Theodor-Litt-Jahrbuch
1999/1
Leipziger Universitätsverlag 1999
EVA MATTHES
Theodor Litts Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
nach dem 8. Mai 1945
- Einleitung
Meine These lautet: Litts Werk nach dem 8. Mai 1945 läßt sich in weiten Teilen als direkte bzw. indirekte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus interpretieren. Litt wollte am Aufbau einer Staats- und Gesellschaftsordnung mitarbeiten, die ein Gegenmodell zum Nationalsozialismus darstellen sollte.
In diesem Beitrag können nur ausgewählte Aspekte — und diese nicht umfassend — beleuchtet werden, wobei die direkte Auseinandersetzung im Zentrum steht. Hierbei dominierten in Litts Vorträgen und Veröffentlichungen folgende Themenkomplexe: Schuld und Verantwortung; Ursachen des Nationalsozialismus; Widerstand; Die Haltung der Universitäten; Eigene Wandlungsprozesse.
- Schuld und Verantwortung
Die Grundlage für Litts Stellungnahmen bildet seine Anthropologie, die sich in diesem Kontext zuspitzen läßt auf die Aussage: Jeder einzelne habe Verantwortung zu tragen für seine Taten ebenso wie für seine Unterlassungen.
Auf dieser Basis lehnt Litt zwar eine Kollektivschuld ab, betont aber eine Verantwortung des deutschen Volkes für das Geschehene und spricht von der „solidarische(n) Haftung der Staatsbürger”. Er wendet sich gegen die Meinung, nur eine kleine Clique von Politikern und Wirtschaftsbossen bzw. von nationalsozialistischen Führern sei verantwortlich für die NS-Diktatur; verhängnisvolle Ideen und Vorstellungen hätten vielmehr in großen Teilen des Volkes Platz gegriffen und dem Nationalsozialismus den Boden bereitet. Seine Reden und Publikationen verstehen sich als Aufforderung an jeden einzelnen, sich seiner persönlichen Verantwortung zu stellen, sich keinen Selbsttäuschungen und Beschwichtigungen hinzugeben. Eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei nötig, um die Gegenwart und Zukunft zu meistern.
Litt zeigt sich darüber betroffen, daß es der Mehrzahl der Deutschen an der Bereitschaft zu umfassender Rechenschaftsablegung, kritischer Selbstbesinnung und entschiedener Umkehr mangele. Besonders zu betonen ist seine Absage an alle Aufrechnungsversuche von Schuld, die von einem fehlenden Rechtsbewußtsein und einer mangelnden Einsicht in das Verhältnis von Ursachen und Folgen zeugten.
Besonders eindrücklich zeigen sich Litts Einstellungen zu „Schuld und Verantwortung” in seinem Briefwechsel mit seinem ehemaligen Assistenten Hermann von Braunbehrens:
Von Braunbehrens scheint Litt — in einem leider nicht erhaltenen Brief —auf studentische Reaktionen während einer am 22. Januar 1946 gehaltenen Rede Pfarrer Niemöllers in der Neustädter Kirche in Erlangen hingewiesen zu haben. Niemöller forderte in dieser Rede ein Schuldbekenntnis ein, und zwar ein Bekenntnis nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen. Er lehnte alle Aufrechnungsversuche von Schuld ab. Ein Teil der Studenten drückte sein Mißfallen an den Ausführungen Niemöllers durch Scharren bzw. demonstratives Verlassen der Kirche aus. In der Presse wurde darüber berichtet.
Hierzu schreibt Litt am 22. Februar 1946 an von Braunbehrens: „Von dem Vorgang in Erlangen hatte ich schon vernommen. Er paßt zu ähnlichen ‚Kundgebungen’, hier und an anderen Universitäten. Ein Teil dieser Jugend hat jeden Verstand und jedes Maß verloren. Auch das gehört zu den Tatsachen, die mir die rechte Freude an meiner Tätigkeit rauben. Ich habe nicht die mindeste Neigung, mich noch einmal mit diesen Rüpeleien junger Narren auseinanderzusetzen. Die Erfahrung hat mich zu deutlich darüber belehrt, daß die ruhige Überlegung da einfach nicht zu Worte kommt. Die vielgehätschelte Jugend hat 1933 geholfen, Deutschland in den Abgrund zu führen, und sie wird es sich nicht nehmen lassen, dies Werk jetzt gründlich zu Ende zu führen. Wenn eines schönen Tages die Hochschulen von den Besatzungsbehörden geschlossen werden, dann werden diese Irrsinnigen ihr Ziel erreicht haben. Es ist schwer, sich angesichts von alledem eines Gefühls tiefer Bitterkeit zu erwehren. Dabei beschränken sich diese Erscheinungen keineswegs auf die junge Generation. Auch viele von den Alten haben sich in einen Zustand hoffnungsloser Verstockung hineingeredet. ,Hitler hatte den besten Willen’. ‚Unter den Nazis hatten wir doch Ordnung und satt zu essen’. Das sind oft zu vernehmende Redensarten. Wie soll einem solchen Volk geholfen werden?!”
Sehr deutlich sind auch Litts Ausführungen zu einer der bekanntesten philosophischen Fachzeitschriften. Am 2. Mai 1946 schreibt er an von Braunbehrens: „Wenn Glockner jetzt wieder einen ‚Logos’ machte, so würde ich das einfach skandalös finden. Diese Zeitschrift hat ja in jämmerlicher Weise den Mantel nach dem Winde gehängt. Aber in dieser Hinsicht geschieht manches Unverständliche.”
Zum Hintergrund: Über zwanzig Jahre wurde der „Logos”, Untertitel: “Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur”, von dem jüdischen Wissenschaftler Richard Kroner herausgegeben, an dessen Schicksal Litt sehr Anteil genommen hat. 1934 wurde die Zeitschrift umgetauft in „Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie. Neue Folge des Logos”. Als Herausgeber fungierten nun Hermann Glockner und Karl Larenz. Zur Einführung 1934 heißt es lapidar, daß sich Richard Kroner als langjähriger Herausgeber um den „Logos” verdient gemacht habe. Nun solle die Zeitschrift „Ausdruck des kulturphilosophischen Wollens unserer Zeit sein und damit jener großen Bewegung dienen, die heute durch unser Volk geht, und die wir zutiefst als eine geistige Bewegung begreifen.” „Unser Wille kommt in dem neuen Titel zum Ausdruck. Aus einer ‚Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur’ ist eine ,Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie geworden.”
Aus einem Schreiben von Braunbehrens’ an Litt vom 20. August 1946 geht hervor, daß der Tübinger Verleger Siebeck (Mohr-Verlag) die Absicht hatte, den „Logos” neu herauszugeben. Er wollte das Mitwirken Richard Kroners, dieser wollte im Hintergrund bleiben, empfahl aber Siebeck, seinen (Kroners) ehemaligen Assistenten Hermann von Braunbehrens an der Herausgabe zu beteiligen. In einem Brief an letzteren vom 30. August 1946 äußert Litt für Kroners Haltung Verständnis: „Nach allen Kränkungen, die ihm … widerfahren sind, wird er nicht den Wunsch haben, sich wieder mit beiden Füßen in das deutsche Leben hineinzustellen.”
Noch einige bezeichnende Briefstellen: 1.10.1946: „Was Sie [Hermann von Braunbehrens, in einem leider ebenfalls nicht erhaltenen Brief; E. M.] über die Ungleichheit der Schicksale berichten, die über die Naziverfechter gekommen, kann ich nur unterschreiben. Es gibt da kaum glaubliche Ungerechtigkeiten. Wieder einmal triumphiert die Geschicklichkeit mancher Leute, in jeder Situation obenauf zu kommen. Vielleicht interessiert es Sie, daß mir kürzlich ein urteilsfähiger Bekannter über die Schätzungsmaßstäbe in Ihrer Zone berichtete. Er sagte, was man an der Universität München wünsche, das sei ein wenn auch leichter Nazi-hautgout, keineswegs solche Leute, die im heutigen Sinne ‚unbelastet’ seien. Zum mindesten müsse man in der Region ‚Stahlhelm’ zu Hause sein.”
6.12.1946: „Es ist erstaunlich, mit welcher Kunstfertigkeit sich viele heute von den Konsequenzen ihrer früheren Haltung zu drücken verstehen. Nimmt man sie ernst, so mußte man annehmen, daß das deutsche Volk nur infolge eines Versehens oder unter dem Druck eines unüberwindlichen Zwangs den Weg der letzten zwölf Jahre gegangen ist.”
Auch nach seinem Wechsel in die englische Besatzungszone fühlte sich Litt zur Kritik herausgefordert, wie der Brief vom 25. Dezember 1947 an von Braunbehrens zeigt: „Das Geschimpfe über die Engländer übersteigt jedes Maß. Es klingt manchmal so, als seien sie allein an allem schuld, was uns plagt. Kürzlich war ich in einem Kreis von Industriellen, deren Reden und Meinungen etwa in die Umgebung von Ludendorff bestens hineingepaßt hätten. Man ist nicht nazistisch, aber in einem sehr verbohrten Sinne nationalistisch. An Bereitschaft, den eigenen Anteil an der deutschen Katastrophe unverhohlen einzugestehen, fehlt es weithin…
Der Brief Litts, aus dem ich als nächstes zitieren möchte, hat folgenden Hintergrund: In einem Sammelband mit dem Titel „Ex Captivitate Salus”. Untertitel: “Erfahrungen aus der Zeit 1945/1947″4 berichtet der Staats-rechtslehrer Carl Schmitt von einem Gespräch mit Eduard Spranger im Juni 1945, in dem Spranger in seiner Funktion als Rektor der Berliner Universität „die Beantwortung eines Fragebogens erwartete.” Außerdem habe er ihm gesagt, daß seine Vorlesungen zwar geistvoll seien, aber seine Persönlichkeit und sein Wesen undurchsichtig. Weiter unten heißt es im Text Schmitts bezogen auf Spranger: „Ich sah meinen Interrogator an und dachte: Wer bist Du denn eigentlich, der Du mich so in Frage stellst? Woher deine Überlegenheit?”
In Sprangers Nachlaß befindet sich eine mit dem ausdrücklichen Vermerk “Nicht für die Presse” versehene Stellungnahme zu den Ausführungen Schmitts, die Spranger Litt vermutlich zugesandt hatte. Jener führt darin aus, daß der Verlauf des Zusammentreffens ein anderer gewesen sei, ein von Spranger aus versöhnlicher, die politische Belastetheit Schmitts jedoch wohl unbestreitbar sei. Der Text Sprangers zeugt von dessen tiefer Verärgerung über die Veröffentlichung Schmitts.
Der Wortlaut von Litts Brief vom 14.10.1950 lautet: „Alles das, was uns an der westdeutschen Haltung ärgert und empört, tritt in Professorenkreisen ungemildert, manchmal durch traditionellen Dünkel verstärkt, zu Tage. Es ist ein Unglück, daß offenbar der Respekt vor dem Herrn Professor ebenso wenig gelitten hat wie der vor dem Herrn General. Unglaublich, mit welcher Zähigkeit sich solche Schätzungen behaupten. Nur aus diesem Grunde ist es möglich, daß diejenigen, die allen Grund hätten, den Mund zu halten, sich mit solcher Dreistigkeit hervorwagen. Kennen Sie die neueste Probe: Carl Schmitt „Ex captivitate salus,,. Es besagt alles, daß diese scheinheilig-verlogene Schrift von der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ mit Enthusiasmus begrüßt worden ist, wobei der grausame Verfolger Schmitts, E. Spranger, [wie Litt ironisch schreibt; E. M.] einen tüchtigen Jagdhieb abbekommt. Es wird bald so weit sein, daß unsereiner um Verzeihung bitten muß.”
Bis zu seinem Lebensende hat sich Litt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unter der Perspektive Schuld und Verantwortung auseinandergesetzt. Hierzu noch ein letztes Zeugnis:
In einem Brief an von Braunbehrens vom 29. Dezember 1959 heißt es: „Wie Sie werde auch ich immer durch die Erinnerung in die Zeiten der Nazi-Diktatur zurückgeführt, und ich spüre, wie die Erinnerung an das damals Durchgemachte mich bewegt und erregt. Unbegreiflich ist mir dann der Gleichmut, mit dem bei uns so viel dies Stück deutschen Schicksals registrieren und vor allem sich mit ihrer eigenen damaligen Hörigkeit abfinden — nicht zum wenigsten in unserer gelehrten Zunft.”
- Ursachen nationalsozialistischer Herrschaft
Litts weltanschauliche Position führte ihn dazu, „Ideenmächten” zentrale Bedeutung für die Durchsetzung des Nationalsozialismus zuzuschreiben. Er war der Überzeugung, daß die Mehrheit des deutschen Volkes, nicht nur einzelne, sich von verhängnisvollen Ideen vereinnahmen habe lassen und somit anfällig gewesen sei für die Verlockungen des Nationalsozialismus, der sich diese Ideen geschickt zu eigen zu machen verstanden und sie für seine Zwecke instrumentalisiert habe.
Es war vorrangig, aber nicht nur Litts weltanschauliche Position, die ihn nach dem 8. Mai 1945 die Bedeutung der Ideen, des geistigen Zustandes des deutschen Volkes so sehr herausstreichen ließ; er wollte damit auch einen Gegenpol bilden zu den in der SBZ vorherrschenden Interpretationen, wonach die ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen die ausschlaggebenden gewesen seien für die Etablierung des Nationalsozialismus. Ganz bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Vortrag, den Litt bei der Eröffnung der Leipziger Ortsgruppe des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands” 1945 gehalten hat.
Litt betonte in seinen Ausführungen, daß es „nicht dieses Ortes (sei), auf die Verwicklungen des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens einzugehen, die bei einer vollständigen Beantwortung dieser Frage ins Auge zu fassen wären. Es ist ebensowenig meine Sache, das Heer der —ismen aufmarschieren zu lassen, die man im Zusammenhang dieser Ursachenforschung zu beschwören pflegt. Vielmehr glaube ich dem Sinn dieser Feierstunde am ehesten Genüge zu tun, wenn ich den Blick auf gewisse Ideenmächte hinlenke, die unser Volk gegenüber den Suggestionen der nationalsozialistischen Propaganda verhängnisvoll anfällig gemacht haben. Denn es gibt auch Ideen, die den Menschen bis zur völligen Selbstpreisgabe in Fesseln schlagen können. Und es will mir scheinen, als ob gerade eine Vereinigung, die sich ‚Kulturbund’ nennt, in einer Sichtung und Prüfung der Ideen, von denen die Zeit sich am stärksten bewegt fühlt, eine ihrer wesentlichen Aufgaben erblicken müsse. Es gibt nichts, was mehr erkundet zu werden verdiente als die höchst doppeldeutigen Ausstrahlungen, die von diesen inneren Gewalten ausgehen” (S. 9).
Als ursächliche Ideenmächte nennt er vorwiegend solche, die er bereits in der Weimarer Republik einer kritischen Interpretation unterzogen hatte: Lebensphilosophie verbunden mit einer romantischen Rückwärtsgewandt-heit und dem Hang zum Irrationalismus; historischen Determinismus; “Realpolitik” Treitschkescher Provenienz; Deutschkundebewegung; Fun-damentalismus/Konfessionalismus.6 Bemerkenswert sind auch seine Stellungnahmen zum Antisemitismus, den er vor allem bei der Studentenschaft schon während der Weimarer Republik stark verankert sah.
- Widerstand
Nach Litts Überzeugung wäre Widerstand in den Anfangsjahren des NS-Regimes wirkungsvoll gewesen. Dieser sei unterblieben, vorherrschend sei vielmehr vielerorts ein vorauseilender Gehorsam gewesen. Litt stellt fest, daß nach der Niederlage des Nationalsozialismus die Mehrheit des deutschen Volkes nach wie vor nicht gewillt sei, den Widerstand anzu- und seine moralische Größe zu erkennen. Er hält es für unverzichtbar, daß er mit Gleichgesinnten um eine Akzeptanz für die Widerstandskämpfer im deutschen Volk werben muß. Es gelte deutlich zu machen, daß nicht diese, sondern die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer die Vaterlandsverräter waren.
Nicht zuletzt autobiographisch bedingt — Litt war mit Carl Goerdeler befreundet, wußte allerdings nichts von den Umsturzplänen — steht bei seinen Reflexionen der Widerstandskreis um den 20. Juli im Zentrum, wobei neben Goerdeler auch der Leipziger Industrielle Walter Cramer’) Litts besondere Beachtung findet.
Litts Aussagen zum Widerstand sind nie nur vergangenheits-, sondern immer auch gegenwarts- und zukunftsbezogen. Dies wird deutlich in der Ansprache an Frau Goerdeler am 20. Juli 1945 in Leipzig wie vor allem in seiner Ansprache auf der großen antinationalsozialistischen Kundgebung am Augustusplatz am 29. September 1945.
Als hervorstechendes Merkmal des Widerstandskreises um den 20. Juli hebt er dessen plurale Zusammensetzung und seine Verständigung über weltanschauliche und politische Differenzen hinweg hervor — darin steckt eine indirekte Kritik an dem Widerstandsverständnis der Kommunisten und die Aufforderung zur Gestaltung einer pluralistischen Demokratie.
Besondere Kritik übt Litt an dem Verhalten der „Gebildeten”. Sie hätten es besser wissen und ihre Stimme gegen die Nationalsozialisten erheben müssen. Litt exemplifiziert seine Meinung am Beispiel der Hochschulen, auf die er — als sein spezifisches Wirkungs- und Erfahrungsfeld — immer wieder zu sprechen kommt.
- Die Rolle der Hochschulen
Die Mehrzahl der Hochschullehrer stand nach Meinung Litts der Weimarer Republik negativ gegenüber; sie hatte ihr politisches Zuhause im Wilhelminischen Kaiserreich und zeigte keine Bereitschaft, sich auf die neue Staatsordnung einzulassen. Die Weimarer Republik habe also bei der Mehrzahl der deutschen Hochschullehrer keinerlei Unterstützung gefunden, im Gegenteil: sie sei von den Kathedern herunter verächtlich gemacht worden.
Überzeugte Nationalsozialisten habe es allerdings unter den Hochschullehrern nur wenige gegeben, die Studenten hätten hingegen in ihrer Mehrheit hier eine Vorreiter- und „Sturmtrupprolle” innegehabt.
Litt spricht über die Rolle der Studenten vor dem Hintergrund seiner Zusammenstöße mit nationalsozialistischen Studenten an der Leipziger Uni-versität und des Vater-Sohn-Konflikts, den er mit seinem NS-gläubigen Sohn Alfred hatte. Litt wird nicht müde, die verhängnisvolle Rolle der Studentenschaft in Vorträgen zu betonen — so eröffnete er etwa noch im Mai 1960 an der Universität Freiburg eine vom Allgemeinen Studentenaus-schuß veranstaltete Vortragsreihe über den Nationalsozialismus und wählte das Thema: „Die deutsche Studentenschaft und der Nationalsozialismus”; die nationalsozialistische Bewegung interpretiert er nicht zuletzt auch als eine Jugendbewegung.
Er ist bereit, sehr schnell scharf über „studentisches Aufbegehren” zu urteilen; zwischen Litt und Studenten hätte es sicher zur Zeit der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre heftige Konflikte gegeben. Immer wieder wird allerdings auch seine Skepsis hinsichtlich des politischen Urteilsvermögens der Hochschullehrer deutlich. Als ein Beispiel hierfür sei sein Leserbrief “Politisierung der Hochschule” angeführt, der in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” vom 23. April 1958 abgedruckt wurde:
„Die Zeit liegt noch nicht weit zurück, da man sich bitter darüber beklagen mußte, wie sehr ein großer Teil — ja sagen wir getrost: der größte Teil der Hochschullehrerschaft es an dem Bekennermut fehlen ließ, der ihm schon durch seine Berufsbezeichnung abgefordert wurde … Es ist die erstaunliche Tatsache festzustellen, daß der Durchschnittsdeutsche trotz aller Erfahrungen, die die Jahre 1933 bis 1945 dem an der Hochschule interessierten Betrachter beschert haben, immer noch bereit ist, dem Hochschullehrer auch jenseits der Grenzen seines Fachs, auch im Bereich der politischen Problematik, einen erheblichen Vorsprung an Einsicht und Urteilsklarheit zuzubilligen … “
- Eigene Wandlungsprozesse
a) Veränderte Einstellung zum Neuhumanismus
In einem Brief vom 28. Dezember 1947 — kurz nach seinem Wechsel in die Westzone —,schreibt Litt an Spranger: „In welchem Maße in den hinter uns liegenden Jahren die sog. ‚höhere’ Bildung versagt hat, scheint den führenden Schulmännern noch nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein. Anfangsunterricht im Lateinischen erscheint ihnen als Garantie geläuterten Menschentums. Ich bin heute nicht mehr imstande, in irgend einer Bildungsform das unbedingte Heil zu erblicken. “
Derselbe Gedanke findet sich nochmals sehr deutlich in seinem am 19. Januar 1961 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckten Leserbrief „Bewährung der Humanisten”, in dem er sich kritisch mit folgender Aussage Karl Korns in einem Artikel der FAZ v. 12. Januar 1961 auseinandersetzt: “Es ist nun einmal nicht wegzudiskutieren, daß der Unterricht an den Quellen der exemplarischen Antike jenen Typus Mensch erzieht, der sich nicht an alles anpassen läßt, weil ihm die Urerfahrung der geistigen und sittlichen Autonomie zuteil wurde.” Litt hält dem entgegen:
„Von der Überzeugung, die sich in diesem Satz ausspricht, war auch ich durchdrungen, als ich noch am Gymnasium griechischen und lateinischen Unterricht erteilte. Vielleicht würde ich ihr auch heute noch huldigen, wenn nicht die Zeit, die zwischen meiner gymnasialen Tätigkeit und unserer Gegenwart liegt, uns Erfahrungen beschert hätte, die es mir unmöglich machen, an ihr mit gutem Gewissen festzuhalten… Was ich in dieser Hinsicht [das Verhalten der humanistisch (Aus-!) Gebildeten in der NS-Zeit ist gemeint; E. M.] an Enttäuschungen erlebt habe, das hat meinem Glauben an die charakterbildende Kraft des Umgangs mit der Antike einen Stoß versetzt, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Das will nicht als Absage an die humanistische Bildung verstanden sein, wohl aber als Warnung an diejenigen, die sich ihre Verteidigung zu leicht machen, in dem sie ihr Wunderwirkungen nachsagen, die in entscheidender Stunde weithin ausgeblieben sind.” Litt hat für diese bzw. ähnliche Gedanken in den 50er Jahren und Anfang der 60er Jahre teils heftige Kritik von seiten der Altphilologen bzw. generell von konservativer Seite erfahren — Litt blieb immer unbequem.
Von Interesse ist erneut der Vergleich mit Sprangers Position, der auch nach 1945 das neuhumanistische Gymnasium für die beste Form gymnasialer Bildung hält, da dieses in besonderem Maße dazu prädestiniert sei, Menschen zu bilden, die „die geistigen Kräfte in sich tragen, in der technisch-industriellen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts Kultur zu gestal-ten„. Immer wieder werden im Vergleich inhaltliche Diskrepanzen zwischen Spranger und Litt deutlich, was ihrer gegenseitigen Wertschätzung keinen Abbruch tat, jedoch deutlich werden läßt, daß es sich bei beiden um sehr unterschiedliche Charaktere und Denker handelte.
b) Verändertes Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik
Zunächst ist auf eine klare Kontinuität im Littschen Denken zu verweisen: Wissenschaft dürfe nicht für politische Zwecke instrumentalisiert werden bzw. sich instrumentalisieren lassen; die Stimme eines Wissenschaftlers im politischen Meinungsstreit wiege nicht mehr als die eines jeden anderen.
Worin liegt nun der Wandel? Litt macht es uns hier leicht, wir sind nicht nur auf unsere eigene Interpretation angewiesen: In seiner Schrift „Freiheit und Lebensordnung. Zur Philosophie und Pädagogik der Demokratie” aus dem Jahre 1962 äußert sich Litt selbstkritisch zu der Neutralitätsposition, die er in der (Endphase der) Weimarer Republik eingenommen hatte:
“Noch … glaubte ich damals Wissenschaft und Hochschule verpflichtet, gegenüber der Gesamtheit der politischen Entscheidungen und Parteibildungen strenge Neutralität zu wahren … Damit untersagte ich ihr aber, sich die Frage vorzulegen, welches Verhältnis zwischen den um die Seele werbenden Parteiprogrammen und ihr selbst bestehe. Ich untersagte ihr, den kardinalen Unterschied festzustellen, der darin liegt, daß unter diesen Programmen solche sind, deren Realisierung den Untergang der freien Wissenschaft mit sich bringen muß — andere sind, die die Freiheit der Wissenschaft nicht nur zu dulden bereit sind, sondern sich mit ihr durch die strengste Solidarität verbunden wissen. Ich sah nicht, daß die Hochschule mit dieser Feststellung die Grenze dessen, was im Namen der wissenschaftlichen Wahrheit auszusagen wäre, nicht um Haaresbreite überschreiten würde” (S. 101f.).
Litt war also nach 1947 davon überzeugt, daß nur in einer freiheitlich-pluralistischen Demokratie die Freiheit von Forschung und Lehre (dieser fühlte er sich als erstes verpflichtet, weil dies sein Wirkungsbereich war), aber auch die Freiheit generell bewahrt werden könne; er sah nur noch die Alternative Demokratie oder Totalitarismus.
Sich als Hochschullehrer für die Demokratie einzusetzen, auch vom Katheder herab, empfand er nun nicht mehr als ungebührliche Grenzüberschreitung, sondern als zwingende, auch die eigene Freiheit schützende Notwendigkeit.
Zur Verdeutlichung: Litt hätte in der Bundesrepublik in seiner Funktion als Wissenschaftler jeden Aufruf für den Erhalt der Demokratie unterschrieben; er wäre als Wissenschaftler für die Demokratie auf die Straße. gegangen. Allerdings wäre er in seiner Funktion als Wissenschaftler niemals für ein bestimmtes Parteiprogramm aufgetreten, um ihm damit etwa den Anspruch einer höheren Weihe, eines höheren Grades von Objektivität zu verleihen.
Nochmals anders formuliert: Litt ist durch die Auseinandersetzung mit zwei Diktaturen deutlich geworden, daß bestimmte Ziele — die er in der Weimarer Republik schon genauso hatte wie 1945 — bestimmter politischer Rahmenbedingungen bedürfen, um durchgesetzt werden zu können. Diese Rahmenbedingungen schien ihm nun nur noch eine freiheitlich-pluralistische Demokratie zu gewährleisten, zu der konstitutiv „die Abweichung der Menschenbilder im Plural”, die Absage an jede staatlich monopolisierte Heilslehre und — damit eng verbunden — eine institutionell abgesicherte und in ihrer Bedeutung anerkannte Opposition und die Teilung der Gewalten gehören. In das politische System müssen sozusagen Schutzmechanismen eingebaut werden, die die Gefahr des Machtmißbrauchs — die aus anthropologischen Gründen immer präsent ist — minimieren und toleranten Umgang mit Andersdenkenden zur Notwendigkeit werden lassen.
Auf dieser Basis beruht Litts Entwicklung seiner Konzeption einer staatsbürgerlichen Erziehung zu einer Konzeption einer politischen Bildung für die Demokratie. Als schwierigste und vordringlichste Aufgabe sieht Litt hierbei an, zum Aushalten des Pluralismus zu erziehen. Wie dies zu geschehen habe, hiermit läßt uns Litt allerdings alleine, womit wir schließlich bei unseren Aufgaben und Herausforderungen angekommen wären.