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Forschung

Reflexion und Bildung Studie zur Bildungskonzeption Theodor Lifts44 min read

Theodor Litt — Eduard Spranger.
Philosophie und Pädagogik
in der geisteswissenschaftlichen Tradition
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2009

ERICH E. GEISSLER
Reflexion und Bildung
Studie zur Bildungskonzeption Theodor Lifts

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass zu Lite Individuum und Gemeinschaft drei Auflagen vorliegen. Das scheint zunächst nichts besonders Bemerkenswertes zu sein, denn andere Bücher von ihm sind in wesentlich mehr Auflagen erschienen. Dieser Sachverhalt erscheint indes in einem ganz anderen Licht, wenn man bemerkt, dass der Text der ersten Auflage und der der dritten (die zweite Auflage kann als eine Art Vorentwurf zur Auflage III angesehen werden) völlig differieren. Das heißt mit anderen Worten: Litt hat unter dem gleichen Titel zwei ganz verschiedene Texte publiziert. Zwar hat Litt später darauf gedrängt, nur die Auflage III zu beachten. Aber das löst die Frage nach dem Grund eines gleichen Titels für zwei unterschiedliche Texte natürlich nicht, denn die Auflage I ist ein in sich geschlossener und wissenschaftlich solide abgesicherter Text mit einem sehr interessanten Themenkreis.

Der kritische Leser gewinnt bei der Lektüre der ersten Auflage allerdings alsbald den Eindruck, dass Titel und Text nur teilweise übereinstimmen, denn Litt behandelt weitaus weniger das im Titel angegebene Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, viel mehr das weitaus konfliktreichere des Einzelnen zur organisierten Gesellschaft. Tatsächlich äußert Litt sich in Auflage I zu den damals von mehreren Seiten aus diskutierten sozialpolitischen Themen. Zu erinnern ist insbesondere an die folgenden Namen, die Litt selber in seinem Quellennachweis anführt:

Ferdinand Tönnies, der mit seinem 1887 erschienenen Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft” das erste soziologische Grundlagenwerk in deutscher Sprache veröffentlichte.

Dann Max Weber. Er beschrieb die Soziologie als „Wissenschaft, welche soziales Handeln in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will”. Weber hat als ein Begründer der Herrschaftssoziologie Ursachen für die spezifischen Eigenarten des europäisch-amerikanischen Kapitalismus gesucht. Zu seinen bekanntesten und wichtigsten Werken zählen „Die protestantische Ethik und der ‘Geist’ des Kapitalismus” und das Monumentalwerk „Wirtschaft und Gesellschaft”, das allerdings erst nach seinem Tode erschienen ist.
Schließlich muß an Georg Simmel erinnert werden. Litt hat ihn während seiner Studien in Berlin gehört. Simmel lieferte wichtige Beiträge zur
Kulturphilosophie und zur Konfliktsoziologie. In einen seiner Haupwerke der Philosophie des Geldes, entwickelte Simmel bereits 1900 sehr ahschaulich die These, dass Geld immer mehr Einfluss auf die Gesellschaft, die Politik und das Individuum gewinnt. Die Ausbreitung der Geldwirtschft habe den Menschen zwar auch Vorteile gebracht, so die Überwindung des Feudalismus und die Entwicklung moderner Demokratien. Aber in der Moderne sei das Geld immer mehr zum Selbstzweck geworden. Sogar das Selbewertgefühl des Menschen und seine Einstellungen zum Leben würden nunmehr eure das Geld dominiert. So habe mittlerweile alles sinniich Wahrnehmbare etwas mit Geld zu tun. Simmel mahnte deshalb, man müsse die Menschen dazu drängen.. Lebensformen zu entwickeln, die sich um mehr als nur um das Thema Geld bewegten.

Man muss folglich im Blick behalten, dass zu der Zeit, als Litt den Text der ersten Auflage zu Individuum und Gemeinschaft schrieb, gesellschaftspolitisches Konfliktpotential im Blickfeld mehrerer soziologischer Untersuchungen stand, wobei zum ersten Mal deutlich hervorgehoben wurde, dass die von Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Systeme als ungewollte Nebeneffekte destruktive Tendenzen entwickelten mit ansteigenden negativen Rückwirkungen auf die in diesen Systemen lebenden Menschen.

Litt hat dies aufgegriffen, aber in einer für ihn schon damals typischen Weise modifiziert: Er benennt das, was die genannten Soziologen als Widersprüche im System darstellten, mit dem Terminus “soziale Antinomie´´ und bezeichnet damit insbesondere die Widersprüch zwischen individuellen Erwartungen an die Gesellschaft und den tatsächlich auftretenden erfahrungen. Litt interpretiert aber diese Widersprüche unter der Vorgabe Hegelscher Geschichtsphilosophie als auf Versöhnung angelegt und das hört sich dann in seinem die Auflage I abschließenden Text folgendermaßen an:

“Dächten wir aus der Geschichte des Geistes alles das ausgelöscht, was ihm an Zerrissenheit und Bitternis, Qual und Not aus menschlichem Gemeinschaftsleben erwachsen ist, wie viel geebneter, heiterer und unbekümmerter wären seine Wege gewesen – aber wie unendlich viel ärmer auch der Ertrag seiner suchenden und wagenden Fahrt! Wer möchte, um das Leid des Daseins gemindert zu sehen, alles das hingeben, was an harmonisch geklärter Gestaltung gerade aus den Disharmonien des Lebens sich emporgerungen hat, wer die Last allzu schwer nennen, die die Menschheit tragen musste, damit hellsichtiges Schauen, weltweites Fühlen, gestaltendes Wollen ihrer großen ihr eine leuchtende Welt des Geistes über dem dunklen Tal der Schmerzen auferbaute? Mögen auch Zeiten kommen, in denen wir alle Sterne erloschen glauben, zu denen die Mühsalbeladenen emporblickten, in denen kämpfende Selbtsvernichtung als endliche Schicksalsbestimmung über uns verhängt scheint, auch sie lösen den geheimnisvollen Bund nicht auf, der das trübe Wirrsal menschlichen Irrens, Fehlens, und Versinkens mit dem lichten Reich verbindet, in dessen Gestaltenklarheit der Geist zu sich selbst kommt.´´

Man muß diesen Text schon mehrmals lesen, um die Zumutungen ganz zu begreifen. die sich darin verbergen, denn Litt beschreibt keinen auch nur einigermaßen normalen Modus sozialer Integration, sondern Prozeduren härtester Vereinnahmung der Individuen und möchte den davon Betroffenen diese Erfahrungen geballten Leides als eine Art von höherer Sinnhaftigkeit begreiflich machen. Dabei erscheint in Litts Dialektik der Hegelsche “Weltgeist” als Sinnträger, auf den er sich bereits in diesem Text der Auflage I bezieht. Aber Litt kann natürlich genau so wenig wie Hegel verständlich machen. wozu es der Menge aufgehäuften Leides bedarf. denn das harte Schicksal, das Litt sehr deutlich beschreibt — der Text ist ja schließlich um das Ende des Ersten Weltkriegs entstanden! — . bedeutete ja schließlich fier sehr viele Menschen ganz und gar keine Integration in der Form sozialer Hilfe, sondern vielmehr Scheitern und das heißt irreversiblen und unkorrizierbaren Untergang!

Man kann nur raten, was Litt bewogen haben mag, den Text der ersten Auflage zu verwerfen. Das, was Litt im Vorwort der zweiten und dann auch der dritten Auflage dazu schreibt, reicht als Erklärung nicht aus. Nicht von der Hand zu weisen ist die Annahme, dass die in diesem Text zu Tage tretende Geschichtsphilosophie Widerspruch fand.

1926 erschien die dritte Auflage von Individuum und Gemeinschaft. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt bereits deutlich. dass Litt nunmehr tatsächlich das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in den Blick rückt. Er entwickelt das am so genannten dialogischen Prinzip. dem Verhältnis von Ich und Du. Litt schließt sich darnit eng an Darstellungen des Frankfurter Religionsphilosophen Martin Buber an. der bereits seit 1917 zum Thema _Ich und Du” publiziert hatte und von dem auch ein Buch unter dem Titel “Das dialogische Prinzip´´ stammt.

Litts Argumentation ist eine idealtypische Konstruktion, durch die am Verhältnis von Ich und Du das Übergelagerte von Individuum und Gemeinschaft erklärt werden soll. In aller Kürze: Ein Einzelwesen vor aller Kontaktnahme. das deshalb auch zu sich selber noch kein Verhältnis besitzt, folglich auch noch nicht Ich sagen kann. trifft auf ein zweites Einzelwesen und erkennt den anderen als seinesgleichen. Von nun an unterscheidet es zwischen sich als dem Ich und dem anderen als dem Du. Dieser ersten Erfahrung folgt alsbald in Form einer reziproken Reflexion eine zweite: So wie von meinem Standpunkt aus betrachtet, ich ein Ich und der andere ein Du ist. so erkennt sich, vom Standpunkt des Du aus betrachtet. dieses Du als ein Ich und mich als ein Du. In dieser Reziprozität wechselseitiger Erkenntnislagen entwickelt sich Verständnis und Begriff des Wir. Damit hat Litt den Zugang zum Thema Individuum und Gemeinschaft gewonnen und verfolgt dieses dialogische Prinzip, wie es Buber genannt hat, in der dritten Auflage in aller Ausführlichkeit.

Was Litt hier vorlegt, kann — nach dem eben geführten Nachweis — mit Fug und Recht als eine Abhandlung zum Thema Philosophische Anthropologie angesehen werden und es könnte scheinen, als wäre er damit in den großen Kreis der Philosophen eingetreten, die sich damals mit diesem populären Thema beschäftigten. Ich nenne jetzt nur einige Namen — Othmar Spann: Gesellschaftsphilosophie, Erich Rothacker: Die Schichten der Persönlichkeit, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen und schließlich Hans Driesch, der Litts Kollege in Leipzig war und einen Lehrstuhl für Naturphilosophie innehatte.

Stutzig macht allerdings, dass sich Litt mehrmals durchaus heftig gegen die Titulatur „Philosophische Anthropologie” gewendet hat. Hinzu kommt, dass er in dieser dritten Auflage von Individuum und Gemeinschaft fast alle der eben genannten Autoren kritisierte. Besonders deutlich geschah dies in einer längeren Kritik seines Leipziger Kollegen Driesch (Individuum und Gesellschaft III, S. 288ff).

Ich kürze jetzt die weitere Spurensuche zur besonderen Position von Litts dritter Auflage ab und komme gleich auf Ergebnisse zu sprechen. „Philosophische Anthropologie” galt zu jener Zeit als eine vornehmlich naturwissenschaftlich geprägte Disziplin. Diese naturwissenschaftliche Prägung hing wiederum mit dem zusammen, was der an der Universität in Jena lehrende Doktorvater von Driesch, Ernst Haeckel, in Form der auf Darwins Untersuchungen fußenden Deszendenz-Theorie vortrug.

Diese auf das Evolutionskonzept gegründete naturwissenschaftliche Anthropologie mischte sich mit einer philosophischen Ontologie, die von dem Mar-burger Philosophen Nicolai Hartmann ausging. Dieser hatte u.a. in einer Abhandlung zur Ontologie unter dem Titel „Der Aufbau der realen Welt” das folgende Schema als Denkmodell benutzt:

  1. Unorganisches — Materie
  2. Organisches — Leben (Pflanze)
  3. Psyche (das Tier)
  4. Geist (Mensch)

Es handelt sich dabei um eine Gliederung der verschiedenen, in einer Ontologie zu beachtenden Ausprägungen, die Hartmann „Seinsschichten” nannte; wodurch der Begriff „Schicht”-populär wurde und fortan wiederholt in Buchtiteln verschiedener Autoren erschien. Hartmanns Schema war allerdings alles andere als neu. Es tauchte in der Geschichte der Philosophie bereits um das Jahr 600 bei einem Byzantiner Theologen auf und wurde danach unzählige Male wiederholt.

Aber nun geschah ein Umbau dieses Modells: Hartmanns „Aufbau der realen Welt” wurde mit deszendenz-theoretischen Annahmen gekreuzt. Dies geschah vor allem durch Arnold Gehlen, Doktorand bei Hans Driesch und später Kollege von Theodor Litt in Leipzig, in dessen besonders bekannt gewordenem Buch Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Was dort zu lesen stand, war aber längst vor dessen Erscheinen populär geworden. Man kann diese Veränderung benennen: Die Seinsschichten im Konzept der Deszendenztheorie als einer „Geschichte des Lebens”:

  1. Der Mensch — Geist
  2. Das Tier — Instinkt
  3. Die Pflanze — Leben
    l. Die Materie — Anorganisches

Diese Änderung geht, wie schon gesagt, auf Ernst Haeckel zurück, der von der eben erwähnten Geschichte des Lebens gesprochen hatte und sich dabei desselben Aufbaus wie Hartmann bediente: Anorganisches, Organisches, Tierisches, Geistiges. In Haeckels Geschichte des Lebens erscheinen diese vier Seinsschichten aber nunmehr in einer zeitlich aufeinander aufbauenden Reihenfolge: als früheste Stufe das Anorganische/die Materie, als darauf entwicklungsmäßig folgende: das Organische/die Pflanze, dem folgt der tierische Zustand, bei dem zum ersten Mal das zentrale Steuerungsorgan des Gehirns auftritt, und schließlich die mit Geist verbundene Lebensform des Menschen als deszendenztheoretisch letzte Stufe.

Wir müssen jetzt darauf zu sprechen kommen, wie Litt zu dieser an der De-szendenztheorie orientierten Anthropologie stand. Es ist nicht übertrieben, von Litts Philosophie aus betrachtet, von einer Tragödie zu sprechen. Denn Litt, Hegelianer, ist bekennender Anhänger der so genannten idealistischen Philosophie. Darunter versteht man die Lehre der drei Hauptvertreter Fichte, Schelling und Hegel. Litt war ein strenger Anhänger des Idealismus im Sinne Hegels: Der Geist gilt als das Primäre, das schlechthinnige Seinsprinzip. „Das Geistige allein ist das Wirkliche” ist ein bestimmender Satz in Hegels Denken und gleiches gilt für Litt.

Nun aber trifft dieser für Litt unverrückbar festgefügte Grundsatz auf die de-szendenz-theoretische Auffassung, wonach der Geist nurmehr als allerletzte Entwicklungsstufe der Evolution, als etwas Nachgeordnetes zu betrachten sei!

Dabei war es mit dieser ersten deszendenztheoretischen Zuordnung des Geistes, die für Litt eine Art von Degradierung bedeuten musste, noch keineswegs getan. Es kam hinzu, was der Driesch-Schüler Gehlen als seine besondere Lehre vortrug und was er mit der Bezeichnung „Der Mensch ein Mängelwesen” belegte; eine Titulation, die ja allerdings bereits von Herder verwendet worden war, aber durch Gehlen eine entscheidende Modifikation erhielt. Denn nach Gehlen bedeutet Mangel in diesem besonderen Fall nicht ein Noch-nicht, sondern vielmehr ein Nicht-mehr. Anders formuliert: Nach Geh-len sei für die Evolution zum Menschen ein Instinktverlust und dessen Folgen bestimmende Ursache gewesen.
Arnold Gehlen hat diese Theorie außer in seinem Buche noch in vielen öffentlichen Vorträgen sehr beredt geschildert: Das Ganze habe sich wahrscheinlich in der Nähe des ostafrikanischen Grabenbruchs zugetragen (in dessen Umkreis ja auch tatsächlich die meisten dafür benutzbaren aussagekräftigen paläontologischen Belege gefunden wurden). Eine Population der Primaten, die auf Bäumen lebten, sich dort gut versorgen konnten und außerdem durch die Höhenlage einen relativ großen Schutz vor Raubtieren genossen, sei die instinktive Einordnung in diese Umwelt verloren gegangen. Sie konnten fortan die schützenden Bäume nicht mehr genügend rasch besteigen. Das ließ sich tatsächlich anhand einer veränderten Form des Fußes nachweisen. Also nicht: der Mensch stieg von den Bäumen, sondern so Gehlen: diese Primaten konntn nicht mehr zügig und wendig genug auf Bäume klettern!

Dieser Verlust bedeutete eine Katastrophe. Denn mit der verhältnismäßig leichten und auch sicheren Nahrungssuche war es jetzt vorbei. Für die nunmehr notwendig gewordene Jagd fehlten alle Voraussetzungen (Gazellen!). Dazu kam noch die ständig drohende Gefährdung durch jagende Raubtiere. Eine Situation äußerster Bedrohung, die diesen Hominiden nur eine Überlebensmöglichkeit offen ließ: die Entwicklung und den Gebrauch von Werkzeug. Das bedeutete evolutionstheoretisch, dass sich dieses Wesen über den langsam aufdämmernden Geist selber eine Umwelt schaffen musste und der Geist sich dabei als eine Ersatzfunktion verlorenen gegangener Fähigkeiten darstellte.

Projizieren wir diese Evolutionskonzeption in die für Litt dominante Philosophie: Der Geist nicht nur ein Spätprodukt der Evolution, sondern außerdem auch noch Ersatz für verloren gegangenen Instinkt! Dagegen wendet sich Litt mit aller Entschiedenheit, gestützt auf Hegels idealistische Philosophie als argumentative Basis für die Korrektur einer Weltanschauung, in der, wie Litt meinte, die Bedeutung des Geistes deszendenz-theoretisch verloren gegangen war.

Man kann diese Littsche Kritik in vielen Einzelbelegen im Anhang zu seinem Buch “Mensch und Welt” nachlesen. Dort zeigt sich, dass er mit so gut wie allen anthropologisch interessierten Philosophen seiner Zeit in durchweg scharfem Disput stand. Dort findet sich auch eine 20seitige Kritik Arnold Gehlens; die längste Literaturbesprechung, die Litt je geschrieben hat! Einen besonders deutlichen Nachweis seines besonderen Engagements bringt Litt aber in seinem Spätwerk zu Hegel. Dort heißt es auf der letzten Textseite (307):

„Die vorliegende Arbeit würde ihren Zweck verfehlt haben, wenn es ihr nicht gelungen wäre, zu zeigen, wie oft der inbrünstige Glaube an die Allmacht des Geistes, der ja die folgenreichste Vorentscheidung des Hegel ‘schen Genius bildet, zu solchen Einsichten in das Wesen des geistigen Tuns hingedrängt hat, die ohne ihn vielleicht nie zu solcher Helligkeit durchgedrungen wären Einsichten, zu denen ein von diesem Glauben unendlich weit abgetriebenes und an der eigenen Berufung verzweifelndes Geschlecht kaum ohne solche Führung den Zugang finden kann.”

Für das Unternehmen einer Resubstantivierung des Geistes hat Litt ein Riesenprogramm entwickelt. Es ist das Thema, das ihn bis über 1940 hinaus, also fast in seiner gesamten Leipziger Zeit, am meisten beschäftigen wird. Den Anfang dazu finden wir in der dritten Auflage von Individuum und Gemeinschaft. Hier entwickelt er eine philosophische Anthropologie, die strikt und konsequent nicht auf deszendenz-theoretischer Grundlage aufbaut.

Dies ist eine Konzeption, die wir — trotz aller Vorbehalte im Einzelnen — keineswegs als veraltet ansehen sollten, die vielmehr gerade heute dringend wieder zu erinnern wäre, denn wir finden gegenwärtig eine Konstellation vor, in der eine geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der durch Evo-lutionismus geprägten Naturwissenschaft einen ausgesprochen schweren Stand hat (vgl. u.a. Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Gehirnforschung; bei Suhrkamp).

Zurück zu Litt: Was er in der dritten Auflage zu Individuum und Gemeinschaft vortrug, war freilich noch keine argumentativ abgesicherte Resubstan-tivierung des Geistes. Die Grundlage dafür entwickelte er in seiner Einleitung in die Philosophie von 1933. Dort stellt er ein Argumentationsschema für die dazu zu führende Diskussion auf und stützt sich dabei vor allem auf den Begriff Reflexion.
Litt bestimmt als erste Stufe eines objektgerichteten Denkens das Erkennen: Was ist das? Wie lässt es sich einordnen? Wie kann ich damit umgehen?

Auf einer zweiten Stufe folgt dann eine auf das objektorientierte Denken gerichtete „Reflexion ersten Grades”, wie Litt sie nennt. Diese bezieht sich auf Fragen der Richtigkeit, der Genauigkeit, der logischen Zulässigkeit. Das objektgerichtete Denken wird geprüft und die gewonnenen Erkenntnisse in ein System eingeordnet. Es handelt sich um das, was vergleichsweise jede Naturwissenschaft mit der der Erforschung folgenden Systematisierung betreibt. Danach betont Litt die besondere Bedeutung einer folgenden dritten Stufe, die er Reflexion der Reflexion oder Reflexion zweiten Grades nennt. Zu dieser dritten Stufe: Litt hat seiner Schrift Einleitung in die Philosophie zwar ein reiches Literaturregister angehängt, er hat es aber unterlassen — was geboten gewesen wäre — Herkunft und Entstehung dieser Bezeichnung Reflexion der Reflexion näher zu verfolgen, denn dieser Begriff stammt nicht von ihm. Deshalb dazu der folgende Rückblick, freilich in der wiederum gebotenen Kürze:

Es beginnt, wie so vieles, bei Kant und seinem berühmten „Ding an sich”: Ich betrachte die Außenwelt und sehe Gegenstände. Wenn ich auch — erste Reflexion — nicht zu bezweifeln brauche, dass diesen Gegenständen Objektivität zukommt, das heißt, dass sie real sind, so muss ich doch — zweite Reflexion — erkennen, dass ich sie immer nur unter den Bedingungen meiner Sinneswahrnehmung erfahre. Was diese Dinge jenseits dieser meiner Wahrnehmung — also „an sich” — sind, kann ich — Ergebnis dieser „Reflexion der Reflexion” — nicht wissen.

Fichte hat diese’r Schlussfolgerung Kants scharfe Kritik entgegengesetzt: Der Fehler Kants liege darin, dass er sich auf das Sehen stütze und nicht auf das Denken, für das es eine Einengung durch die Sinneswahrnehmungen nicht geben könne. Sehen könne ich das Ding an sich nicht; ich kann es aber —Fichtes Reflexion der Reflexion — denken.

Schelling hat dem eine andere Variante entgegengestellt, die Goethes lebhafte Zustimmung gefunden hat. Bei einer Reflexion zweiten Grades zeige sich: Geist stecke nicht nur in meinem Denken, sondern er sei zugleich das Gestaltungsprinzip der objektiven Welt, das heißt der Natur. Schelling hat deshalb —es ist die Zeit der Romantik — von einer „beseelten Natur” gesprochen, das Wort, das Goethe so begeisterte, dass er den damals 23jährigen Schelling mit einer Professur in Jena ausstattete.

Hegel betonte, dass er Fichtes und Schellings Systeme miteinander verbinden wolle und sprach in diesem Zusammenhang von Identität. Er hat aber diese Identität — als sein Konzept einer Reflexion der Reflexion — auf den langen Weg einer dialektisch die Gegensätze aufhebenden Geschichte, das heißt in die Dialektik von These — Antithese — Synthese verwiesen und die Entgegensetzung von These und Antithese als die von subjektivem versus objektivem Geist bestimmt.

Litt hat sich Hegel angeschlossen, allerdings mit einer Modifikation: Er spricht fast durchgängig undifferenziert von „Geist”; vielleicht auch deshalb, weil es bei der von ihm betriebenen Rekonstruktion der Substantialität des Geistes ja zunächst und vor allem um den Geist als solchen ging.

Den Nachweis einer Substantialität des Geistes liefert Litt in mehreren miteinander in Verbindung stehenden und zugleich aufeinander aufbauenden Publikationen:

Die Selbsterkenntnis des Menschen von 1938,
Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis (1941)
und dann die beiden umfangreichen Werke
Mensch und Welt mit dem wichtigen Untertitel Grundlinien einer Philosophie des Geistes und
Denken und Sein.

Litt hat erwähnt, dass die Manuskripte zu diesen beiden letztgenannten Publikationen bereits um 1939/40 fertig gestellt waren, er zu einer Publikation aber erst nach dem Kriege Gelegenheit erhielt.

Die Inhalte dieser vier Publikationen können hier und jetzt auch nicht nur annähernd referiert werden. Ich muss mich vielmehr darauf beschränken, Lins Argumentationsweise zu verdeutlichen. Dazu dient ein Vergleich mit dem bekannten Descartes’schen Cogito ergo sum. Die Beweisstruktur des Descartes’schen Satzes ist unmittelbar einsichtig: Ich könnte nicht denken, wenn ich nicht existierte, denn ein Nichts kann schließlich nicht denken.

Litt argumentiert mittels einer Reflexion der Reflexion in ähnlicher Weise: Indem ich über meine Reflexionen ersten Grades in einer zweiten Reflexion reflektiere, stoße ich auf zusammenhängende Gedankengänge, die nicht existieren könnten, wenn es das Substrat nicht gäbe, aus dem Denken besteht, nämlich den Geist. Noch präziser gefaßt: In einer ersten auf das Denken gerichteten Reflexion stoße ich auf die Apriorität des Denkens, in der Reflexion über dieses Apriori und seine Bedingungen stoße ich auf ein Apriori des Apriori, nämlich den Geist als Substanz.

Der Gedankengang ist rein logisch betrachtet zweifellos richtig. Aber es handelt sich dabei um eine Schlussfolgerung in der Weise eines Postulats, denn die durch mein Denken geforderte Sinnhaftigkeit behält nur dann ihren Wert, solange ich sie mit meiner Überzeugung stütze. Fehlt aber diese Überzeugung, was bei Resignation oder Pessimismus der Fall ist, fällt auch der Beweisgrund weg.

Daraus erklärt sich der Umstand, dass sich Litt in so gut wie allen seinen Schriften immer wieder hart argumentierend gegen den Pessimismus gewendet hat und ihn zu widerlegen suchte. Das Unzureichende seiner Argumentation war nur, dass den Beweisführungen gegen den Pessimismus eben die Überzeugung zugrunde gelegt werden muss, deren Beweiskraft ja der Pessimismus gerade bezweifelt. Litt ist folglich — um das Thema abzukürzen —eine Verwechslung zwischen einer subjektiven Überzeugung und einer objektiven Gültigkeit unterlaufen. Das eine, die subjektive Überzeugung, lässt sich nicht durch sich selber in das andere, die objektive Gültigkeit, überführen. Hans Driesch hat diese deutliche Kritik an Litt in einer unter dem Titel „Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis” stehenden Publikation (3. Aufl. 1944) vorgetragen.

Litt stand damit, wie dem in Philosophiegeschichte Kundigen rasch deutlich wird, haargenau vor dem gleichen Problem, das bei dem so genannten ontologischen Gottesbeweis aufgetreten war, der auf den Scholastiker Anselm von Canterbury zurückgeht, wonach die Rede vom vollkommenen Wesen Gottes notwendig dessen Existenz einschließen müsse, weil sonst der Begriff der Vollkommenheit unzutreffend wäre; denn was nicht existiere, könne nicht vollkommen genannt werden. Diese Argumentation ist bis heute umstritten. Sie mag als Fundament einer persönlichen Überzeugung dienlich sein, setzt aber stets den Glauben bereits voraus, der durch sie erst begründet werden soll.

Es wäre aber — und dies ist energisch zu betonen! — gänzlich unangemessen, der eben angeführten logischen Probleme wegen, Litts Geist-Philosophie in ihrer Bedeutung zurückzusetzen. Wo immer Geist in der Philosophie als ein spezielles Thema auftrat, blieben Einwände, Reserve, Distanzierung nicht aus, weil es ja dem „Geist” selber obliegt, nicht nur seine Bedeutung, sondern zugleich seine Existenz unter Beweis zu stellen. Denn welche andere Instanz sollte das denn sonst tun? Deshalb muß jede Art von Selbstrechtfertigung unter die logischen Probleme geraten — wir sollten sie nicht Widersprüchlichkeiten nennen, sondern von objektiv bedingten Konflikten reden — wie wir sie bei Litt gefunden haben und die sich, zwar anders benannt, aber substantiell identisch, bei Husserl, Heidegger, Max Scheler, schließlich bei Helmut Plessner und Hans Lipps in gleicher Weise nachweisen lassen.

Wahrscheinlich ist Hans Lipps mit einer Formulierung dem hier vorliegenden Grundproblem am nächsten gekommen: „Die Weise, in der der Philosophierende existiert, sich vor sich selbst bringt in der Bewegtheit seiner Einstellung … bestimmt die Philosophie.” Die gleichfalls auf Lipps zurückgehende Bestimmung „Philosophie als verantwortliche Übernahme meiner selbst” zeigt den gleichen unabweisbaren reflektorischen Bezug, den wir auch bei Litt finden. So wie man den Glauben nur existentiell unter Beweis stellen kann, so kann auch Philosophie nicht in der bloßen Modalität des abstrakten Denkens verharren, sondern braucht das im Verhalten sichtbare Engagement. Und diesen Nachweis ist Litt weiß Gott nicht schuldig geblieben!

Diese unabweisbare Bestimmung, dass sich ein Nachweis des „Geistes” im Verhalten niederschlagen müsse, führt uns nunmehr auf das Grundthema dieser Überlegungen zurück, wonach eine auf den Menschen bezogene Reflexion mit Notwendigkeit zum Thema Bildung weitergeführt werden muß, weil der Mensch als Geistträger ein besonderes Wesen — ein ens sui generis — ist. Das Problem der Bildung tritt dabei deshalb ins Zentrum, weil der Mensch als “Freigelassener der Natur” (wie Herder ihn genannt hat) das für ihn nötige Steuerungssystem selber zu entwickeln und das heißt zudem noch sich beizubringen hat. Dies wird bereits in den Litt’schen Titulationen erkennbar, wenn er von der Selbsterkenntnis des Menschen spricht und dieser Selbsterkenntnis eine Selbstermächtigung des Menschen folgen läßt. Wir können —in leichter Abwandlung der vorhin zitierten Aussage Hans Lipps — folglich mit Blick auf Litt definieren: Bildung ist der Weg zur verantwortlichen Übernahme meiner selbst.

Was das im Detail beinhaltet, wird durch die folgende Ableitung verdeutlicht:

1) Eine erste als Selbsterkenntnis erkennbare Reflexion zeigt sich bereits im Zusammenhang mit dem dialogischen Prinzip, wie es von Litt in Individuum und Gemeinschaft III entwickelt worden ist:
Ich sehe das Du.
Ich erkenne es als ein mir gleiches Wesen.
Ich erkenne, dass Ich und Du die Urform des Wir bilden.

An diese Erkenntnis schließt sich die folgende Reflexion an: Ich erwarte vom Du ein bestimmtes Verhalten: Freundlichkeit, Redlichkeit, Zuverlässigkeit. Diese Überlegung weist aber auf mich selber zurück mit der zwingenden Erkenntnis: Was ich vom Du erwarte, muss ich ihm gleichermaßen bieten. Diese Reflexion läuft auf das Grundgesetz jeder Moral hinaus. Es handelt sich um das Prinzip des Do ut Des: Ich gebe, was du erwartest, damit du gibst, was ich erwarte.

2) Eine weitere folgende Reflexion knüpft sodann an die Erfahrung an, dass viele Menschen unter den Bedingungen des Noch-nicht oder des Nicht-mehr leben müssen: das kleine Kind, das noch nicht für sich selbst sorgen kann, der alte Mensch, der auf die Hilfe anderer angewiesen ist, der Kranke, Verwundete schließlich, der Beistand und Unterstützung braucht. In allen diesen Fällen gilt nicht das Prinzip des do ut des, sondern das der Nicht-Aufrechenbarkeit, des von Mitleid getragenen Engagements, der Nächstenliebe, das Prinzip der sozialen Verantwortung, wie Litt ‘dieses Verhältnis nennt.

3) Schließlich stellt sich als dritte Reflexion die Überlegung ein, dass diese für die Stabilität der Gemeinschaft notwendigen Regelungen auf einer unzureichenden Grundlage ruhen, solange sie nur erhofft und nicht durch die Legitimation gültigen Rechtes gestützte Regulative sind, denen Allgemeinverbindlichkeit zukommt. Hier vollzieht sich der Übergang zur Gesellschaft, die durch ihr garantiertes und geschütztes Rechtssystem dafür die Grundlage bildet, dass einerseits das do ut des nicht missbraucht und andererseits das Prinzip der Uneigennützigkeit nicht einfach umgangen wird.

Aber: Recht braucht Macht zu seiner Garantie und Durchsetzung. Macht indes erweist sich als ambivalent, denn wer und was binden den Mächtigen an das Recht? Die Weltgeschichte ist voll von Beispielen, dass Mächtige allzu leicht der Versuchung erliegen, das Recht in ihrem Sinne egoistisch auszulegen. Grundfrage aller gesellschaftlichen Existenzsicherung ist folglich die Überlegung: Wie zähmen wir die Macht der Mächtigen? Ein Problem, dem Litt in seinen Beiträgen zum Thema Politische Bildung engagiert nachging. Was jetzt nachhaltig zu betonen ist: Unter diesen Aspekten betrachtet zeigt sich Bildung als unentbehrliche Grundlage menschlicher Lebensführung! Zugleich muss ausdrücklich und nachhaltig betont werden: Es gibt keine höhere und bedeutsamere Verortung des Wesens und der Aufgabe von Bildung — in die Erziehung als der mehr dem Verhalten zugeordnete Teil der Bildung eingeschlossen ist — als die eben dargestellte, wie sie von Litt entwickelt und begründet worden ist. Diese Bildung setzt den Menschen instand — um noch einmal auf die beiden zentralen Begrifflichkeiten Litts hinzuweisen — über die Selbsterkenntnis zur Selbstermächtigung weiterzuschreiten.

Und was sich außerdem noch zeigt: Das Thema Bildung, so gefasst wie es hier geschehen ist, erweist sich zugleich rückwirkend als wichtiger Beleg für die vorhin angesprochene Fundierung des Themas Geist in unserem Verständnis von Mensch und Welt. Litt war zwar nicht der einzige, der sich in diesem Problemhorizont argumentiert hat, aber er war eine sehr zentrale Figur und hat diese Überlegungen vor allem innerhalb einer Epoche unablässig betont und verteidigt in der seit Beginn der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts die damals politisch dominante Weltanschauung das Menschenbild in eine ganz andere Richtung drängte.

Dies war ein erster Problemansatz zum Thema Reflexion und Bildung. Zwei weitere Überlegungen müssen noch hinzugefügt werden. Dabei ändert sich natürlich die zugehörige Literatur Litts. Ich beziehe mich im folgenden Teil vornehmlich auf seine späte Schrift Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt.

Man muss bei der Interpretation dieser Schrift geradezu von einer Wende in Litts Denken sprechen. Diese begann allerdings sehr langsam, man muß schon sagen schleichend. Litt hatte 1946 vor Berufsschullehrern in der damaligen sowjetischen Besatzungszone einen Vortrag zum Thema Berufsbildung gehalten. Die erste Druckfassung trägt noch die Ortsangabe Leipzig, die zweite 1947, in einem westdeutschen Verlag erschienene, hat den Titel Berufsbildung und Allgemeinbildung. Nach einer längeren Pause, erst 1955, erschien dann das Thema unter dem vorhin genannten Titel Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt.

Ich halte mich, um das Interpretationsverfahren abzukürzen, an diese letztgenannte Schrift (Kamp, o.J.), überspringe außerdem den ersten historisierenden Teil Das Bildungsideal der deutschen Klassik und komme gleich zur Interpretation des zweiten Teils Die moderne Arbeitswelt. In diesem zweiten Teil taucht ein neuer Begriff in Litts Begriffsregister auf, der für das Thema Berufsbildung besonders wichtig ist, indes innerhalb Lifts Denken eine zusätzliche Bedeutung erlangt: Es handelt sich um den Begriff „die Sache”. Sache bezeichnet etwas, das dem Subjekt Mensch als Objekt gegenübersteht. Jedes Objekt hat, wie Litt alsbald bemerkt, eigene „Sachgesetze”, die das erkennende Subjekt auffinden muss, die zu interpretieren und zu formulieren sind, die aber vor allem, um dies noch einmal besonders zu betonen, vom Subjekt als etwas ihm objektiv Vorgegebenes erkannt werden müssen, damit der handelnde Mensch, diesen Gesetzen folgend mit der Sache angemessen umzugehen lernt.

Das bedeutet aber — denken wir an die bislang mitgeteilte Argumentation Lifts zum Verständnis von „Geist” — für ihn eine völlig neue Position, auf die er deshalb auch immer wieder selbstkritisch reflektierend zurückkommt. So hatte er in Mensch und Welt noch die Länge und Breite argumentiert, dass der Mensch als alleiniger Geistträger anzusehen sei. Dazu eine Kapitelüberschrift aus diesem Text, an der sich das eben Behauptete nachweisen lässt: Das 10. Kapitel hat Litt überschrieben „Der Mensch als Träger des Geistes”.

An dieser Stelle ist es allerdings angezeigt, einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema „objektiver Geist” vorzutragen. Dass Fichte, Schelling und Hegel als wichtigste Vertreter der idealistischen Philosophie anzusehen sind, innerhalb der sich dieses Thema in besonderer Weise zeigte, wurde bereits erwähnt. Alle drei trafen sich übrigens an der Universität in Jena. Fichte hatte — wir erinnern uns — als erster in einer scharfen Kritik an Kants „Ding an sich” den Geist zum Einzigen und Allumfassenden erklärt. Schelling war ihm gefolgt, mit einer wichtigen Unterscheidung allerdings, indem er einen subjektiven Geist dem Menschen und einen objektiven Geist der Natur zuordnete. Hegel hatte erklärt, dass er eine Synthese aus Fichtes und Schellings System bilden wolle und gleichfalls zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist differenziert, aus denen beiden sich im Verlauf der Geschichte (These — Antithese — Synthese) der absolute Geist entwickle. Bei Hegel nahm „objektiver Geist” die Position der Antithese — als das Gegenüberstehende — ein.

Wilhelm Dilthey hatte in Anlehnung an Hegel als „objektiven Geist” das bezeichnet, was als Kultur sich im Laufe der Geschichte ausgebildet hat und den heute Lebenden in den Formen von Literatur, Berichten und Dokumenten, schließlich auch in den Formen von Kunst und Architektur vorliegt, der Bereich also, der durch die sogenannten Geisteswissenschaften repräsentiert wird. Diltheys Deutung hat allerdings einen logischen Haken, der lange unbemerkt blieb und erst bei Spranger Zweifel an der Stimmigkeit dieser Definition aufkommen ließ. Denn besieht man sich die Diltheysche Defmition des „objektiven Geistes” kritisch, erheben sich Einwände, weil es sich bei allen Kulturinhalten ja schließlich gleichfalls um „subjektiven Geist” handelt, der auf uns in den kulturellen Dokumenten (Medien) derer überkommt, die vor uns existierten: objektiviert zwar im Sinne von „in Medien gespeichert”, aber nicht „objektiv” im Sinne der Schellingschen Vorstellung und auch nicht der Hegelschen, wonach mit „objektiv” etwas dem „subjektiven Geist” Gegenüberstehendes gemeint wird. Zwar hatte auch Hegel als die zum Bereich „objektiver Geist” gehörenden Themen „Recht, Moralität und Sittlichkeit” benannt. An dieser Aussage hatte sich Dilthey orientiert. Zweifelhaft ist aber, ob Dilthey, der sich recht kritisch über die angeblichen logischen Mängel von Hegels dialektischer Philosophie geäußert hatte, richtig erkannte, wohin Hegels Überlegung zielte. Für Hegel galten „Recht, Moralität und Sittlichkeit” —wie eben erwähnt — als notwendige korrigierende Antithesen zu vom Menschen im Alltagshandeln gesetzten Thesen und erschienen insofern als entgegenstehender „objektiver Geist”. Das ist aber etwas anderes als das, was Diltheys Kulturverständnis daraus gemacht hat. Dessen Folge war dann die unglückliche Differenzierung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften — als ob Naturwissenschaften es nicht auch mit „Geist” zu tun haben und ihre Forschungsergebnisse nicht gleichermaßen und gleichberechtigt zum „objektiven Geist” zu zählen sind.

Zwar sprach Litt zumeist nur ununterschieden von ‚Geist’, wollte diesen aber gemäß der weiter oben schon zitierten Stelle aus Mensch und Welt auf den Menschen „als Träger des Geistes” eingeschränkt wissen. Dies bereitete ihm jedoch, wie sich jetzt zeigt, einige Konflikte. Denn nun taucht auf einmal die „Sache” und die dieser Sache ihhärierenden Sachgesetze als etwas Objektives auf, etwas, das der Mensch erkennen muss. Erkennen bedeutet aber nicht ,etwas in die Sache hinein tragen’, sondern vielmehr ,etwas aus der Sache heraus holen’.
Die auftretenden Konflikte durch dieses Thema die Sache erzwingen einen zweiten Exkurs: Es ist die Crux bei jedem umfangmäßig limitierten Aufsatz auch das, was als Voraussetzung des Verständnisses unentbehrlich ist, nur in beschränktem Umfang mitteilen zu können. Dies wird bei Litt in einer besonders eklatanten Weise deutlich, denn ihm fiel als Hegelianer die schwierige Aufgabe zu, das zum Verständnis zu bringen, was Hegel darzustellen selber nicht immer hinreichend gelungen ist: den Schritt von der formalen Logik zur dialektischen (vgl. Litt, Hegel, 260) so zu vollziehen, dass er in seiner Besonderung wie Bedeutung verstanden wird. Litts wiederholte Klagen über die sinnverstellenden Effekte des „gesunden Menschenverstandes” verweisen auf auftretende Schwierigkeiten bei den Überlegungen, denen wir uns jetzt unterziehen müssen, denn Litts Themen „Naturwissenschaft und Menschenbildung”, „Technisches Denken und menschliche Bildung” wie schließlich auch noch „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt” können nur richtig verstanden werden, wenn man sie nicht nur in Sinne der formalen Logik (dem Satz der Identität, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten) interpretiert, sondern der dialektischen Logik folgend zu verstehen sucht.

Was das formallogisch bedeutet, kann man am besten anhand der wohl bekanntesten Schrift Litts Führen oder Wachsenlassen zu erklären versuchen. Litt verwendet im Titel ein „oder” und suggeriert dadurch dem Leser absichtlich die scharfe Entgegensetzung eines „Entweder — oder”, die offensichtlich zu einer Wahl zwingt: „Wenn dieses, dann nicht jenes!” Im abschließenden Textteil dieses Buches streicht Litt jedoch dieses „oder” durch und ersetzt es durch ein „und” — „Führen und Wachsenlassen” – das heißt ein „Sowohl —als auch”; also keine Wahl, sondern vielmehr das Eine und das Andere!

Wer das Litt’sche Opus in größeren Teilen kennt, weiß, dass Litt generell zu diesem Duktus neigt, den er in „Führen oder Wachsenlassen” praktiziert hat: die Entwicklung von Entweder-oder-Positionen, wobei er zwar rhetorisch geschickt, aber durchaus nicht in gleicher Weise verständnisfördernd dazu neigt, die einzelne Position hier des Entweder, dort des Oder so darzustellen, als käme je nur ihr die überragende, ja die einzig zulässige Bedeutung zu. Der mit Litts Texten noch unerfahrene Leser gewinnt den Eindruck, als argumentiere Litt ausschließlich und ohne jede Einschränkung für die aktuelle Position. Bis Litt dann in einer scharfen Wendung in das „Oder” wechselt und nunmehr mit gleicher Entschiedenheit in die entgegengesetzte Richtung argumentiert. Der damit noch unerfahrene Leser fragt dann — gestützt auf die gewohnte formale Logik des Satzes der Identität und das Widerspruchs — was von beiden denn nun eigentlich gelten solle!

Betrachtet man diese Littsche Argumentationsstruktur von der Grundlage dialektischer Logik aus, verändern sich die Verhältnisse nachhaltig, weil dann sowohl These wie Antithese in ihrem Für-sich gleichermaßen gültig sind, obwohl sie sich widersprechen: Dem „Führen” wie dem „Wachsenlas-sen” kommen gleiche Bedeutung zu; auch bei „Individuum und Gemeinschaft”, wie bei „Autorität und Freiheit” hebt der Widerspruch die gleiche Bedeutung beider Seiten nicht auf.

Dieser Umstand hat zur Folge, dass man Belegstellen aus Litts Schrifttum mit Vorsicht behandeln muss, weil jeweils nachzuprüfen ist, in welchem Argumentationszusammenhang sie stehen. Litt hat es freilich seinen Lesern nicht eben leicht gemacht, denn statt auf den Perspektivenwechsel interpretierend hinzuweisen, hat er meist gern vorschnell kritisch räsoniert.
Das erweist sich vor allem dann als misslich, wenn Litt zwar dialektisch argumentiert, aber ganz offensichtlich dennoch mit einer der beiden Positionen sympathisiert. Um einen solchen Fall handelt es sich bei dem anstehenden Thema: Die Naturwissenschaften und die Mathematik stehen nicht in Litts Gunst. Aber dann stößt Litt — vielleicht ist der Gebrauch der Passivform hier angemessener: …wird Litt auf das Thema „Berufsbildung” gestoßen und er muss seinerseits die auch hier waltende Dialektik anerkennen. Folglich muss Litt die Berufsbildung in die Menschenbildung integrieren.

Immerhin hatte das zur Folge, dass sich Litts Argumentationsweise zum Thema Berufsbildung in Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt vom Text der beiden anderen Schriften Naturwissenschaft und Menschenbildung und Technisches Denken und menschliche Bildung — trotz der Übernahme gleicher Textpassagen — merklich unterscheidet.

Auf diesen Text stützt sich die folgende Interpretation, die sich allerdings innerhalb eines knapp bemessenen Textes nur in aller Kürze darlegen lässt: In der Konfrontation mit dem Problemfeld Berufsbildung ist Litt endlich des Umstandes gewahr geworden, dass er den auch bei ihm unbestimmt gebliebenen „objektiven Geist” nicht mehr nur in dem von Dilthey vorgegebenen Verständnis als Kulturinhalt interpretieren kann, wie das bislang auch bei ihm geschehen war, sondern dass — an Schellings Naturauffassung anknüpfend — in den besonders in der Berufsbildung begegnenden Naturgesetzen gleichfalls ein Stück Geist steckt!

Litt hat allerdings diesen letztgenannten Umschwung nur in sparsamsten Hinweisen deutlich werden lassen, denn schließlich mußte er sofort des Umstandes gewahr werden, dass schon eine Erwähnung einer veränderten Interpretation des „objektiven Geistes” ihn gezwungen hätte, wesentliche Teile von Mensch und Welt wie auch von Denken und Sein umzuschreiben und außerdem auch noch das in seinen Schriften Naturwissenschaft und Menschenbildung und Technisches Denken und menschliche Bildung dazu Geäußerte zu revidieren.

Ich habe deshalb den Eindruck — wobei deutlich anzumerken ist, dass man dies hier nur knapp zu Erwähnende nicht schon als einen Beweis werten, sondern nur als einen Hinweis interpretieren sollte — dass Litt einen anderen Weg gewählt hat. Er hat sein großes Hegelbuch von 1952 geschrieben, in dem er darlegt, warum er an Hegel angelehnt so gedacht hat, wie er gedacht hat, dieses aber zugleich mit einer rückläufigen Kritik verbindet, die im Untertitel deutlich wird: „Versuch einer kritischen Erneuerung”. Damit ist nicht mehr und nicht weniger als eine deutliche Kritik Litts an Hegel gemeint! Etwas bis dato kaum Vorstellbares! (Zur Rezeption dieser Littschen Hegel-Interpretation vgl. Bruno Liebrucks, Zur Theorie des Weltgeistes in Theodor Litts Hegelbuch, in: Kantstudien Bd. 46, Heft 3).
Die sich dadurch für das Verständnis des Menschen ergebenden Veränderungen werden uns im folgenden Kapitel beschäftigen. Jetzt zunächst zu den Konsequenzen, die durch Litts neues distanziertes Verhältnis zu Hegel für das Verhältnis Mensch — gegenständliche Welt entstehen. Die entscheidenden Textstellen stehen im Abschnitt „Die Wiederherstellung des ,Anderen'” (292ff). Dort werden zunächst Voraussetzung und Konsequenz der Hegel-schen Konzeption beschrieben: „Die ,List der Vernunft ‘…erweist sich bei näherem Zusehen als die das ganze Menschengeschlecht in der Gesamtheit seiner Taten und Leiden dirigierende Macht. Der Logos der Welt… ist der wahre Initiator alles dessen, was durch menschliche Wollungen und Handlungen in die Wirklichkeit eintritt.”

Diesen Umstand wertet Litt jetzt neu. Er kritisiert scharf die „Folgerichtigkeit…, mit der es von der Inthronisierung des Logos zur Entmündigung des Subjekts weitergeht.” Wird aber — als Konsequenz von Litts Hegelkritik —das Subjekt wieder in die ihm als Person zustehende Mündigkeit zurückversetzt, dann „gewinnt auf einmal das Problem des ,Anderen’, des ,Gegebenen’, des ‚Vorausgesetzten’ ein völlig verändertes Gesicht”!

Nun ist freilich „das Andere” ein gänzlich undifferenzierter Begriff, der alles bedeuten kann, was „entgegensteht”. Darunter versteht Litt insbesondere das „Du”, zu dem — wir wissen das schon aus der dritten Auflage von Individuum und Gemeinschaft — eine „gleichgewichtete Wechselbezogenheit hergestellt” werden muß. Aber Litt blickt jetzt nicht mehr nur auf „den Anderen”, sondern benennt damit auch „das Andere” und umschreibt es (mit Hegel) als „das Gegebene”, „das Vorgefundene”. Ich interpretiere Litts Formulierung von der „Wiederherstellung des ,Anderen'” deshalb als über den sozialen Aspekt hinausgreifend, denn das nunmehr in Freiheit zurückversetzte Subjekt trägt jetzt ja nicht nur soziale Verantwortung für seinesgleichen, sondern auch für das Insgesamt der Lebenswelt und dies schließt mit Notwendigkeit ein: für die Natur und für Welt insgesamt.

Auf diese Überlegungen gestützt, können wir nunmehr zum Thema Berufsbildung zurückkehren: Sache und Sachgesetz erfordern, dass man sich mit ihnen in einem hinreichenden Ausmaß auseinandersetzt. Damit ergibt sich dann auf dem Umweg über Berufsbildung eine notwendige Erweiterung der Allgemeinbildung in der Weise, dass Schüler innerhalb ihrer Allgemeinbildung den Aufbau der realen Welt (einschließlich der Mathematik!) kennen lernen. Damit umfasst Allgemeinbildung jetzt mit Notwendigkeit auch Naturwissenschaften, deren Beitrag zur Bildung ja bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts problematisiert worden war und denen Litt auch später noch skeptisch gegenüber stand.

Man kann ermessen, welche Veränderungen sich in Litts Denken vollzogen haben müssen, wenn er — an Sprangers Auffassung von der hohen Bedeutung der Berufsbildung für Allgemeinbildung von 1919 angelehnt — im Text zur „Modernen Arbeitswelt” einmal sinngemäß anmerkte, es könnte sein, dass der Sachzwang eine heilsamere Bildungswirkung auslöse als alle bloße Spekulation! (Ende Kap.10)

Also: Nach der ersten Säule der Bildung, der Ermächtigung zur Selbstverantwortung, nunmehr als eine zweite Säule eine differenzierte Kenntnis des Aufbaus der realen Welt und des daran angeschlossenen sachlichen Umgangs, wie er ja — diese Konsequenz sieht Litt durchaus — nicht nur für alle Berufsbildung, sondern genauso für jede solide Lebensführung unentbehrlich ist.

Aber auch nach Abschluss dieser zweiten Überlegung sind wir noch nicht an das Ende des Themas Reflexion und Bildung angelangt. Wie es bei Litt öfters der Fall ist: mitten im Text findet sich ein Einschub, den man zunächst für eine Parenthese hält, bis man gewahr wird, dass Litt auf ein Fundamentalproblem gestoßen ist. So auch jetzt: Im zweiten Teil des Kapitels Moderne Arbeitswelt, nachdem Litt über das bei Berufsbildung stets auftretende Verhältnis von Mittel-Zweck-Korrelation und Menschenbildung — Wie verbindet sich Berufsbildung mit Menschenbildung? — seine Überlegungen vorgetragen hat, folgen ohne besondere Überleitung zwei Kapitel, die einen totalen Wechsel der Perspektive enthalten; und dies ohne jede gesonderte Kennzeichnung und Absetzung. In beiden Kapiteln taucht in der Überschrift der Begriff Antinomie auf. Das erste Kapitel trägt die Überschrift “Die Antinomie der Menschenbildung”, das später folgende zweite “Antinomie und Reflexion”.

Beide Kapitel zusammen umfassen knappe 15 Seiten (wobei ich jetzt außer Acht lasse, dass Litt diese Themen auch in den beiden anderen bereits mehrfach genannten Texten zum Thema Naturwissenschaft und Bildung anspricht), berühren indes ein Thema, dessen Bedeutung sich kaum ausmessen läßt. Wir erinnern uns: Litt hatte schon einmal in besonders betonter Weise von Antinomien gesprochen, nämlich in der ersten Auflage von Individuum und Gemeinschaft. Bei deren Analyse wurde bereits erwähnt: das Bild, das Litt in diesem Zusammenhang von Gesellschaft vorträgt, ist ein bedrückendes; aber Litt schob dort die als Versöhnung fungierende Hegelsche Geschichtsphilosophie nach.

Erwähnt wurde in diesem Zusammenhang auch, dass die Soziologie dieser Zeit — die Namen Tönnies, Max Weber und Georg Simmel wurden genannt —auf Verwerfungen wie Gefährdungen im gesellschaftlichen Gefüge hinwies; und dies in einer scharfen kulturkritischen Betrachtungsweise, die später von Hans Freyer, Litts Leipziger Kollegen, aufgenommen und in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters weiter entwickelt wurde: Menschen schaffen Systeme, deren rasch anwachsende Nebenwirkungen gefährdend auf den Menschen zurückschlagen und zu durchaus tragischen Situationen führen können, — wie wir das in unserer Zeit ja immer noch — neuerdings sogar deutlich verstärkt — erfahren: Wellen von Arbeitslosigkeit, plötzliche auftretende Verarmungen, immer wieder aufflackernder Krieg der Kulturen. Dazu weitere Gefährdungen, die wir teilweise gar nicht mehr so richtig wahrzunehmen imstande sind, wie etwa die gezielten Verführungen einer immer raffinierteren Reklame-Industrie mit den Abstürzen vieler Opfer in sinnlosen Verbrauch und irreparable Schuldenfallen.

Und schließlich: Ludwig Klages hatte Anfang des 20. Jahrhunderts laute Anklagen erhoben, dass der Mensch unter den Bedingungen der modernen Wirtschafts- und Produktionsformen die Welt zu zerstören beginne, die zu erhalten seine primäre Aufgabe wäre. Martin Heidegger hatte in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in ähnlicher Weise den Vorwurf erhoben: der moderne Mensch benutze die Welt nicht in angemessener Weise, sondern er vernutze sie.

Litt hatte sich solchen kulturkritischen Darstellungen lange Zeit entzogen. Es scheint, dass erst die Ereignisse in Hiroshima und Nagasaki ihn an seinem zuvor dominanten — auf Hegels „Weltgeist” gestützten — grundsätzlichen Optimismus zweifeln ließen. Dies wird dann besonders an seiner zwar späten aber eindringlichen Distanzierung von Hegel deutlich, denn die “Rettung der Freiheit”, die Litt — vorhin schon erwähnt — in den letzten Passagen seines Hegel-Buches unternahm, hat schließlich ihren Preis! Freiheit schließt stets und unwiderruflich die Möglichkeit des Scheiterns ein. Litt demonstriert dies in der folgenden Passage seines Hegel-Buches (303): daß “das zur Entscheidung aufgerufene Subjekt an Sicherheitsgefühlen einbüßt, wenn es sich aus der Obhut des seine Schritte lenkenden Weltlogos entlassen und allein auf sich selbst angewiesen weiß.”

Das heißt aber nicht mehr und nicht weniger, als dass Litt nach seiner Distanzierung von Hegel und das heißt zugleich am Ausgang seines Lebens in einen erheblichen Widerspruch gerät. Auf der einen Seite hatte er ein Lebenswerk geschaffen, das — auf Hegels Idealismus gestützt — von einem alles in allem primären Optimismus getragen war, auf der anderen Seite wurde er in seiner zweiten Bonner Zeit mit dem Bewußtsein einer deutlich drohenden Tragik konfrontiert, in deren Gefolge sich eine unabweisbare insecuritas humana abzeichnet; wobei insecuritas hier nicht mit Unsicherheit, sondern mit Gefährdung zu übersetzen ist.

Hier scheint der Grund dafür zu liegen, dass Litt an der erwähnten Stelle in „Die moderne Arbeitswelt” nicht mehr von Antinomien (im Plural) spricht, sondern von “der Antinomie” (im Singular)! Nicht eine Vielzahl verschiedener unterschiedlicher lokaler Beschwernisse, sondern ein durchgängiger, permanenter, unaufhebbarer Gefährdungszustand menschlicher Existenz! Litts früher Leipziger Kollege Johannes Volkelt hatte es in seinen — in der Tradition Eduard von Hartmanns stehenden — Publikationen zum Thema Tragik schon angesprochen, Peter Wust hat es in den 20er Jahren des letzten Jahrhundert mit dem von ihm geprägten Wort von der insecuritas humana wieder aufgegriffen, Romano Guardini hat sich ihm in seinem 1928 geschriebenen Der Gegensatz genähert. Theodor Litt musste sich erst kritisch von Hegels „Weltgeist” verabschieden, ehe er formulieren konnte (303): „Die Freiheit, die damit gewonnen wird, ist nicht die Freiheit des Subjekts, das über dem Ganzen schwebend, die Wonnen der Allwissenheit auskostet und damit…die Stellung der Gottheit usurpiert — es ist die Freiheit des Subjekts, das…sich in allen Beschränktheiten…befangen, von allen Ungewissheiten…bedrängt weiß!”

Damit stellt sich für uns heute die nachgerade brennende Frage, ob es denn für eine solche Anthropologie schon eine problemangemessene Pädagogik gibt, ob wir überhaupt etwas und wenn ja, was und wie innerhalb des Bildungsprozesses tun können, um Menschen auf diese permanent und überall drohende insecuritas humana vorzubereiten! Sehen wir uns dazu in gegenwärtiger pädagogischer Literatur um, dann finden wir zwar Titel wie „Bildung neu denken”; aber was hier neu gedacht werden soll, wird an wirtschaftspolitischen Bedürfnissen gemessen und bleibt ahnungslos dem gegenüber, was Litt sorgenvoll bewegte.

Allerdings: ein absolutes Neuland suchen müssen wir nicht! Vielmehr hat uns Litt selber auf die Fährte gesetzt: 1952 hat er drei ältere Vortragstexte unter dem Titel „Der lebendige Pestalozzi” publiziert, wobei sich besonders der zweite und der dritte Text auf eine Schrift Pestalozzis beziehen, die zur damaligen Zeit als vergessen betrachtet wurde, wohl weil ihr Duktus und ihre Aussagen so ganz und gar nicht in das gängige Pestalozzi-Bild der Zeit — das des unermüdlichen Kinderfreundes — passten.

Litt hat Pestalozzis Anthropologie „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts” zwar nicht wiederentdeckt, wie manchmal gemutmaßt wurde, aber deren mittlerweile vergessene Bedeutung für eine realistische Selbsteinschätzung des Menschen in die Erinnerung zurückgerufen. Ich zitiere dazu nur eine Passage aus Pestalozzis Schrift: „Er (der Mensch) sieht die Unschuld an den beiden Grenzen seines Daseins und lebt in ihrer Mitte, umhergetrieben vom Sturme seiner Schuld. Also sieht ein Scher im Süden und Norden eine glänzende Stelle hinter den Wolken, indessen er auf seinem Schiff vom Sturm des Meeres und des Himmels bis zum Versinken herumgetrieben wird.”

Die Umsetzung einer solchen Anthropologie in angemessene Pädagogik muss erst noch geleistet werden. Natürlich wird man eine Schrift wie die Pes-talozzis nur in sehr ausgewählten Situationen mit Schülern lesen können. Aber durch sie werden wir auf Literatur verwiesen, die sehr wohl Schülern erste Vorstellungen davon vermitteln könnte, was Tragik heißt und wie wir sie erfahren werden. Anschaulich machen kann man diese Problemlage, so scheint es mir, am besten an Teilen der Romanliteratur. Ich verweise hier nur (in einem ganz und gar exemplarischen Sinn) auf einige Beispiele, an denen sich verdeutlichen lässt, dass Tragik sich nicht nur wie ein Blitz aus heiterem Himmel ereignet, dass Situationen des Scheiterns vielmehr ihre Geschichte haben; wobei außerdem auch noch deutlich wird, daß sich solche Ereignisse zumeist nicht nur einmal abspielen, sondern in sich eine gefährliche Tendenz der Wiederholung und das heißt eines Rückfalls zeigen. Besonders anschaulich dargestellt wurde dies — jetzt schon einige Zeit zurückliegend — bei Hans Fallada in Titeln wie „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” oder in seinem ersten Buch „Kleiner Mann, was nun?” und schließlich in den Erfahrungen, die er in seiner autobiografischen Abhandlung „Der Trinker” seinen Lesern mitteilt.

Dadurch vermittelt stoßen wir dann alsbald auf ein aktuelles Schulproblem, in dem sich eine tiefe Tragik offenbart, deshalb geradewegs einen gesellschaftlichen Skandal darstellt, da es, wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande bildungspolitische Aufmerksamkeit erfährt und auch von Pädagogen kaum wahrgenommen wird: Gute 10% unserer Schüler scheitern bereits im unserem Schulsystem — der Institution, die sie auf ihr Leben vorbereiten soll — und werden fortan ihr Leben lang unter der Stigmatisierung eines Schulab-brechers oder Schulaussteigers existieren müssen!

Damit hier nicht die falschen Konsequenzen gezogen werden: Die Hilfe, die aus ideologischer Sicht regelmäßig gefordert wird, das Einheitsschulsystem, ist keine, denn Menschen, auch schon Kinder, sind individuell unterschiedlich. Die Schulabbrecher scheitern ja gerade, weil dieser Unterschiedlichkeit nicht genügend Rechnung getragen wird! Hier wäre vielmehr nötig, endlich das zu Rate zu ziehen, was Hans Aebli einmal als „bildungsfeindlichen Verbalismus” charakterisiert hat, der unser allgemeinbildendes Schulwesen regiert und auf dessen Gefährdungen viele Pädagogen — Kerschensteiner, De-wey, Montessori, Makarenko, Spranger schließlich und noch viele andere —eindringlich hingewiesen haben!

Aber zurück zum umfassenden anthropologischen Problem der insecuritas humana: Diese zwingt uns das, was Litt nur sehr knapp unter seiner zuletzt zitierten Überschrift „Antinomie und Reflexion” angesprochen hat, auszuweiten und in den Dimensionen zu betrachten, die dieses Moment eines eindeutig Tragischen in unseren Reflexionen über Bildung gewinnen muss:

Einerseits vermehrte Aufmerksamkeit auf die offensichtlich zunehmenden Selbstgefährdungen des Menschen, die mit seiner Verführbarkeit zusammenhängen, der — wenn überhaupt! — nur durch genügend aufklärende Bildung beizukommen sein wird.

Andererseits dann aber auch das den Menschen unserer Zeit Widerfahrende in der Form sich steigernder Fremdgefährdungen. Diese treten einmal in der Form moderner Dauerbelastung auf wie sie bereits Max Weber (in „Beruf zur Wissenschaft”, 1919) so kritisch wie deutlich zur Sprache brachte als er die moderne Gesellschaften dominierende Verbindung von Rationalem und Rationellem das „stahlharte Gehäuse der Moderne” nannte: In ihm werde der Mensch entfremdet und nur noch als Funktion akzeptiert. Litt hat die gleiche Sorge geplagt, dass im überbordenden Funktionalismus der Technik und Wirtschaft der Mensch als Person auf der Strecke bleibe.

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