Theodor Litt in Lettland 1926 und 193315 min read

ALIDA ZIGMUNDE
Theodor Litt in Lettland
Der Besuch von Theodor Litt anlässlich der Deutsch—Baltischen Lehrertage in Riga im Jahre 1926 und 1933

Professor Theodor Litt (1880-1962) kam aus Anlass des „VII. Deutsch—Baltischen Lehrertages” nach Riga, der in der Zeit vom 6. bis zum 9. April 1926 stattfand. Diese Konferenz war international hochrangig besetzt, denn es kamen u.a. Referenten aus Lettland, Estland und Deutschland zu Wort. Aus Deutschland wirkten drei namhafte Wissenschaftler mit, und zwar Professor Dr. Theodor Litt aus Leipzig, Dr. Friedrich Worms aus Misdroy und PD Dr. Karl Justus Obenauer aus Leipzig.
Friedrich Worms (1894-1962) war ein Deutschbalte, der aus Kurland (heute: Lettland) stammte und als Oberlehrer in der Baltenschule in Misdroy tätig war. Diese war nach dem Ersten Weltkrieg im Februar 1919 von Intellektuellen gegründet worden, die aus dem Baltikum vertrieben worden waren. Der Vortrag von Friedrich Worms befasste sich speziell mit der pädagogischen Arbeit der Baltenschule in Misdroy.’
Dr. Karl Justus Obenauer (1888-1973) war Germanist. Er referierte über die pädagogischen Grundanschauungen Goethes. 1926 bis 1932 war er als Privatdozent an der Philologisch-Historischen Abteilung der Universität Leipzig tätig.2 Aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus stimmten jedoch seine politischen Anschauungen mit den Anschauungen von Th. Litt absolut nicht überein, wenngleich er als Germanist durchaus geschätzt war. Dr. K. J. Obe-nauer hielt seinen zweistündigen öffentlichen Vortrag bereits am ersten Tag.
Die Tagesordnung des Deutsch-Baltischen Lehrertages zeigt, dass Th. Litts öffentlicher Vortrag „Die Formen des deutschen Bildungsgedankens” der umfassendste und zugleich auch der zentrale Vortrag war. Er dauerte etwa sechs Stunden und wurde in drei Sequenzen geteilt: der erste Teil wurde am 7. April vorgetragen. Die beiden anderen Teile folgten am 8. und 9. April. Sie waren bewusst an den Schluss des jeweiligen Veranstaltungstages platziert, damit zum einen hinreichend Zeit zur Diskussion war. Zum anderen musste man auf diese Weise den geschätzten Gast nicht auf die Einhaltung der Uhrzeit hinweisen. Die Vorträge von Th Litt und K. J. Obenauer wurden als besonders eindrucksvoll bezeichnet.
Theodor Litt kam nach Lettland, wo man ihn sehr gut kannte, denn seine Werke waren bereits von Vielen gelesen worden. Er hatte Freunde sowohl unter den Deutschen, als auch unter den Letten. So hatte z. B. der spätere Dozent der Universität Lettlands, Eduard Petersons, schon im Jahre 1922 Litts Vorlesungen in Leipzig gehört. Allgemein kann auch festgehalten werden, dass in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Werke von Theodor Litt und seinen Zeitgenossen Eduard Spranger und Hugo Gaudig im Baltikum hoch geschätzt waren. Das starke Interesse für deren Tätigkeit wurde wesentlich auch durch ihre Besuche im Baltikum verstärkt. Der Dozent der Universität Lettlands und frühere Bildungsminister Lettlands, Alexander Dauge, hatte in seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen Theodor Litt nicht nur zitiert, sondern seine Zuhörer nachhaltig dazu ermuntert, u. a. Litts Buch über „Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik” (1926) zu lesen.4
Theodor Litt wurde in der damaligen Zeit im Baltikum als eine große Persönlichkeit gewürdigt, die den „Geist des Baltentums” wesentlich mitgeprägt hat.5 Er wird nach wie vor als ein herausragender Philosoph und Pädagoge verehrt. Seine Werke gehörten zum Pflichtkanon vieler Pädagogikstudenten und Lehrkräfte der Universität Lettlands und des Herderinstituts zu Riga. So studierte z. B. der Absolvent der Universität Lettlands, der Lehrer in Riga und Historiker Harald Johann Voss, am Pädagogischen Institut des Deutschen Elternverbandes. Seine Abschlussarbeit am Institut lautete „Das Werk von Theodor Litt — Geschichte und Leben”.6 Dieses Werk kannten wohl in Lettland mindestens alle diejenigen, die sich mit Philosophie und Pädagogik beschäftigten oder sich entschlossen hatten, ihr Leben diesen Wissenschaftsbereichen zu widmen. Auch die an der Universität Lettlands von Studenten gegründete „Gesellschaft der Pädagogik” hatte die Absicht, dieses Werk für die Bibliothek zu beschaffen.

Die Bücher von Th. Litt waren stets und unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung in Deutschland auch in Lettland erhältlich; sie sind auch heutzutage in den Bibliotheken zu finden. Unter seinen Veröffentlichungen sind besonders das Werk „Die Befreiung des geschichtlichen Bewusstseins durch J. G. Her-der” (1942) zu erwähnen. Es ist zu beachten, dass J. G. Herder eine im Baltikum und besonders in Riga hoch geschätzte Persönlichkeit war und nach wie vor ist, denn er war Lehrer an der Domschule in Riga (1764-1769), hatte lettische Volkslieder gesammelt und diese unter den Deutschen nachhaltig bekannt gemacht und verbreitet.
Im Baltikum war man über die Entwicklung der pädagogischen Wissenschaften insgesamt stets gut informiert. Man beteiligte sich an den verschiedenen Veranstaltungen in Europa, besonders in Deutschland. So erhielt der „Deutsch-Baltische Lehrerverband” in Lettland eine Einladung zum pädagogischen Kongress in Weimar (7. bis 9. Oktober 1926), der sich mit dem Thema „Die moderne Kultur und das Bildungsgut der deutschen Schule” auseinandersetzte. Im Mittelpunkt dieser internationalen Fachtagung stand der Vortrag von Theodor Litt (Universität Leipzig) zum Thema „Die gegenwärtige pädagogische Lage und ihre Forderungen”. Ebenfalls referierten Georg Kerschensteiner (München) über das Thema „Der pädagogische Begriff der geistigen Arbeit und seine Auswirkung auf das deutsche Bildungsgut” sowie Aloys Fischer (München) „Gesellschaft und Beruf und ihre Auswirkung auf das deutsche Bildungsgut”.7
Im April 1933 kam Th. Litt erneut nach Riga und beteiligte sich am „IX. Deutsch—Baltischen Lehrertag” mit dem Vortrag „Die Krisis der Humanitätsidee im deutschen Geistesleben”. Während des Aufenthaltes in Riga hat Th. Litt zudem in der Herdergesellschaft in Riga auch zu folgendem Thema referiert: „Die Selbsterforschung des Menschen”. Die Vorträge von Th. Litt sind teilweise in der deutschen Presse Rigas wiedergegeben und somit für die Geschichte und weiteren Forschungen aufbewahrt. Da der Vortrag „Die Krisis der Humanitätsidee im deutschen Geistesleben” bis heute in Deutschland nicht bekannt ist, veröffentlichen wir ihn hier so, wie er damals aus der Feder eines unbekannten Autors in der „Deutschen Zeitung” in Riga (offensichtlich in Auszügen) gedruckt wurde:
“Die deutsche Humanitätsidee ist in eine Krisis geraten, die durch die jüngste politische Lage in besonders grellem Licht erscheint. Die Hoffnungen der Pädagogik, nach dem Zusammenbruch der Revolutionsjahre die chaotische Welt zu neuer Ordnung und Läuterung zu bringen, eine Neugestaltung des Staates, der Gesellschaft und der Menschen herbeizuführen, ,haben auf der ganzen Linie ein Fiasko erlitten — es musste so kommen, weil die Pädagogik ihre Aufgabe überschätzt hatte. Die Bewegung beanspruchte revolutionär zu sein, entnahm aber ihre leitenden Ideen aus der deutschen klassischen Bewegung. Heute ist der klassische Ideenschatz unsicher geworden und die Verbindung droht abzureißen. Kennwort der Gegenbewegung ist das Wort „Grenze”. Anrecht auf Individualität, Totalität wird in Zweifel gezogen. Alles wird im Blickfeld einer überpersönlichen Wirklichkeit geschaut. Eine Neugestaltung der pädagogischen Bewegung wird vom deutschen Volk als Notwendigkeit gesehen.
Aus welcher Tiefe heraus diese Krise kommt, beweist die Verschiedenartigkeit der Gegner dieser Humanitätsidee.
Ihrer radikalsten gibt es drei: die neuprotestantische, dialektische Theologie, die neuromantische Lebensphilosophie und die Ideenwelt der soziologischen Realisten.
Was macht nun das Wesen der Humanitätsidee eines Hegel, Herder, Goethe, Alexander von Humboldt,8 um nur die markantesten Vertreter zu nennen, aus?
Es ist der Glaube an den unbedingten Fortschritt des Menschen zur Vollkommenheit, zur Harmonie. Der Glaube an die Möglichkeit zur Selbstgestaltung. Die Verherrlichung des menschlichen Geistes.
Im Gegensatz zu der Humanitätsidee liegt das Schwergewicht dialektischer Theologie im Transzendentalen (,das ganz andere” R. Ottos). Menschsein heißt hier „begrenzt sein”, heißt „unter dem Gericht Gottes stehen”. Diese Einstellung bringt den Verzicht auf alle so genannten Bildungsideale mit sich.


Die neuromantische Lebensphilosophie (Ludwig Klages: „Geist als Widersacher der Seele” u. a.) ist eine Zusage an die unbewusst schaffende Kraft, aber keine unbedingte Absage an den Geist. Ihr Gebiet ist das Dunkel, der Traum, das Unbewußte.
Der dritten Gruppe liegen die Realitäten des politischen und wirtschaftlichen Lebens zur Grundlage. Die humanistische Bildung wird als Gut des aufsteigenden Bürgertums des 18. Jahrhunderts empfunden. Heute gilt es, das „Standortbewusstsein” zu besitzen. Gebildet ist heute der, der seinen Standort im politischen, staatlichen Ganzen aufweisen kann, und aus diesem Wissen die Richtung und die Kraft seines Kampfes ableitet.
Die marxistischen Klassenideen sehen die Bildung nur als Ausdruck der geistigen Situation der jeweils herrschenden Klasse an. Es schließt sich dieser Gruppe auch jener Typus des jungen Menschen an, der auf die neue Sachlichkeit schwört und dem Sport und der Geselligkeit die Erfüllung seines Daseins bieten („Schofförtypus” des Grafen Keyserlingk).
Der Begriff „Volk” ist es, der heute mit neuer Glut erfaßt wird War der Volksbegriff Herders in der Romantik mit dem Begriff eines organischen Wachstums in Sprache, Dichtung, Sitte verknüpft, so ist heute eine Verschiebung in voluntaristischer, aktivistischer, politischer Richtung zu bemerken. Das Volk ist heute die Zusammenfassung der Macht. Das Volk will zur Weltanschauung werden.
Der Humanitätsgedanke wird nach dem Vortragenden in doppeltem Sinne betroffen:
1) Der Humanitätsgedanke Herders u. a. mit dem Anspruch auf Selbstausgestaltung und Ausbau der Persönlichkeit wird heute als schwächlicher Aesthe-tismus gewertet. Die Pflichten der Gemeinschaft, dem Volk gegenüber drängen alle individualistischen Bestrebungen radikal zur Seite. Die nationale Überlieferung wird mit Vorbehalt übernommen. Man wählt aus der Vergangenheit das, was dem aktivistischen Trieb Nahrung gibt (Frederikus, York), alles andere kommt erst in zweiter Linie. Volk ist für manchen nicht so sehr die in Sprache und Geschichte gewordene Gemeinschaft, sondern letztlich etwas Metaphysisches. „Gib dich selbst auf zum Wohle des Ganzen”, ist die heutige Forderung der Nation. Persönlichkeit wird nur beim Führer geduldet, die übrigen haben sich dem Kommando zu unterstellen. Das Schlagwort „liberal” bedeutet heute — Schädling des Volkes.
2) Humanität als Verzeihen, als Aufgeschlossensein dem Wesen anderer gegenüber und dergl wird als „Humanitätsduselei” bezeichnet. Eine Unfähigkeit zur Parteinahme, eine pedantische Objektivität erscheinen als frevelicher Luxus. Kein ganzer Kerl ist heute, wer sich aus lauter Objektivität nicht restlos Eür eine Sache einsetzen kann. Nicht umsonst tönt heute das Schlagwort vom „unbeugsamen Kampfeswillen”. E. Krieck sagt, dass die gesamte Kultur sich bedingungslos dem Primat des Politischen wird unterstellen müssen, und der Reichspropagandaleiter hat verkündet, dass der Gedanke einer Autonomie der Kunst ein liberal-demokratischer Begriff sei, der in unserer Gegenwart keine Bedeutung mehr haben darf Allen Bildungsanstalten wird Selbstgesetzlichkeit für den gegenwärtigen entscheidenden Zeitpunkt abgesprochen. Es gilt heute, alles in den Dienst einer Sache zu stellen. Das erklärt das Bekenntnis der Jugend zur Primitivität, und daraus wächst die Auflehnung gegen den klassischen Humanitätsgedanken.
Auf der ersten Seite der Verneiner des Humanitätsideals sehen wir eine Absage an den Geist zugunsten des Transzendentalen, auf der anderen eine Verhärtung des Geistes im völkischen Wollen. Die doppelte Wendung scheint höchst begreiflich. Die Jahre seit 1914 brachten sowohl Verzweiflung am Geist als auch seine Verhärtung.

Im zweiten Teil des Vortrages versuchte Prof Litt die Frage zu beantworten, ob der klassische Bildungsgedanke heute zu verwerfen sei, oder ob man sich für ihn trotz aller Anfechtungen einsetzen muß. Um hierüber entscheiden zu können, unterzieht er die Begriffe der schärfsten Gegner einer weiter gehenden Kritik.


Die Absage des Neuprotestantismus an die humanistische Ideenwelt, sei es nun dass sie als Fortschrittsoptimismus auftritt, oder in feinerer Form, ist am stärksten bedingt durch das Erlebnis des Zusammenbruchs aller menschlichen Kultur seit 1914. Der menschliche Geist, auf den der Humanist so fest vertraute, hat sich als machtlos erwiesen. Der Mensch ist nicht Schöpfer, sondern Sklave des Schicksals, das aus dem Schoße seiner eigenen Kultur dämonisch ausgebrochen ist und sich über ihn erhoben hat, alles Wert—und Normbewußtsein ins Wanken bringend. Eine Anzweiflung der Kultur und ihrer Grundlage — der Bildung — ist aus dieser Lage verständlich. Der theologische Mahnruf mit der Blickrichtung auf das Transzendente soll sich auch tief ins Bewusstsein der Menschen eingraben. Das Zutrauen zur geistigen Kultur dürfen wir aber nicht verlieren, denn sonst gleiten wir ganz in die Sphäre des Politischen – des Gesellschaftlichen, des Sozialen. Jede Absage an den Geist bedroht unsere Bildungsarbeit.
Vom politschen Realismus würde eine Einschränkung der Bildung begrüßt werden. Es folgt eine Gegenüberstellung von Politik und Bildung, die im Wesentlichen wiedergegeben sei, ohne vorerst dazu kritisch Stellung zu nehmen. Aus dieser Gegenüberstellung versucht der Vortragende die Frage zu entscheiden, ob das künstlerische und das geistige Leben, sich politischen Forderungen unterstellen muß, oder vollkommen autonom sein soll. Wesentlich für Politik sei:
1) Politisches Handeln soll in einem bestimmten Augenblick einen bestimmten Effekt erzielen. Art und Zweck können je nach Notwendigkeit wechseln.
2) Der politische Erfolg wird stets durch Kampf erzielt, besiegelt wird er durch den Sieg.
3) Politik baut sich immer auf kollektiver Grundlage auf
4) Ultima Ratio jeder Politik ist die Möglichkeit des Zugriffs auf Leib und Leben — Politik ist, mit den Worten Max Webers – „legitime Gewalt”.
5) Politisches Handeln ist seinem Wesen nach konstellationsbedingt. Maßgebend sind innen- und außenpolitische Situationen. Bildnerisches Tun und politisches Handeln sind weit voneinander entfernt. In der Welt der Bildung sei der Kampf nicht das Normale. Für die Politik sei der Mensch in gewissem Sinne Mittel zum Zweck. Beim Erziehen dürfe der Mensch nie Mittel zum Zweck werden. Der Versammlungsredner könne nicht fein individualisierend vorgehen, Erziehung dagegen fordere sanfte Rücksichtnahme auf den Einzelnen. In der Erziehung gebe es Höchstanspannungsmomente nur im Ausnahmefalle. Im politischen Leben ist man oft vor plötzliche Entscheidungen gestellt.


Es wird oft die Klage erhoben, dass Hochschule und Schule lebensfern sind. Das sei in bestimmtem Sinne eine Notwendigkeit. Die Welt der Bildung müsse der leidenschaftlichen Empfindung des Kampfes enthoben sein. Weil die politische Welt nicht objektiv geartet sei, müsse es Stätten geben, die die Tugenden, die sich in der Politik so oft nicht bewähren, trotzdem pflegen: z.B. Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit. Durch das Primat der Politik rücke heute alles in die Sphäre des „Mittels zum Zweck” zum Wohle des Volkes. Zum Wohle des Volkes gehöre aber auch ein wohlgestaltetes geistiges Leben. Man könne an das geistige Wohl eines Volkes glauben und nur das anerkennen, was volksnah, volksentsprungen sei, man komme aber dabei in Konflikt mit der Frage, was volksnah sei.
In jedem Volke gibt es Gute und Böse. Wer aber sollte den Maßstab des Volksnahen anwenden? Die schöpferische Persönlichkeit etwa?

Schöpferische Persönlichkeit ist aber nach Litt nicht der Ausdruck der Kulturseele eines Volkes im Sinne Oswald Spenglers, sondern erst die großen Persönlichkeiten selbst sollen die Seele des Volkes geprägt haben. Es gebe keinen Normalbegriff des Deutschen, denn wer sei imstande, die Fülle alles Deutschen in ein Normalbild hineinzuzwängen. Selbstverständlich gebe es Leistungen, die auf die Dauer volkszerstörend seien. Es gebe aber keinen Maßstab über Zerstörend oder Aufbauend. Der Begriff’ einer autonomen Kultur gehöre mit hinein in den Begriff des Volkstums. Kein politischer Führer könne dem einzelnen den Kampf um die Kultur abnehmen. Wenn es eine Bevormundung gibt, die aufbauend sein soll, so könne es auch kommen, dass einmal Kräfte führend sind, die sich gegen das Volkstum richten. Man sollte den Wissenschaftler und Künstler in ihrer Selbstnormung nicht beschränken. Überzeugung des Vortragenden ist es, dass die Bildung den Dienst an Volk und Staat dann am besten leisten wird, wenn sie nicht dem Primat des Politischen unterstellt ist.
Neben der Sphäre der Tat müsse es eine Sphäre der Besinnung geben. Christliche Religiosität werde heute bejaht, der Konflikt in Sachen, Glaube und Rasse sei aber nicht konsequent gelöst. Christliche Gläubigkeit laufe vielleicht Gefahr, Mittel zum Zweck der Gesundung des Volkes zu werden. Der Mensch solle nichts an Kulturmöglichkeiten, die ihm gegeben sind, ungenutzt lassen.
Die Gedanken des Volkstums, der Selbstgestaltung, der Bildung und die Religion gehören zusammen. Der Zusammenhang zur geistigen Kultur dürfe nicht abgerissen werden. Trotz des begründeten Rufes nach Primitivität dürfe die Bereitschaft, das geistige Erbe hochzuhalten, nicht erlöschen.
Trotz des starken Eindruckes, den die fesselnde Art des Vortrages über das brennende Thema hinterließ, konnte man dem Vortragenden doch nicht immer beistimmen. Namentlich der zweite Teil des Vortrages wies Blickrichtungen auf die der jüngeren Generation heute als fremd erscheinen müssen.
Die Gedanken zentralisierender Neugestaltung des kulturellen Seins, die aus dem Glauben an die Notwendigkeit einer neuen Sinngebung wachsen, sind zu durchdringend, als dass man heute Verständnis hätte für einen Kampf gegen die Beschränkung von Teilen eines Sinnganzen im Dienste dieses Sinnganzen. “
In den Dokumenten des Deutsch-Baltischen Lehrerverbands in Lettland ist noch eine Abschrift eines Briefes an Theodor Litt vom 13. November 1934 zu finden. Der Autor des Briefes ist vermutlich der Vorsitzende des Verbandes, Studienrat Eduard Mittelstaedt. Er schrieb folgendes:
“Sehr geehrter Herr Professor!
Ich danke Ihnen herzlich für die Uebersendung Ihres Artikels aus der Kölnischen Zeitung, den ich mit viel Interesse gelesen habe. Ich möchte Ihnen meine Freude aussprechen, dass in der schweren Zeit, die das Deutschtum durchlebt, unsere alten Freunde im Reich uns nicht vergessen. Ich hoffe, dass die Umstände es erlauben werden, Sie einmal wieder bei uns im Lande begrüßen zu können “.10
Die nächsten Jahre und Jahrzehnte brachten in ganz Europa und in der Welt große Veränderungen mit sich. Eine weitere Reise von Theodor Litt ins Baltikum konnte nicht mehr stattfinden, da er von den politischen Machthabern der damaligen Zeit in Deutschland mit Rede- und Reiseverbot belegt wurde.

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Wissenschaft und Akademische Bildung.
Ist Theodor Litt für die gegenwärtige
Hochschulpolitik aktuell?
Theodor-Litt-Jahrbuch 2010/7
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2010