Wissenschaft und akademische Bildung Theodor Litt zur Bildungsbedeutung der Wissenschaft und zur Rolle der Universität35 min read

Ist Theodor Litt für die gegenwärtige
Hochschulpolitik aktuell?
Theodor-Litt-Jahrbuch 2010/7
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2010

FRANZ-MICHAEL KONRAD
Wissenschaft und akademische Bildung
Theodor Litt zur Bildungsbedeutung der Wissenschaft
und zur Rolle der Universität

  1. Einleitung

Die Universitäten und die in ihnen betriebene wissenschaftliche Forschung und Lehre sind in unseren Tagen wieder zum Gegenstand eines allgemeinen, die Expertenzirkel hinter sich lassenden Diskurses geworden. Das ist eine vergleichbare Situation, wie wir sie seit den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren nicht mehr erlebt haben. Der Eindruck, dies sei eine ganz neue Entwicklung und der Status davor mit einem lang andauernden Dornröschenschlaf der Universitäten vergleichbar, täuscht allerdings. Selbst wenn wir nur die jüngere Vergangenheit betrachten, zeigt sich: Auch in den 1970er und 1980er Jahren haben sich die Universitäten keineswegs in ruhigen Gewässern befunden. Nachdem die Universitätsgründungswelle der 1960er Jahre abgeebbt war und die politisch hoch aufgeladenen Kontroversen um die innere Verfassung des Hochschulwesens sich beruhigt hatten, der Muff aus den Talaren geklopft war, schien zwar vordergründig allein noch in der Bewältigung der stetig steigenden Studierendenzahlen eine letzte und große Herausforderung zu liegen. Unterschwellig jedoch und zunächst kaum bemerkbar baute sich schon die nächste Woge auf. Bereits Mitte der 1970er Jahre begannen die Umrisse eines so genannten „einheitlichen europäischen Hochschulraumes” sichtbar zu werden, ein schnell an Rasanz gewinnender Prozess, der über die Stationen der Einführung des sogenannten ERASMUS-Programms zur Erhöhung der Studierendenmobilität im Jahr 1987 und über die diversen politischen Willenserklärungen seit Lissabon (1997) in unseren Tagen —jedenfalls nach seiner äußeren, organisatorischen Seite hin — zu einem vorläufigen Abschluss gelangen soll. Geplant war hier ursprünglich das Jahr 2010. Zwar dürfte es schlussendlich mit der Umsetzung dieser auch Bologna-Prozess genannten Umstrukturierung unserer Hochschullandschaft etwas länger dauern. Am Ergebnis wird das freilich nichts ändern. Das Ende jener Universitätsidee, so wie sie sich in der maßgeblich von Wilhelm von Humboldt betriebenen Gründung der Universität zu Berlin vor genau 200 Jahren beispielhaft Ausdruck verschafft hat, ist in Deutschland’ zu einem Faktum geworden.

Theodor Litts Überlegungen zu Wissenschaft und Universität erscheinen vor diesem Hintergrund auf eine anregende Weise anachronistisch. Wobei ,anachronistisch’ hier in einem doppelten Sinne, nämlich als ,nicht mehr zeitgemäß’, durch die Zeitläufte überholt, sowie — nahe an der ursprünglichen Wortbedeutung — als ,gegen die Zeit’, gegen den aktuell herrschenden Zeitgeist gerichtet, verstanden werden soll.

In diesem Sinne werde ich im Folgenden zuerst Theodor Litt als Hochschullehrer und Aktivisten der akademischen Selbstverwaltung in Erinnerung rufen. Anschließend werde ich Litts Konzept einer „akademischen Bildung” sowie sein Verständnis von Rolle und Aufgabe der Wissenschaft und der Universität in der Gesellschaft — insbesondere in ihrem Verhältnis zur Politik — zu skizzieren versuchen. Sodann folgen einige Überlegungen, die einen großen Zeitgenossen Litts ins Spiel bringen. Am Schluss werde ich dann die Frage nach der Aktualität der Überlegungen Litts für die heutigen Diskussionen stellen, deren Hintergrund ich eben einleitend angerissen habe.

  1. Theodor Litt als Hochschullehrer

Wenn im folgenden Abschnitt Theodor Litt als Hochschullehrer vorgestellt wird, dann kann es sich nur darum handeln, einige in diesem Zusammenhang wichtige biografische Daten zu vergegenwärtigen. Eine ausführlichere Würdigung ist dagegen nicht beabsichtigt. Im Sinne einer runden Präsentation und Diskussion der Gedanken Lite zu dem hier verhandelten Thema mag es aber sinnvoll sein, die Stationen Lifts als Hochschullehrer nicht ganz zu übergehen.

In vier politischen Systemen hat Litt als Wissenschaftler und Universitätslehrer gewirkt. Ganz am Beginn der Weimarer Republik, 1919, wurde er als außerordentlicher Professor an die Universität Bonn berufen. Ein Jahr später, 1920, wechselte er als Nachfolger des nach Berlin abgewanderten Eduard Spranger auf eine ordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik an die Universität Leipzig. In Leipzig hat Litt bis 1937 gewirkt, davon im akademischen Jahr 1931/32 als Rektor der Universität ein Spitzenamt in der universitären Selbstverwaltung bekleidet. Die Rede, die Litt anlässlich der Übernahme des Rektorats 1931 gehalten hat, wird mich noch beschäftigen. Zu Beginn des Wintersemesters 1937/38 ist Litt auf eigenen Wunsch emeritiert worden und hat auch so seine Distanz zum nationalsozialistischen Staat deutlich werden lassen. Erst jüngst wieder ist Litt in der wissenschaftlichen Literatur dafür gelobt worden, dass er sich — obschon ein Konservativer — nicht von den Nationalsozialisten hat vereinnahmen lassen, sondern als einer der wenigen führenden Hochschulpädagogen der 1930er Jahre seine abweichenden Ansichten offen geäußert hat (Ortmeyer 2009, S.163ff.).

Erst nach der Befreiung, im Wintersemester 1945/46, hat Litt seine Lehrtätigkeit in Leipzig, also in der damaligen SBZ, wieder aufgenommen, da war er immerhin schon 65 Jahre alt! Nur zwei Jahre später, im Wintersemester 1947/48, nach einem Ruf an die Rheinische-Wilhelms-Universität der Neuanfang in dem in der britischen Zone gelegenen Bonn, wo 28 Jahre zuvor Litts Tätigkeit als Hochschullehrer begonnen hatte. In Bonn verstarb Litt, der nach übereinstimmendem Urteil seiner Hörer ein begnadeter Redner gewesen sein muss, im Sommer 1962. Und zwar nachdem er, wie Albert Reble in einer kleinen biographischen Rückschau mitgeteilt hat, zuvor in einer Vorlesung, seiner letzten Vorlesung, einen Schwächeanfall erlitten hatte (vgl. Reble 1995, S.22). Dass Litt buchstäblich bis zum letzten Atemzug auf dem Katheder gestanden hat, belegt die Leidenschaft, die er offenkundig für seinen Beruf aufgebracht hat. Nachzutragen wäre noch Litts Mitgliedschaft in fünf wissenschaftlichen Akademien.

Litt war also ein anerkannter Wissenschaftler und ein durch seine jahrzehntelange Tätigkeit in dieser Institution erfahrener Universitätslehrer, der in jeder Hinsicht wusste, wovon er sprach, wenn er sich zu Fragen der Wissenschaft und der Universität äußerte. Da Litt sich zudem in seinem Werk als Philosoph und geisteswissenschaftlicher Pädagoge immer wieder zu bildungstheoretischen Fragen geäußert hat, darf man im Schnittfeld von Bildung, Wissenschaft und Universität in der Tat Erhellendes von ihm erwarten.

  1. Über den Bildungswert der Wissenschaften

Schon die flüchtige Lektüre eines von Hans-Helmuth Knütter (1981) zusammengestellten Werkverzeichnisses, das 302 Nennungen umfasst, ergibt rd. 30 Publikationen, die sich ganz offensichtlich mit der Universität und ihren Wissenschaften befassen. Von ‚ganz offensichtlich’ spreche ich deshalb, weil ich mich bei der Durchsicht dieser Bibliografie nur von jenen Beiträgen habe leiten lassen, die die Begriffe „Wissenschaft” oder „Universität” im Titel führen. Es mag in Wahrheit also durchaus noch mehr einschlägige Arbeiten aus der Feder Litts geben — denken wir nur, um ein Beispiel aus dem Frühwerk zu geben, an die wissenschaftstheoretische Studie Erkenntnis und Leben von 1923 (Litt 1923). Untersuchungsgegenstand sind im Folgenden allerdings weniger Äußerungen solch ausführlichen und grundlagentheoretischen Zuschnitts, sondern, wenn auch nicht ohne Ausnahme, die eher knapp gehaltenen pragmatischen Beiträge Litts, die häufig an ein größeres, zwar akademisches, nicht jedoch im eigentlichen Sinne philosophisch vorgebildetes Publikum gerichtet waren und sich konkret mit den Aufgaben von Hochschule und Wissenschaft befasst haben. Häufig hat es sich dabei um zunächst mündlich Vorgetragenes gehandelt.

Aus heutiger Sicht nur noch von historischem Interesse sind die tagesaktuellen Beiträge, etwa wenn Litt anfangs der 1920er Jahre das Verhältnis von höherer Schule und Universität beleuchtet hat, ein Thema, mit dem er sich als langjähriger Gymnasiallehrer und kurzzeitiger Referent im preußischen Kultusministerium (1918) zweifellos gut auskannte und das ihn angesichts der damals virulenten Hochschulreformdebatten zur Stellungnahme reizte. Anderes atmet zwar den Geist der Zeit, in dem es geschrieben wurde, enthält aber dennoch Überlegungen, die es bis heute wert sind, bedacht zu werden. Dazu gehören etwa die Arbeiten der 1930er Jahre oder auch die Arbeiten des Spätwerks, die aus der Konfrontation mit dem Kommunismus sowjetischer Machart heraus entstanden sind. Den hatte Litt in seinen ersten Nachkriegsjahren an der Leipziger Universität selbst hautnah kennen gelernt, woraus sich vermutlich der in diesem Fall so ungewöhnlich apodiktische Duktus seines Argumentierens erklären lassen dürfte. Ich verweise hierzu auf die Interpretationen Peter Gutjahr-Lösers (1981).
Meine kleine Umschau beginne ich mit Litts Vortrag Berufsstudium und ‚Allgemeinbildung’ auf der Universität, gehalten im Juli 1920 auf dem 2. Deutschen Studententag.

Hintergrund der Litt’schen Überlegungen waren die nach Kriegsende aufgebrochenen Debatten um die Rolle der Universität und der Wissenschaft. Die Zahl derer, die von der Wissenschaft Sinnstiftung und von den Professoren Führung erwarteten, war nach den verstörenden Kriegserfahrungen und den erkennbaren Schwierigkeiten, sich in ein ganz neues und den Deutschen völlig unvertrautes politisches System einzufinden, groß. Insbesondere die aus dem Krieg heimgekehrten, desillusionierten Jugendbewegten, aber auch kleine, elitäre intellektuelle Zirkel, wie z. B. die an allen Universitäten in Deutschland anzutreffenden Anhänger Stefan Georges, erstrebten eine Wissenschaft, die sich willig in den Kampf gegen eine als unbefriedigend empfundene Moderne einspannen ließ. Das ungesunde Vorherrschen des Rationalismus im Geistesleben, was man als Kern allen Übels glaubte identifiziert zu haben, und die heillose Fraktionierung der Gesellschaft sollten mit Hilfe einer solchermaßen neu zu begründenden Wissenschaft und deren Vertretern überwunden werden. Die Alte’ Wissenschaft dagegen habe in ihrer Fixierung auf das Räsonnement die im Zuge des Modernisierungsprozesses ohnehin voranschreitende Entfremdung des Menschen von seiner wahren Natur und seine anthropologische Entwurzelung nur noch gefördert. Eine Lösung der drängenden Zeitprobleme sei von einer solchen Wissenschaft folglich nicht zu erwarten. Vielmehr gelte es, die eingetretene Fehlentwicklung rückgängig und eine geläuterte Wissenschaft zur Wegweiserin in unsicherer Zeit zu machen.

In dieser Situation plädiert Litt für einen Kompromiss. Es sei sicher nicht falsch, konzediert er zwar, wenn behauptet werde, „dass es dem Intellekt, der Logik und der Methode niemals gelingen wird, aus sich heraus ein Gesamtbild des Lebens hervorzubringen” (Litt 1920, S.14). Dies aber rechtfertige es keineswegs, die Vernunft aus dem Diskurs der Wissenschaft zu verbannen. Beide, die Vernunft auf der einen und das triebhaft-ahnende Irrationale auf der anderen Seite, seien gleichermaßen wichtig und unverzichtbar, wenn es darum gehe, das Wesen des Menschen und seine Kulturfunktion zu verstehen. Die Notwendigkeit dieses Zusammenspiels unterstreicht Litt mit dem Hinweis darauf, dass zwar jede neue Idee, jeder Einfall, wovon Wissenschaft ja schließlich lebe, zunächst einmal intuitiven, vorbewussten Ursprungs sei. Um eine Idee aber produktiv werden zu lassen, müsse sie in Form gebracht, geistig durchdrungen werden. Außerdem: Wenn es tatsächlich zutreffe, dass das Wirken des Intellekts die Zwiespältigkeit und Zerrissenheit der Moderne verschuldet habe, „dann kann dieser Schaden nicht gleichsam hinter seinem Rücken geheilt werden, dann muss er selbst beim Aufbau der neuen Einheit zwar nicht leitend, aber doch helfend und sichernd tätig sein” (ebd., S.16). Litt anerkennt also die Zeitdiagnose und teilt auch das Ziel, lässt sich aber im Streit um Zuschnitt und Aufgabe der Wissenschaft nicht auf die Seite der antimodernen Opposition ziehen, sondern sucht nach einer Lösung, die verspricht, das Gesuchte auf einem Weg zu erreichen, der den Vernunftgebrauch nicht ausschließt.

Einen Mittelweg beschreitet Litt auch hinsichtlich der Rolle und der Mission, die der Hochschule im Leben der Gesellschaft zukomme. Von einem Führungsauftrag, den die Professoren angeblich hätten, will er nichts wissen. Aber ebenso wenig wie einen „Fachhomunkulus” solle die Universität „einen über dem Leben schwebenden Weltbetrachter” (ebd., S.11) heranziehen. Anzustreben sei vielmehr eine „akademische Bildung”, die im eben skizzierten Sinne ganzheitlich angelegt sein müsse und den Studenten zum eigenständigen Denken und dazu befähige, zum „baumeisterliche[n] Mitschöpfer einer neuen Einheit des Geistes” (ebd., S.18) zu werden. Vom „Vollmenschentum” als Ziel dieser „akademischen Bildung” ist etwas unbestimmt die Rede, und davon, dass hierbei der Philosophie eine Führungsrolle zukomme. Auch schlägt Litt so etwas wie ein „studium generale” vor, das in organisatorischer Hinsicht Ort dieses Bildungsgeschehens sein könne.
Von der „akademischen Bildung” handelte auch die Schrift Wissenschaft —Bildung — Weltanschauung aus dem Jahre 1928. Eingebettet sind Litts diesbezügliche Überlegungen nunmehr in den wissenschaftstheoretischen Versuch, das Verhältnis der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften zu bestimmen, ein Thema, das 1920 ebenfalls schon kurz angeklungen war, und das Litt Zeit seiner Existenz als Wissenschaftler begleitet hat. Unter allen führenden Vertretern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik dürfte Litt derjenige gewesen sein, der die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften am intensivsten gesucht hat.

„Unter ,akademischer Bildung’ versteht man”, schreibt Litt 1928, „diejenige Sonderform vergeistigten Menschentums, für die das wissenschaftliche Denken eine irgendwie richtunggebende Bedeutung besitzt” (Litt 1928, S.2). Das Problem ist nun freilich — und hierin teilt er die an der ‚alten’ Wissenschaft geübte Kritik, dass dieses wissenschaftliche Denken allzu leicht dazu neigt, den Menschen auf den Kopf zu reduzieren. Damit wäre aber nur eine „Teilfunktion” des Menschseins erfasst, während jede Form von „Bildung”, also auch die akademische, den Menschen in seiner Totalität im Blick haben muss.

Am ehesten können diesem Anspruch auf Totalität noch die Geisteswissenschaften entsprechen. Zwar sind sie in der Praxis in zahllose „Spezialwissenschaften” aufgesplittert und ergehen sich nicht selten in abgehobener Fakten-huberei, wie Litt schon 1920 kritisierte. Gleichwohl ermöglichen die Geisteswissenschaften noch am ehesten den gesuchten ganzheitlichen Zugriff. Sie thematisieren den Menschen in seiner Fülle, als denkendes und empfindendes, erlebendes und fühlendes Wesen: „Es gibt … kein Stück Erfahrung, Leben, Wirklichkeit, das nicht als solches zugleich eine Bearbeitung durch den erkennenden Geist herausforderte. Auch das Ahnungsvoll-Dunkle und mystisch Verschleierte, auch das halb oder ganz Unbewusste, auch das aus rätselhaften Tiefen aufbrechende ,Erlebnis’ und das unberechenbare ,Schicksal’ — kurzum alles das, was sich inhaltlich gerade durch seinen Gegensatz gegen die Helligkeit und durchsichtige Ordnung der intellektuellen Sphäre kennzeichnet, hört damit nicht auf, das Interesse der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen auf sich zu ziehen” (Litt 1928, S.6). Zudem vermögen die Geisteswissenschaften, auch das hatte Litt schon 1920 festgestellt, dem, der sich ihnen widmet, Orientierung zu geben, denn ihr Gegenstand ist „diese geistige Welt, … aus der …alle die auf die Fülle des Lebens gerichteten Antriebe, alle jene übertheoretischen Bedürfnisse der Seele, alle inneren Wertrichtungen und Wertgestaltungen entspringen” (Litt 1920, S.20). Mit anderen Worten: Der Umgang mit den Geisteswissenschaften, wo sich der Mensch in seiner Ganzheit zum Thema macht, vermag ,bildend’ zu wirken — auch und gerade unter dem von Litt formulierten sehr weitgehenden Anspruch an „Bildung”.

Schwieriger verhält es sich dagegen mit den Naturwissenschaften, den „exakten” oder den „rechnenden Naturwissenschaften”, wie sie Litt auch gerne genannt hat, denn hier ist die Ausgangslage eine andere. Diese Ausgangslage wird Litt Jahrzehnte später, 1955, in seiner bekannten Abhandlung Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt so beschreiben: „Der Mensch muss recht eigentlich seiner selbst und des ihn persönlich mit der Welt Verbindenden vergessen, um, zum abstrakten Subjekt des reinen Denkens entselbstet, die begegnende Wirklichkeit in ein Netz ebenso abstrakter Beziehungen verwandeln zu können” (Litt 1960), S.14). Schon 1928 hatte Litt dieses „ihn persönlich mit der Welt Verbindende” als das menschliche Sprachvermögen herausgearbeitet und die fundamentale Bedeutung der Sprache für die conditio humana betont. Der Mensch erkennt die Welt, in die er existenziell gestellt ist, nur insoweit, als sie sich ihm sprachlich erschließt, und er erkennt sie so, wie sie sich ihm sprachlich erschließt. Wenn aber die Sprache ein solch wesentliches Element des Menschseins und menschlicher Existenz ist, dann geraten die Naturwissenschaften, die ja auf Sprache im hier vorgestellten Sinne nicht bauen können, ja sie als Erkenntnisquelle geradezu eliminieren müssen, in Opposition zum angestrebten „Vollmenschentum”. In der Tat: „Je reiner die exakten Naturwissenschaften das Ziel einer Mathema-tisierung der Natur erfassen, … um so mehr müssen sie auf eine Ausschaltung der der Sprache einwohnenden Metaphysik bedacht sein, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese Metaphysik, erwachsen aus der naiv-unbefangenen Haltung, in der der Mensch sich in die Welt und die Welt in sich hineinlebt, das genaue Gegenteil ist derjenigen Einstellung des denkenden Intellekts, die, wie solches das Ziel der exakten Wissenschaften ist, die anschauliche Fülle des erlebten Wirklichen in ein System abstrakter Formeln, mathematischer Funktionen verwandelt” (Litt 1928, S.17). Eine solchermaßen reduzierte ,Sprache’ des „reinen Denkens” aber wäre nichts anderes als jene Reduktion des Menschen auf den Intellekt, wie sie auch Litt ablehnt. Die Fülle der menschlichen Existenz kann so jedenfalls nicht dargestellt werden. Unter den von Litt formulierten Prämissen scheinen die Naturwissenschaften als Agens von Bildung auszuscheiden. Für eine „akademischer Bildung” sind sie nicht brauchbar.

Mir scheint, dass Litt in diesem frühen Beitrag der Herausforderung, den Bildungswert der Naturwissenschaften entsprechend, dem der Geisteswissenschaften zu bestimmen und beide auf ein gemeinsam geteiltes Verständnis von „akademischer Bildung” zu beziehen, letztlich aus dem Weg gegangen ist. Jedenfalls widmet Litt den gesamten zweiten Teil der Studie von 1928 der Diskussion erkenntnistheoretischer Probleme, wie sie sich in den Geisteswissenschaften stellen. Die Ausgangsfrage nach dem möglichen Bildungsgehalt der Naturwissenschaften greift er dagegen nicht mehr auf.

Im Spätwerk geht Litt dann anders vor. In seinen diesbezüglichen Beiträgen unterscheidet er nunmehr zwei, wie er sich ausdrückt, „Wirklichkeitsbereiche” und nennt den einen Wirklichkeitsbereich — die Begrifflichkeit wechselt hier verschiedentlich — „Menschenwerk” oder auch „die vom Menschen geschaffene Welt” und den anderen Wirklichkeitsbereich „davon strengstens geschiedene Natur” (Litt 1962, S.16f.). Beiden Wirklichkeitsbereichen ordnet Litt unterschiedliche Erkenntnisweisen zu. Auf die genuin geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweisen geht er in den von mir herangezogenen Texten des Spätwerks nicht näher ein. Wir dürfen aber annehmen, dass es sich um die eingeführten Formen des verstehenden Deutens und des einfühlenden Nacherlebens handelt, wie sie geisteswissenschaftlichem Arbeiten zugrunde liegen.

Anders dagegen die Naturwissenschaften, in denen über Hypothese und Experiment die notwendigen Daten generiert werden, die anschließend in einem streng formalisierten Verfahren zu Gesetzen verdichtet werden. Viel mehr als im Falle der ,verstehenden’ Disziplinen versucht Litt, das Wesentliche der Naturwissenschaften von der Methode her zu begreifen. Überhaupt sei jede einzelne Naturwissenschaft, führt er 1952 in einem Vortrag vor dem Deutschen Hochschulverband aus, worin er sich über den Bildungsauftrag der deutschen Hochschule, so der Titel, auslässt, „recht eigentlich Geschöpf der Methode” (Litt 1952a, S.23). Dabei vermeidet es Litt übrigens, was nahe gelegen hätte, die „rechnenden Naturwissenschaften” gegen die spekulative Goethesche Naturforschung auszuspielen und in letzterer, mit der er sich durchaus eingehend befasst hat, die eigentlich bildungswirksame wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur zu sehen. Gegen ihre Kritiker verteidigt er „den Wahrheitswert und den Lebenswert der mathematischen Naturwissenschaft” (Litt 1952c, S.429) und anerkennt als deren „spezifischen Beitrag zum Ganzen der Bildung” die „Strenge und Gewissenhaftigkeit der Methode” (Litt 1952c, S.433; ausführlich dazu ders. 1952b).

Dass die Wissenschaften und als deren Ort die Universität einen Bildungsauftrag haben, an dieser Überzeugung hat Litt also, wie man sieht, auch nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten. In dem eben erwähnten Vortrag spricht er immer wieder von den „bildnerischen Einwirkungen” der Universität auf die Studierenden (Litt 1952a, S.28). Wobei diese „akademische Bildung” —auch daran hält Litt unbeirrt fest — den Menschen als denkendes und fühlendes Wesen begreift, beide anthropologischen Grundgestimmtheiten bleiben ihm gleichermaßen wichtig. Dass er hinsichtlich des Modus, in dem die Geistes- und die Naturwissenschaften sich dieses Bildungsauftrags entledigen, im Spätwerk stärker differenziert und er dort den Beitrag der Naturwissenschaften zur „akademischen Bildung” erst so recht herausgearbeitet hatte, habe ich versucht, deutlich werden zu lassen.

Ich komme nun auf die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft zurück. Wie oben schon ausgeführt, haben sich viele unter den damals Studierenden in den Wirrnissen der 1920er Jahre von der Wissenschaft und den Profe5soren Führung und Orientierung versprochen, darunter nicht zuletzt auch in politi-e’ schen Entscheidungsfragen. Wie hat Litt das gesehen? Sein Plädoyer für eine „akademische Bildung”, kraft derer sich der einzelne zu den gesellschaftlichen Dingen in ein begründetes Verhältnis sollte setzen können, darf allenfalls als Teilantwort auf diese Frage gelten.

  1. Wissenschaft und Politik

Zur Erläuterung der Position Litts bietet es sich an, auf das Jahr 1931 Bezug zu nehmen. In seiner oben schon erwähnten Rektoratsrede schlug Litt nämlich genau dieses Thema an, das Thema ,Wissenschaft und Gesellschaft’ bzw. ‚Wissenschaft und Politik’, weil es ihn zu diesem Zeitpunkt aus gegebenem Anlass erneut stark beschäftigt hat.

Um die Ausführungen Lite besser nachvollziehen zu können, muss man sich die auch und gerade an den Universitäten politisch aufgeheizte Atmosphäre der frühen 1930er Jahre vergegenwärtigen. Vor allem von rechts, darunter immer aggressiver von den nationalsozialistischen akademischen Sturmtruppen, wurden in sich steigerndem Maße Versuche unternommen, die Universitäten zum Schauplatz politischer Kämpfe zu machen. In dieser heiklen Lage übernahm Litt das Rektoramt seiner Universität und nützte die von ihm aus diesem Anlass zu haltende Rede zu einer Klarstellung. Wenn ich recht sehe, konstruiert Litt in der Rektoratsrede erstmals die beiden Sphären oder, wie wir heute vielleicht sagen würden, Systeme „Wissenschaft” einerseits und „Politik” andererseits. Beide Systeme müssen sich in ein Verhältnis zueinander setzen, und vor allem die Politik formuliert — verständlicherweise, das will Litt gar nicht bestreiten — Ansprüche an die Wissenschaft. Wie aber soll die Wissenschaft diesen Erwartungen begegnen?

Wie sich die Politiker seiner Zeit das Verhältnis der Wissenschaft zur Politik vorstellen, ist für Litt keine Frage. Ganz anders jedenfalls als das Platon, auf den Litt in diesem Zusammenhang immer wieder zurückkommt, für seine Akademie sah, die kraft ihrer überlegenen Kompetenz der Reform des „Athenerstaats” die Richtung gewiesen und den „empirischen Staat” (Litt) geradezu in ein Abhängigkeitsverhältnis gezwungen hat. Das aber ist nicht die aktuelle Situation. Die ist vielmehr so beschaffen, dass „der Inhalt der Entscheidung, der Ausfall der erwarteten und geforderten Parteinahme von vornherein, d. h. vor jeder Verlautbarung der Hochschule unverbrüchlich fest[steht]. Erwartet wird nicht nur, dass die Hochschule sich überhaupt irgendwie entscheide, sondern dass sie sich in einem bestimmten Sinne entscheide. Erwartet wird von ihr, dass sie für eine als selbstverständlich vorausgesetzte, im voraus festliegende Deutung des nationalen Schicksals die wissenschaftliche Begründung und Einzelausführung liefere, ja, dass sie einem bestimmten politischen Willen den theoretischen Unterbau zur Verfügung stelle” (Litt 1932, S.139).

Ein Verhältnis, das die Wissenschaft zur Legitimationsinstanz herabwürdigt, kann Litt jedoch nicht akzeptieren. Ließe sich die Wissenschaft solchermaßen instrumentalisieren, dann sagten sich ihre Einrichtungen, die Hochschulen, „von der Idee der Wissenschaftlichkeit los” (Litt 1932, S.141). Litt äußert sich hier sehr entschieden, spricht von der drohenden „Vernichtung” der Wissenschaften, von „Pseudowissenschaft”, „gesinnungsmässig gebundenen Hochschulen” usw. Nein: In Bezug auf die Politik muss die Wissenschaft autonom bleiben. Ob Litt die enge Verquickung von Philosophie und Staatskunst, wie er das beispielsweise für die griechische Antike als gegeben ansah, überhaupt — also selbst unter den in der Antike gegebenen Bedingungen — für wünschenswert gehalten hat, muss offen bleiben. Auf jeden Fall darf sich die Wissenschaft nicht verbiegen und zur Magd der Politik werden. Das schließt die politische Positionierung des Universitätslehrers nicht aus. Diese darf aber nicht — im wahrsten Sinne des Wortes — ,ex cathedra’ erfolgen.

Wenn ich an dieser Stelle einen knappen Exkurs einfügen darf: Einerseits der Universität einen Bildungsauftrag zuzusprechen, andererseits aber eine Grenzziehung gegenüber der Politik anzumahnen, das muss im praktischen Alltag Gratwanderungen provozieren. So hat Litt als Rektor der Universität Leipzig, wie Eva Matthes recherchiert hat, im Sommer 1932 eine Kundgebung der bereits nationalsozialistisch beherrschten Leipziger Studentenschaft gegen den Vertrag von Versailles in den Räumen der Universität zunächst genehmigt (vgl. Matthes 2009, S. 296f.). Das hätte Litt angesichts der Veranstalter und deren unbezweifelbaren politischen Absichten nicht tun dürfen, wäre er seinen eigenen Maximen treu geblieben. Eine der „akademischen Bildung” gewidmete Veranstaltung war da nicht geplant, das wusste auch Litt. Ebenso musste ihm klar sein, dass Räume der Universität nicht gewissermaßen als ,wissenschaftsfreie’ Zonen betrachtet werden können, selbst wenn sie im gegebenen Moment nicht der Wissenschaft dienen. Jede Veranstaltung politischen Charakters innerhalb der Universität musste zwangsläufig die vön Litt eingeforderte Distanz der Wissenschaft zur Politik zum Verschwinden bringen. Das schließlich doch noch ergangene Verbot der Versammlung erfolgte aus einem eher äußerlichen Grund, nämlich erst, als der Leipziger NS-Studentenführer die Einhaltung des per Erlass des zuständigen Ministeriums verfügten Uniformverbots nicht zusagen wollte. An der anschließend außerhalb der Universität durchgeführten Kundgebung hat Litt teilgenommen, weil deren Intentionen, wie er später schrieb, seinen eigenen politischen Ansichten entsprachen. Als Privatmann sozusagen, und damit wieder im Einklang mit seinen in der Rektoratsrede vorgetragenen Überzeugungen. Soweit dieser knappe Exkurs in den Alltag jener Jahre, die den Hintergrund auch der folgenden Ausführungen bilden.

Mehr noch als die Rektoratsrede von 1931 ist der bekannte Beitrag über Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staat von den Zeitumständen geprägt, jener Text, der 1933 auf einer Tagung hatte vorgetragen werden sollen, dann aber nicht hatte vorgetragen werden dürfen. Litt greift hier erneut die schon 1920 angesprochene und später immer wieder thematisierte dichotomische Struktur der Wissenschaften auf und legt — was an dieser Stelle wohl nicht im Einzelnen nachvollzogen werden muss — dar, dass und wie sich der in den Zeitgeist verwobene Geisteswissenschaftler vom Nationalsozialismus, jener, wie Litt schrieb, „spannende[n], erregende[n], wirkende[n] und fordemde[n] Gegenwart” (Litt 1934, Sl2), in ganz anderer Weise herausgefordert fühlen muss als „der Mathematiker, der Astronom, der Physiker, der Chemiker, der Botaniker, der Zoologe” (ebd., S.16). Aus dieser Prämisse ergibt sich, dass Litt seine folgenden Überlegungen ganz auf die Geisteswissenschaften fokussieren kann.

Unter explizitem Verweis auf seine 1931 entwickelte Position lehnt es Litt nach wie vor ab, „dass der Forscher sich seine Ergebnisse von einer außerhalb stehenden Instanz vorschreiben lasse” (Litt 1934, S.18). Um es aber noch einmal deutlich auszusprechen: Auf der Autonomie des Systems „Wissenschaft” zu bestehen, bedeutet nicht, die wissenschaftliche Klärung gesellschaftlich, insonderheit politisch virulenter Fragen abzuweisen. Im Gegenteil betont Litt in besagtem nicht gehaltenem Vortrag nachdrücklich, „welche Leistung die Wissenschaft vom Geist gerade in der leidenschaftlichen Bewegung unserer Zeit zu vollbringen hat”, und er besteht auf dem Recht und der Pflicht, aus wissenschaftlicher Sicht zu grundlegenden Aspekten der NS-Ideologie etwas zu sagen. Den diesbezüglichen Ansatzpunkt geisteswissenschaftlicher Forschung verdeutlicht Litt wie folgt: „Sie greift die großen Ideen, von denen die nationale Erhebung sich erfüllt und bewegt weiß, auf, nicht um sie als ein Fertiges und Endgültiges zu ‚untermauern’, sondern um sie in sich zu klären und vor den Trübungen, Vergröberungen und Missverständnissen zu schützen” (Litt 1934, S.26). Soweit also im Grundsatz nichts Neues. Wenn Litt allerdings postuliert, dem nationalsozialistischen Staat müsse alles daran gelegen sein, sich die Dienste einer solcherart ,aufgestellten’ Geisteswissenschaft und nicht die — um einen später von Litt geprägten Begriff zu benutzen — einer „Afterwissenschaft” zu sichern, er es zugleich aber am konkreten Fall des „Rassebegriffs” unternimmt, diesen von „Trübungen, Vergröberungen und Missverständnissen” zu reinigen, dann ist das schon ein Meisterstück subversiver akademischer Rede, die allerdings offenkundig nicht unbemerkt geblieben ist, denn sonst hätte der Vortrag ja gehalten werden können.

Die Frage, wie sich Wissenschaft und Universität der Politik gegenüber zu positionieren haben, hat Litt auch später immer wieder beschäftigt. Vor allem dann, wenn er sich, wie erstmals in den 30er Jahren, von einem totalitären, freiheitsberaubenden politischen System herausgefordert sah. Nach 1945 war dies der Kommunismus. So hat Litt es in dem im Jahre seines Todes erschienenen Buch Freiheit und Lebensordnung unternommen, die Wissenschaft in der „freien Welt” von der unter dem Regime des Kommunismus, jener „apokalyptischen Macht” (Litt), kontrastiv abzusetzen. In der kommunistischen Welt sah Litt die Wissenschaft, darunter besonders folgenreich die Geistes-und Sozialwissenschaften, ganz dem politischen Willen unterworfen, von der Politik fremdbestimmt und damit in dem von ihm schon in der Rektoratsrede vertretenen Sinne gar nicht mehr Wissenschaft, sondern „reglementierte Af-terwissenschaft” (Litt 1962, S.101). Litt findet hier sehr drastische Worte und formuliert sehr apodiktisch — ich habe es oben schon einmal kurz angedeutet.

Neben die Systeme „Wissenschaft” und „Politik”, dieser Dualismus ist bereits bekannt, stellt Litt nun als drittes System die „Wirtschaft”, was für die später von mir vorzunehmende Einschätzung der fortdauernden Aktualität Lifts relevant sein wird. Alle drei Systeme, sagt Litt, müssten sich in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit wechselseitig bestätigen. “Keine von ihnen kann in der ihr zustehenden Freiheit eine Minderung erfahren, ohne dass zugleich die Freiheiten der beiden anderen in Frage gestellt würden. Die Freiheiten haben nur Bestand, wenn und solange sie sich wechselseitig in der Schwebe halten” (Litt 1962, S.112). Dass dieses Gleichgewicht „labil” ist, dass alle drei Systeme dazu neigen, „ihren Herrschaftsbereich auf Kosten der Übrigen zu erweitern” (Litt 1962, S.113), das leugnet Litt nicht.

Ganz am Ende dieses Buches findet sich nun eine Passage, die, wie ich finde, die beiden von mir behandelten Aspekte in der Auseinandersetzung Litts mit Bildung, Wissenschaft und Universität zusammenführt und zugleich eine diesbezüglich mittlerweile gewandelte Einstellung Lifts dokumentiert. Es geht um das alte Thema: das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die früher geübte Zurückhaltung hat Litt jetzt ganz aufgegeben. Über mehrere Stationen des Umdenkens, die man bei Matthes nachlesen kann (vgl. Matthes 2009), gilt nun nicht allein eine „akademische Bildung” unter Einschluss —durchaus — politischer Urteilsfähigkeit, sondern nunmehr auch die engagierte Teilhabe der jungen Akademiker an Politik und gesellschaftlichem Leben als Bildungsziel von Gewicht. Wenn Litt die Unabhängigkeit der Wissenschaft und damit auch der Universität von politischen Direktiven und wirtschaftlichen Einflüssen beschwört, so will er damit nicht länger ein politisches Engagement abweisen, das unmittelbar der Beschäftigung mit Wissenschaft entspringt. Vielmehr scheint es mir ein wesentliches Charakteristikum der späten Arbeiten Litts zu sein, dass er es in diesen Arbeiten, anders als im Frühwerk, als eine Aufgabe der Universität — jenem „wache[n] Gewissen der Nation” — bezeichnet, „die ihrer Fürsorge anvertraute Generation zu verstehender Teilhabe am Leben des Ganzen fähig und” — das ist das entscheidende Stichwort — „willig zu machen” (Litt 1962, S.172). Nicht zufällig ist so aus dem ursprünglichen Bildungsauftrag der Universitäten nunmehr geradezu ein Erziehungsauftrag geworden. Und es kommt nicht von Ungefähr, dass Litt ‘ schon im Bildungsauftrag der deutschen Hochschule von 1952 nicht nur von den „bildnerischen Einwirkungen”, sondern geradezu von einer „erzieherischen Aufgabe” und einem „Erziehungsauftrag, den die wissenschaftliche Hochschule an der ihre Hörsäle füllenden Jugend auszuführen hat” (Litt 1952a, S.28), sprach. Wenn Rolf Bernhard Huschke-Rhein im Spätwerk Lins „nichts anderes als die konsequente Ausarbeitung der zuvor … getroffenen Basisentscheidungen” (Huschke-Rhein 1979, S.208) erkennt, möchte ich das für die hier verhandelte Problemstellung nicht uneingeschränkt bestätigen.

Ich fasse kurz zusammen. Die folgenden eng ineinander verwobenen Aspekte scheinen mir von Belang:
Wir haben gesehen, dass Litt einen Bildungsauftrag der Universitäten bejaht. “Akademische Bildung” im Sinne einer ganzheitlichen, nicht allein auf das Reflektieren abgestellten Menschenbildung. Hierzu konstruiert Litt wissenschaftsspezifisch differente Zugänge. Während die Geisteswissenschaften eher die erkenntniskritische materiale Seite repräsentieren, dominiert bei den Naturwissenschaften — das wäre dann eher die formale Seite des Bildungsvorgangs — die bildende Wirkung des streng methodischen Zuschnitts wissenschaftlichen Arbeitens. Dieser Bildungsauftrag wandelt sich nach anfänglicher diesbezüglicher Zurückhaltung im Frühwerk später zu einem Erziehungsauftrag. Erziehungsauftrag meint: Die Universitätslehrer und -lehrerinnen sollen nun das tun, was sie zuvor zu unterlassen aufgefordert waren, nämlich sich politisch positionieren und die ihnen anvertrauten Studierenden in entsprechender Weise beeinflussen, also, wenn man so will, zum gewünschten Verhalten hinführen. Gleichwohl gibt Litt den Gedanken, die Wissenschaft habe sich als autonomes System zu verstehen, das seine Außenbeziehungen zu den Systemen Politik und Wirtschaft frei gestaltet, bis ans Ende nicht auf. Wenn der Wissenschaft eine Rolle zuwächst, die darin besteht, andere zum Handeln zu veranlassen, dann soll sie diese Rolle in Autonomie wahrnehmen.

  1. Lifts Überlegungen im Kontext

Die Beschäftigung mit Litts Gedanken zu Wissenschaft und Universität lässt einem unvermeidlich den großen Vortrag Max Webers über Wissenschaft als Beruf in den Sinn kommen, 1917 vor der Münchener Freistudentenschaft gehalten, 1919 veröffentlicht. Webers Vortrag ist vor demselben zeitgeschichtlichen Hintergrund entstanden wie Litts Überlegungen zu Berufsstudium und Allgemeinbildung auf der Universität, mit denen Litt übrigens „der erste [war], der von den Pädagogen … auf Weber reagierte” (Pohle 2009, S.89). Aus der Gruppe der Pädagogen folgten später noch Eduard Spranger und einige andere pädagogisch interessierte Philosophen, vor allem solche aus der Schule des Neukantianismus.

Bei einem genauen Vergleich beider Vorträge lassen sich hinsichtlich Problemstellung und Argumentationsgang frappante Übereinstimmungen feststellen, die hier im Einzelnen allerdings nicht ausgeführt werden sollen. Immerhin so viel: Beide, Weber und Litt, haben sich mit dem Problem des Hochschulstudiums zwischen „Vollmenschentum” und Spezialistentum auseinandergesetzt und sind der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik nachgegangen.

Bei allem Gemeinsamen lassen sich aber auch die Unterschiede zwischen Weber und Litt nicht übersehen. Und diese Unterschiede sind letztlich gravierender als das Verbindende.

So hat Weber ein sehr nüchternes Verständnis vom Nutzen der wissenschaftlichen Lehre entwickelt. Diese habe auf den Kopf der Studierenden zu zielen, „Kenntnisse” zu vermitteln und darüber hinaus allenfalls noch die “Methoden des Denkens” (Weber 1995, S.37). Jede weitergehende Forderung an die Wissenschaft und an die Universitäten lehnt Weber ab, auch wenn die Studierenden da andere Erwartungen hegen mögen: „’Ja, aber wir kommen nun einmal in die Vorlesung, um etwas anderes zu erleben als nur Analyse und Tatsachenfeststellungen’, so Weber über die Hörer seiner Kollegs. Dem dürfe der Hochschullehrer aber nicht folgen, denn: „Der Irrtum ist der, dass sie in dem Professor etwas anderes suchen, als ihnen dort gegenübersteht, —einen Führer und nicht: einen Lehrer. Aber nur als Lehrer sind wir auf das Katheder gestellt” (ebd., S.35). Der Professor solle sich politisch positionieren, dies aber nicht im Rahmen seines akademischen Lehramts tun und vor allem soll er dem Studenten kein Vorbild geben wollen und kein Führer sein. Von der Wissenschaft mehr als Aufklärung zu verlangen, so etwas wie „akademische Bildung” etwa, lehnt Weber ab.

Zwar unterstützt Litt seinen Vorredner Weber in der Absicht einer Stärkung des vernünftigen Charakters aller Wissenschaft und betont auch die davon ausgehende bildende Wirkung. „Gegenüber der romantischen Schwarmgeis-terei … halten wir fest an der streng wissenschaftlich-methodischen Durchbildung, die einzig in der Arbeit an den Einzelproblemen des Fachs gewonnen werden kann” (Litt 1920, S.22). So Litt — und das „wir”, obschon an dieser Stelle so nicht gemeint, lässt, wenn man will, die in diesem Punkt zwischen ihm selbst und Weber bestehende Geistesverwandtschaft nach außen hin sichtbar werden. Auch einer Führerrolle der Hochschullehrer begegnet der Litt dieser Jahre, wie Weber, mit Ablehnung. Wenig später, 1926 auf dem Pädagogischen Kongress zu Weimar, wird Litt zwar „die Sehnsucht einer Jugend, die geführt zu werden, heute wie noch nie Verlangen trägt” (Litt 1931, S.7), bestätigen, an seiner Position aber insofern festhalten, als er erneut eine Führungsrolle des Pädagogen zurückweist (wobei hier allgemein e. vom „Pädagogen”, nicht explizit vom Hochschullehrer die Rede ist). Allerdings: Wenn auch aus der Universität keine „Art von staatlichem Seelsorge-institut” (Litt 1920, S.40) werden darf, wäre es doch ebenso falsch, meint Litt, sollte die Universität „jede über ein rein fachwissenschaftliches Streben hinausgehende Wegbereitung unterbinden. Da die Universität die Möglichkeit hat, ohne jede Preisgabe ihres wissenschaftlichen Charakters auf eine das Lebensganze umfassende, die Lebensantriebe sichernde und klärende Theorie hinzuarbeiten, warum sollte sie trotzdem einem aus den Tiefen des Zeitbewusstseins aufsteigenden Bedürfnis diese Erfüllung versagen?” (ebd.) Da reichen Lifts Vorstellungen also deutlich über die Webers hinaus: Neben Fachbildung und Klarheit im Denken will Litt „akademische Bildung”. Es sind tiefer liegende Differenzen im Wissenschaftsverständnis, die Weber und Litt hier getrennte Wege gehen lassen. Selbst wenn er ihren rationalen Charakter betont, so kompromisslos möchte Litt die Aufgabe der Wissenschaft denn doch nicht auf die Verstandesschulung reduzieren wie Weber das tut.

Weil sich aus Webers Wissenschaftsverständnis — anders als bei Litt — auch die letzten Reste Metaphysik verabschiedet haben, kann Weber nirgend so unbefangen von der „wissenschaftlichen Wahrheit” sprechen, wie dies Litt durchgängig von seiner Rektoratsrede an (vgl. Litt 1932, S.147) bis hin zu seinem Buch Freiheit und Lebensordnung — immerhin 1962 — tut, in welch letzterem er als ein unaufgebbares Erbe der klassischen Universitätsidee „die Idee einer Wissenschaft” feiert, „durch die der Mensch dem Wahn entrückt und zur Wahrheit erhoben werde” (Litt 1962, S.81). Weber dagegen erinnert lieber an jenen Höhlenbewohner aus Platons Höhlengleichnis, der den Seinen die Botschaft vom Licht, von der Sonne bringt. Weber: „Er ist der Philosoph, die Sonne aber ist die Wahrheit der Wissenschaft, die allein nicht nach Scheingebilden und Schatten hascht, sondern nach dem wahren Sein” (Weber 1995, S.21). Weber fährt dann aber fort: „Ja, wer steht heute so zur Wissenschaft?” (ebd.). Wissenschaft heute, konstatiert Weber nüchtern, das ist ein Geschäft, das die Frage nach dem „wahren Sein”, der „wahren Kunst”, dem „wahren Gott”, dem „wahren Glück” usw. (Weber 1995, S.25) nicht mehr stellt, sondern sich voraussetzungslos dem Gegebenen widmet, das es zu verstehen gilt. Da steht Weber den zeitgenössischen Positivisten durchaus nahe, wie er wiederum zur Abwehr aller weiter gehenden Ansprüche an die Wissenschaft den Wissenschaftsskeptiker Nietzsche zitiert. Sinn- und Wertfragen liegen außerhalb der Zuständigkeit der Wissenschaft. Die Wertfrage zu stellen, sei nämlich „prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlösbarem Kampf untereinander stehen” (ebd., S.32), und die Wissenschaft bloß in diesen aussichtslosen Kampf hineingezogen würde. Das normative Moment, das dem Litt’schen Nachdenken über Wissenschaft von Anfang eigen ist und das spätere offensive Bekenntnis zum (politischen) Handeln des Hochschullehrers möglich werden lässt, fehlt bei Weber. Folglich will Weber praktisches Handeln, das ja immer eine Wertentscheidung impliziert, und theoretisches Erkennen streng getrennt halten. Eine Position, die Weber schon im berühmten Werturteilsstreit vertreten hatte, und an der er nach wie vor festhält. Wie sich der bereits 1920 verstorbene Max Weber im Durchgang durch die Erfahrung des Nationalsozialismus und des totalitären Kommunismus diesbezüglich positioniert hätte, muss natürlich offen bleiben.

  1. Schluss: Sind Theodor Litts Forderungen an die Universität und ihre Wissenschaften noch aktuell?

Wenn ich vorhin Litts Forderungen an die Universität und ihre Wissenschaften als auf anregende Weise anachronistisch bezeichnet habe, dann bezog sich das auf Litts Plädoyer für den Bildungsauftrag der Universität. Diese Forderung, die gerade von Hochschulpädagogen, für die dieser erzieherische Impetus Teil ihrer beruflichen Identität sein müsste, kaum bestritten werden dürfte, muss freilich, das ist meine These, ganz grundsätzlich problematisiert werden. Denn sind die Voraussetzungen eines solchen Bildungsauftrags überhaupt noch gegeben?
Was Litt in den von mir herangezogenen Beiträgen entwirft, ist ein Konzept von Wissenschaft und damit auch ein Konzept derjenigen Stätte, die als der bevorzugte Ort der Wissenschaften gilt, der Universität, wie es paradigmatisch Wilhelm von Humboldts Universitätsidee entspricht, einer Universität, die — in „Einsamkeit und Freiheit” — im bildenden Umgang mit Wissenschaft ihren Daseinszweck (an)erkennt. Zweck des Universitätsstudiums ist es nicht, schrieb Humboldt, den jungen Menschen für irgendeinen Brotberuf brauchbar zu machen, sondern allein, „die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten”, „die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung … zu verknüpfen” (Humboldt 1982, S.255).

Als Humboldt das Konzept einer solchen Universität vor 200 Jahren ausgearbeitet hat, konnte er nicht ahnen, dass es am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht allein die Politik sein würde, von der er damals seine Universitätsidee bedroht sah. Im Gegenteil: Im Zuge einer neoliberalen Wende will die Politik die Universität ja geradezu loswerden. Und zwar los werden an jenes dritte der von Litt genannten Systeme, das folgerichtig gegenwärtig die Universität belagert wie kaum zuvor: die Wirtschaft, die Ökonomie. Der eingangs meiner Überlegungen erwähnte so genannte Bologna-Prozess, der zurzeit unsere Hochschullandschaft umpflügt, scheint mir die von Humboldt wie später von Litt beschworene Bildungsidee der Universität obsolet werden zu lassen. Und zwar nicht, weil hier ein anderes als das traditionelle Organisationsschema, in das die Lehre gepresst wird, gefunden wurde. Ob nun ein- oder zweistufig, ob Master oder Diplom, das ist nicht das Entscheidende. Es ist vielmehr der Geist, in dem diese Neupositionierung der Universitäten erfolgt. Die Universitäten werden überschwemmt von Schlagwörtern, die allesamt der ökonomischen Sphäre entstammen. Ich nenne nur einige: Zielvereinbarung, Output-orientierung, Controlling, Qualitätsmanagement, Benchmarking usw. Einer der schärfsten und wie ich finde profundesten Kritiker dieser Entwicklung, der Bamberger Soziologe Richard Münch, spricht vom „Wandel des deutschen Universitätssystems unter dem Regime des sich global ausbreitenden akademischen Kapitalismus” (Münch 2009, S.28).

Münch geht davon aus, dass die klassische deutsche Universität, wie sie in Humboldts Berliner Universitätskonzept ihren Ausdruck und in Theodor Litt einen überzeugten Fürsprecher gefunden hat, dem Bildungs-Gedanken verpflichtet gewesen ist. Zwar haben wir am Beispiel Max Webers gesehen, dass dieses Paradigma auch früher schon keineswegs uneingeschränkt geteilt worden ist. Immer aber hat Weber auf der Freiheit der Wissenschaft bestanden, sie und ihre Vertreter, die Hochschullehrer, vor der Indienstnahme für andere Zwecke als solchen der Wissenschaft bewahren wollen. Heute dagegen werden alle klassischen Vorstellungen von Wissenschaft und Universität mehr und mehr von einem ökonomischen Leitbild verdrängt. In diesem neuen Leitbild ist der Mensch allein noch als Humankapital gefragt. Eingebettet ist diese Sichtweise nicht mehr in ein kulturelles, sondern in ein technokratisches Konstrukt von Gesellschaft, das diese als Wissensgesellschaft versteht, in der dem Hochschullehrer die Aufgabe zukommt, dieses Humankapital durch die Vermittlung von Grundkompetenzen, Schlüsselqualifikationen oder was der Begriffe mehr sein mögen, zu entwickeln, um es einer wissensbasierten Ökonomie zuzuführen. So wie auch andere nationale Besonderheiten im Zuge dieses transnationalen Assimilationsprozesses in die globale Matrix ökonomischen Denkens eingeschmolzen werden, verschwindet auch die auf „akademischer Bildung” basierende Universitätsidee in der Asservatenkammer der Geschichte.
Die etwas bittere Pointe ist nun die, dass bis heute — auch darauf hat Richard Münch hingewiesen — die Überlegenheit des neuen über das alte Paradigma völlig unbewiesen ist. Durch nichts ist die Leistungsfähigkeit der alten Universität hinsichtlich kultureller Dynamik, wirtschaftlichem Wachstum und demokratischer Partizipation widerlegt. Man kann es auch so sagen: Den bekannten Leistungen der alten Universität (wie unzureichend diese auch immer gewesen sein mögen) stehen bislang nur Hoffnungen auf bessere Leistungen der neuen Universität gegenüber.

Lifts Forderungen an die Universität und ihre Wissenschaften sind nun insofern anachronistisch, als sie mit dem neuen universitären Paradigma nicht konform gehen, also, wenn man so will, überholt sind. Sie sind aber auch insofern anachronistisch — gegen die Zeit gerichtet — als sie an eine stets mögliche Alternative erinnern. Akzeptiert man die Gegenwartsanalyse, wie ich sie eben vorgetragen habe, dann allerdings wäre Lifts Position ein Stachel im Fleisch der Hochschulreform und damit aktueller denn je.

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