eine Fülle von Antworten an: Eine Person, ein Selbst, ein Individuum, eine Einheit von Physis und Psyche, ein Geschöpf, der Freigelassene der Schöpfung, der eine Sonderstellung im Reich des Lebendigen einnimmt, ein Produkt biologischer Evolution, ein Mängelwesen, aber von exzentrischer Expositionalität, ein informationsverarbeitendes System, die aufrechtgehende Weltvernunft. In allen diesen Modellen vom Menschen stecken wissenschaftliche und metaphysische Prämissen. Gerade auf diese wollte Litt sein kritisches Denken richten, um “das Wesen des Menschen rein aus sich selbst, in strengster Beschränkung auf die der Selbstbesinnung zugänglichen Erfahrungen zu verstehen und zu deuten”.

Bereits die erste Beobachtung erschließt eine entscheidende Erweiterung der Fragestellung. Als Lebewesen existiert der Mensch in einer Welt, und diese Welt ist konstitutiv für sein Wesen. Es ist keine Aussage über den Menschen möglich ohne Einbeziehung seiner Welt. Die Frage nach dem Menschen ist immer eine Frage nach Mensch und Welt. Und auf die Frage, wo denn die Grenzen des Menschen liegen, antwortete Litt bereits in ,Individuum und Gemeinschaft’, ,jedenfalls nicht an den räumlichen Grenzen seines Leibes”. Der Mensch ist keine in sich geschlossene räumliche Einheit, sondern ein Aktionszentrum, er ist eben kein Sein, sondern ein Werden, er umschließt das Insgesamt seiner Taten und Leiden, die aus der Auseinandersetzung mit der Umwelt hervorgehen. Mit unabänderlichen Bedürfnissen und Funktionsweisen ist der Mensch auf eine Umwelt abgestimmt, und diese Welt kommt dem weltoffenen Aktionszentrum mit Reizen und Nötigungen entgegen, und zwar in zwei Formen, als Natur und als Kultur. Der Mensch steht nicht nur einer deterministischen Natur gegenüber, sondern auch einer offenen, ja widersprüchlichen Kultur. „Die Ordnung der menschlichen Dinge ist, anders als die Ordnung der untermenschlichen Daseinsbereiche, nicht ein unabänderlich vorgegebenes Faktum, von dem lediglich Kenntnis zu nehmen wäre. Sie ist eine durch den Menschen zu schaffende, zu erhaltende und gestaltende Wirklichkeit. Welche Form sie annimmt, hängt wesentlich davon ab, wie er sie sieht. Denn der Weise seines Sehens entspricht die Weise seines Handelns”. Wer die Kultur als moralische Anstalt sieht (Schiller), schreibt andere Theaterstücke als der, der sie als Instrument politischer Agitation betrachtet (Brecht) oder als Mittel der Aufklärung, der Gesellschaftskritik oder einfach der Unterhaltung, der akzeptiert, dass wir uns auch zu Tode amüsieren können. Ebenso ist der Mensch als Person kein Gegebenes, sondern ein Aufgegebenes, nach einem Wort Hegels, das Litt immer wieder zitiert: „Der Mensch muß sich selbst zu dem machen, was er sein soll; er muss sich alles erst erwerben, eben weil er Geist ist”. Litt zog daraus eine pädagogische Konsequenz: „Geschichtlichen Charakters sein heißt nichts anderes als: seine Gestalt nicht aus den Händen einer zeitüberlegenen Gewalt als unabänderliche Schickung entgegen zu nehmen, sondern aus selbsteigenem Wollen, Tun und Schaffen zur Reife bringen”.

Der Mensch, zu dem Natur und Kultur konstitutiv gehören und der durch sein Tun in beide Bereiche eingreift, sie verändert, gestaltet oder auch zerstört, findet für sein eingreifendes Tun in Natur und Kultur keine Normen für sein Handeln, er wird zurückgeworfen auf sich selbst und muss erkennen, dass es seine Entscheidung ist, in welcher Form und zu welchem Zweck er eingreift. Damit entdeckt Litt im Grunde des Geistes die Freiheit. Es ist die tiefste Erkenntnis der Philosophie, „daß die Freiheit das einzig Wahrhafte des Geistes ist”.

Das aber ist ein Danaegeschenk. In der geistigen Welt, in Geschichte und Kultur gibt es keine Eindeutigkeit. Das freie Feld zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Welt, kann sowohl mit Liebe als mit Hass gefüllt werden, es kann sinnvoll gestaltet werden, aber die Freiheit kann auch missbraucht und menschliche Beziehungen verdorben und zerstört werden. Und selbst in der entsetzlichsten Entzweiung, wo sich der Mensch gegen den Menschen kehrt, ist dieselbe Freiheit am Werke, die Menschen verbinden kann. „Von diesem dunklen Abgrund ist die Freiheit nur um den Preis der Vernichtung abzulösen”.

In der Normgebung für sein Handeln kann der Mensch sich irren. Der menschliche Geist aber hat den Irrtum nicht als beiläufige Entgleisung, sondern als notwendige Selbstverkehrung bei sich. Lernen aus Versuch und Irrtum ist kein methodisches Prinzip, sondern eine anthropologische Kategorie. Der Mensch ist nicht das auf Einheit, Harmonie und Ausgleich aller Kräfte angelegte Wesen, sondern eines, das „von dem Widerstreit nicht zu versöhnender Daseinsmächte aufgestört und umgetrieben wird”.

Die Zweideutigkeit allen menschlichen Tuns entwickelte Litt im Anschluss an die Anthropologie, der klassischen Philosophie, der Phänomenologie und der Anthropologie Pestalozzis, der er eine eigene Schrift widmete. Alle menschlichen Antriebe, so hatte Pestalozzi dargelegt, seien zweideutig, so auch die Neigung zur Behaglichkeit als die allgemeinste Triebfeder seines tierischen Daseins. „Du dankst ihr deine Betriebsamkeit; aber wenn du aus Unbetriebsamkeit verfaulst, so geschieht es aus gleicher Neigung”.

Der flotten Weise der Aufklärung, der Mensch sei gut, setzte Pestalozzi massiv entgegen: „ also ist es nicht wahr, daß der Urmensch friedlich lebte auf Erden; es ist nicht wahr, daß er die Erde ohne Gewalt, ohne Unrecht und ohne Blut verteilt hat; es ist nicht wahr, daß der Ursprung des Meins und des Deins in meinen Gefühlen der Billigkeit und des Rechts zu suchen ist”.

Litt bescheinigt Pestalozzi erdnahen Realismus. Zweideutigkeit, Zweiseitig-keit oder gar eine Dämonie des Zweideutigen sei keine historische Erscheinung oder gar den zeitlichen Umständen geschuldet, sondern ein durchgehender Grundzug allen menschlichen Seins, sei Ausdruck eines freien menschlichen Willens. „Er ist durch seinen Willen sehend, aber auch durch seinen Willen blind. Er ist durch seinen Willen frei und durch seinen Willen Sklave. Er ist durch seinen Willen redlich und durch seinen Willen ein Schurke,” hatte Pestalozzi geurteilt.

In ,Mensch und Welt’ wird Litt diese tiefe Unsicherheit alles Menschlichen, dass jedes Plus sein Minus als drohende Möglichkeit in sich trägt, die letzte metaphysische Tiefe des Menschen nennen. „Es ist der Widerspruch des Geistes gegen sich selbst, es ist die dem höheren Leben innewohnende dialektische Selbstentzweiung, die hier ihre Tiefe öffnet”.

Der Widerspruch im Geiste ist für den Freigelassenen der Schöpfung aber nicht nur ein Negativum, sondern zugleich Impuls und innere Unruhe, die zu immer neuen Schöpfungen antreiben, er ist das eigentlich bildende Moment im Lebensprozess. „Denn wirkliche Taten reifen nicht in dem temperierten Klima unangefochtener Selbstverständlichkeiten, entspringen nicht der gelassenen Seelenstimmung unbekümmerter Erfolgsgewissheit. Sie geschehen in der von höchsten Spannungen geladenen Atmosphäre des Ungewissen und noch der Gestaltung Harrenden. Sie werden geboren in den Erschütterungen einer Seele, die im Sturm des Handelns jeden sicheren Grund unter sich weichen fühlt […] darum hüte man sich wohl, in der Drohung des Negativen nur die Belastung zu sehen, wäre sie gebannt, so wäre auch die Atmosphäre zerf stört, die seinen (des Menschengeistes) Höhenflug einzig ermöglicht”.

Die in der Natur des Menschen als Geistwesen liegende Zweideutigkeit überträgt sich auch auf die gesamten Schöpfungen des Menschen, auf die Geschichte und die Kultur, wie Simmel dargelegt hatte, der dies eine Tragödie der Kultur nannte, aber auch sie als fruchtbaren Anstoß für Bewegung und Erneuerung wertete.

Dieses anthropologische Modell steht dem gegenwärtig gängigen Menschenbild diametral entgegen. Hinter dem gegenwärtigen Lebensgefühl und den Annahmen wissenschaftlicher Forschung steht ein Bild vom Menschen, der prinzipiell gut ist, ein materialistisch organisierter Gebrauchs- oder Montagetyp, optimistisch und flachschichtig. Der Mensch ist gut, sein Wesen rational, und alle seinen Leiden und Übel prinzipiell institutionsbedingt und korrigierbar, seine Schwäche hygienisch und sozial bekämpfbar. Alle seine Verhaltensweisen sind, wie die gesamte Welt einschließlich des Weltalls, der Wissenschaft zugänglich und können erklärt werden, wenn nicht heute, dann morgen.

Damit ist aber auch der Bildungsimpuls aus dem Menschenbild experimentell evakuiert. Wenn der Mensch gut ist, heißt das, sofern er Schlechtes tut, ist das Milieu daran schuld oder eine gestörte Kindheit, die Schule oder schlicht die gesamte Gesellschaft. Wenn der Mensch gut ist, heißt das, er soll nicht etwa gut werden, sich zu einem sittlichen Verhalten durchkämpfen, er soll überhaupt nicht kämpfen, eine Partei kämpft für ihn, die Gewerkschaft, die Rechtsschutzversicherung oder der Mieterbund, der Mensch soll konsumieren, leben und genießen, mit Rente im Herzen und Höhensonne im Haus, beides durch Stiftung Warentest zertifiziert.

Im Nachdenken über das Verhältnis zwischen Pädagogik und Philosophie stieß Litt sehr früh auf die Bedeutung des Methodenproblems, d.h. auf die erkenntnistheoretische Frage, wie die sich als Wissenschaft verstehende Pädagogik und Philosophie ihre Kenntnisse gewinnen. Litt erkannte als erstes, dass die Methode des Forschens kein neutrales Mittel sei, das man beliebig auswechseln könne, sondern konstitutiv für den Gegenstand der Forschung werde. Es waren lediglich die großen Fortschritte naturwissenschaftlicher Forschung, die die Annahme erleichterten, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften würden in gleicher Weise zu gesicherten Erkenntnissen gelangen, wenn sie sich der Methode des naturwissenschaftlichen Denkens bedienten, „daß auch die Erforschung der Menschenwelt mit den gleichen Methoden in Angriff zu nehmen sei, die sich in der Erforschung der Natur so glänzend bewährt hatten”.

Erziehungswissenschaftliche Forschung nimmt gegenwärtig mehrheitlidh an, Lifts Analysen zur naturwissenschaftlichen Methode setzten bei der Bekämpfung dieser weit verbreiteten Denkgewohnheit an. Das ist nur zum Teil richtig und betrifft die Schriften Litts zur Naturwissenschaft und Technik nach dem Zweiten Weltkrieg.
Bereits in den 30er Jahren sah Litt in den phänomenologischen Erkenntnistheorien, die von Hartmann, Heidegger, Jaspers und Lipps entwickelt wurden, eine Hinwendung zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal, was schließlich die Aufhebung der Trennung in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft begünstigte, und es nur noch mit einer Methode gearbeitet würde. Es war gerade die Phänomenologie, die den Imperialismus naturwissenschaftlicher Denkgewohnheiten begünstigte, beschleunigte und damit eine realistische Wende mit dem Anspruch der Phänomenologen, zurück zur Sache (Husserl) und der Annahme Heideggers, das Erkennende so zu erfassen, wie es an ihm selbst ist. Das muss voraussetzen, dass Seiendes an ihm selbst zugänglich sei, es zeige sich als das Seiende, das vordem schon war (Heidegger). Litt kritisierte diese Tendenz als ontologische Interpretation (Naturwissenschaft und menschliche Bildung), die die Mehrdeutigkeit aus der Welt experimentiere und damit das Doppelgesicht der Wahrheit. Das sei ein verkürztes Methodenbewusstsein. Benedikt XVI. nannte in seiner Regensburger Vorlesung dieses verkürzte Methodenbewusstsein die ,neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft´.

Eine grundlegende Problematik zeigt sich bereits in der Bestimmung dessen, was Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis sind. Unreflektiert werden sie simple als das Gegebene angesehen, als Fakten, Tatsachen, Realitäten, Vorhandenes. In fast allen Darstellungen zur empirischen Erziehungswissenschaft wird von gegebenen Phänomenen, z.B. Erziehung als Tatsache (Bre-zinka), der Erziehungswirklichkeit, den gegebenen Situationen, den Hauptgegenständen von Objekten, Material- und Formalobjekten und Gegenstandsbereichen gesprochen. „Die deskriptive Pädagogik ist eine realwissenschaftliche Disziplin, sie erforscht die Erziehungswirklichkeit,”41 heißt es in einem Lehrbuch. Im allgemeinen Bewusstsein verfestigten sich die Termini von Realität, Objekt, Faktum und Fakten, Fakten, Fakten. Das ist das Gegebene, das man räumlich und. zeitlich eingrenzen und auf seine Bedingungen isolieren kann.

Das Gegebene in dieser Welt sind aber keineswegs fakta, sondern rapta. Sie konstituieren sich erst durch die Methode, mit der sie beschrieben und erforscht werden. Selbst die Naturwissenschaften betrachten nicht mehr ihren Gegenstand an sich. Oppenheimer stellte unmissverständlich das konstitutive Moment der Methode heraus. „Das Elektron kann unabhängig von den zu seiner Beobachtung und Untersuchung angewandten Mitteln von uns nicht erfaßt werden. Die einzige Eigenschaft, die wir ihm ohne diese Hilfsmittel zuschreiben können, ist unsere gänzlich Unwissenheit”. Diese kritischen Naturwissenschaftler haben längst die Aufgabe übernommen, die die Philosophie liegen ließ. Litt kritisierte an den phänomenologischen Erkenntnistheorien die Vernachlässigung des Konstruktionscharakters der Methode. Die Relation von erkennendem Subjekt, angewandter Methode und den Erscheinungen ist keine naturgegebene, sondern eine hergestellte. Sie ist Produkt einer Denkbewegung, die ihre Ergebnisse ontologisch interpretiert. „Hier wie dort (bei Heidegger und Hartmann) ist das, was die Methode im Auf- und Ausbau der Erkenntnis leistet, ist ihr konstruktiver Charakter, verkannt”.

Indem empirische Methoden ihren Gegenstand beschreiben, grenzen sie ihn ab — die Untersuchungsgegenstände werden immer kleiner — die Beziehungen zum Umfeld werden immer mehr vernachlässigt (das wird als nicht signifikant gekennzeichnet), und die Frage, was man erkennen will, wird so gestellt, dass es nur eine Antwort geben kann. Seit dem Siegeszug des erkenntnistheoretischen Positivismus popperscher Prägung ist das nur noch ein Nein. Alle positivistischen wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten als vorläufig und können einsinnig nur noch falsifiziert werden. Jede Falsifikation aber konstatiert einen Zusammenbruch und hinterlässt Unsicherheit, denn bisher hatte man die Erkenntnis für richtig gehalten und das Handeln daran orientiert. Von hier auf gleich muss umgestellt werden, es ist eine Krisensituation, und es ist immer fünf Minuten vor Zwölf.

Die Falsifikation wurde eine willkommene und wohlfeile Beute journalistischer und feuilletonistischer Geschwätzigkeit. Jede Falsifikation hinterlässt einen chaotischen Zustand, Krisensituationen und dramatische Horrorszena-rien und schreien geradezu nach Spekulationen für Abhilfe, und fordern eine neuzeitliche Chaostheorie heraus, die dubiose Fakten mit Sciencefictionspekulationen verbindet.

Popper hat in seinen nachgelassenen Schriften eingeräumt, dass der wissenschaftliche Determinismus widersprüchlich sei, die Forschungsmethoden, modern sagt man leichthin das Forschungsdesign, erfasst nicht die gesamte Wirklichkeit, die Approximierung der Modelle an die Realität sei unab-schließbar, „insbesondere können wir Resultate, die wir im Laufe des Wachstums unserer eigenen Erkenntnis erreichen werden, nicht wissenschaftlich voraussagen”44 Popper plädiert fiIr einen wissenschaftsphilosophischen Realismus und eine Wissenschaftsphilosophie, die im Spannungsfeld zwischen allgemeiner Erkenntnistheorie und fachwissenschaftlicher Forschung angesiedelt ist. Das ist exakt jener Standpunkt, den Litt in seinen, beiden philosophischen Hauptschriften eingenommen hatte. Dort bezeichnete er als Aufgabe einer solchen Philosophie die einwärts gekehrte Reflexion auf die eigenen Forschungs- und Erkenntnismethoden. Die Erziehungswissenschaft hat diese Voraussetzung jeder soliden wissenschaftlichen Arbeit weitgehend aufgegeben und ein reduziertes Methodenverständnis der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaft übertragen. “Die Welt des Menschen aber — sie ist nur in ihren peripheren Erscheinungen der exakten Bestimmung durch mathematische Methoden zugänglich. In ihrer Tiefe entzieht sie sich unweigerlich der Erfassung durch die Mathematik”.

Unterlassene Reflexion auf die eigenen Erkenntnisbedingungen, fehlende erkenntnistheoretische Logik und Metaphysik und die Simplifizierung und Kanonisierung eines naturwissenschaftlichen Methodenbewusstseins, das es so in der Naturwissenschaft längst nicht mehr gibt, seit Quantentheorie, Relativitätstheorie und Unschärferelationen längst sehr viel subtilere Methoden entwickelt haben. Der verkürzte Rationalismus aber hat in der Erziehungswissenschaft Schaden angerichtet. Die realistische Wende hat eine ganzheitliche Pädagogik in lauter Bindestrichpädagogiken aufgelöst, eine Allgemeine Didaktik in Fachdidaktiken, die Lehrer in Experten für Unterricht, Moderatoren und Mediatoren. In den meisten Universitäten bestehen schon nicht mehr selbständige Institute für Allgemeine Pädagogik und Schulpädagogik, aber auch keine selbständige Erziehungswissenschaft mehr. Sie sind in andere Disziplinen für Kommunikation, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften oder Informationswissenschaften aufgegangen. Die empirische Forschung hat aber auch die Erziehungs- und Schulwirklichkeit nicht verbessert. Nach nahezu einhundert Jahren empirischer Forschung verfügt die Erziehungswissenschaft gegenwärtig über keinen wissenschaftlich akzeptierten Bildungsbegriff, über keine wissenschaftliche Definition von Erziehung und die Schulwirklichkeit ist gerade nachweislich empirischer Erhebungen in die untere Hälfte des Weltniveaus gesunken. Der Stand unserer Lehrerbildung wird als chaotisch beklagt. Das einst diagnostizierte Ende der philosophischen Pädagogik läutete den Niedergang eines Bildungssystems ein, das einst Weltgeltung besaß. Auch darüber müsste man erst eine empirische Studie erstellen. Doch dafür müssten die Empiriker erst ihr Methodendesign überprüfen, dann würden sie wohl erkennen, was schon Schiller wusste:
„Armer empirischer Teufel! Du kennst nicht einmal das Dumme
in dir selber, es ist, ach! A priori so dumm´´.
Am Anfang seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Pädagogik fand Litt, dass es für sie noch keine wissenschaftliche Begründung und Durchbildung gebe, und eine wissenschaftliche Theorie der Pädagogik noch um ihre Anerkennung zu ringen habe. Um aus diesem Status herauszukommen, sei theoretische Grundlegung und methodische Selbstgesetzgebung in einer philosophischen Prinzipienwissenschaft erforderlich. Damit weise die Wissenschaft von der Erziehung sich selbst ihren Platz in der Welt der Erziehungswissenschaft an. Sein ganzes Lebenswerk diente dem Entwurf dieser Prinzipienwissenschaft. Die Erziehungswissenschaft selbst wählte einen anderen Weg. Sie hat vor allem keine methodische Selbstgesetzgebung vorgenommen, sondern unter dem Vorwand der Effektivität und Modernität, die andere Wissenschaften an anderen Gegenständen entwickelt haben, sie sind als Trittbrettfahrer auf jede neue Theorie aufgesprungen, im Augenblick auf die Ansätze der Hirnforschung, aber sie haben insgesamt mathematisch-naturwissenschaftliche Methoden kanonisiert, und zwar weitgehend überholte. Deshalb gibt es gegenwärtig auch keine Pädagogik und keine Wissenschaft von der Erziehung mehr. Will sich die Pädagogik aus diesem Dilemma befreien, muss sie wohl wieder zum Grundsatz Lifts zurückkehren: Wir fangen nicht mit dem Zählen an, sondern mit dem Denken. Will Pädagogik aus dem Chaosgejammer herauskommen, muss sie wieder philosophische Prinzipienwissenschaft werden!

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