Das Wirken Theodor Litts in Leipzig zwischen 1920 und 194733 min read

Theodor Litt — Eduard Spranger.
Philosophie und Pädagogik
in der geisteswissenschaftlichen Tradition
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2009

PETER GUTJAHR-LÖSER
Das Wirken Theodor Litts in Leipzig zwischen 1920 und 1947

Litt zum Jubiläum der Universität Leipzig im Jahr 1959

Eva Matthes, Professorin für Pädagogik an der Universität Augsburg, schließt ihre Würdigung Theodor Litts, die in den von der Sächsischen Akademie der Wissenschaft herausgegebenen „Sächsischen Lebensbildem” erschienen ist, mit einem Zitat aus dessen Beitrag zur 550-Jahrfeier der Universität Leipzig in der in Frankfurt a. M. erscheinenden Ausgabe der „Leipziger Neuesten Nachrichten — Mitteldeutsche Rundschau” aus dem Jahr 1959:
„Für den Bürger der Stadt war das Haus am Augustusplatz seine Universität. Das rege geistige Leben der Stadt führte die Universitätslehrer mit den leitenden Persönlichkeiten von Verwaltung, Rechtsprechung, Kunst, Wirtschaftsleben wieder und wieder zusammen. Es genügt, die Namen ,Reichsgericht’, Gewandhaus’„Buchhändlerhaus’ zu nennen, um sich diese Symbiose zu vergegenwärtigen. … Es muss genügen, diese wenigen Züge anzudeuten, die der Universität Leipzig ihre charakteristische Physiognomie verliehen. Wer ihr in ihren guten Zeiten als Lehrender oder Lernender angehört hat, wird keine Mühe haben, sie zum Konterfei des Ganzen zu vervollständigen. Und diese Treue des Gedenkens — sie ist die einzige Gabe, die wir der Jubilarin darbringen können. Mit ihr verbindet sich die nicht zu unterdrückende Hoffnung, dass die Universität Leipzig doch wieder einmal das sein werde, was zu sein ihre Bestimmung ist: eine hohe Schule des Geistes, die das ganze deutsche Volk als die seinige anerkennt, weil sie nicht als Filiale eines auswärtigen Systems verwaltet wird und nicht die wissenschaftliche Wahrheit durch die Weisungen dieses Systems ersetzt, sondern in echter Freiheit des Geistes einzig ihrem Auftrage dient.”
Eva Matthes beschließt dies Zitat mit den Sätzen: „Die ,Treue des Gedenkens’ liegt heute — nach der Wiedererlangung der deutschen Einheit — auf Seiten der Leipziger Universität. Die an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät eingerichtete Theodor-Litt-Forschungsstelle zeigt, dass sich die Universität dieser Aufgabe stellt.”

Das Theodor-Litt-Archiv und die Theodor-Litt-Forschungsstelle

Die Errichtung des Theodor-Litt-Archivs im Jahr 1997 hat dazu geführt, dass das Wirken dieses Gelehrten in Leipzig zwischen 1920 und 1947 bereits in einer Vielzahl von Veröffentlichungen behandelt werden konnte. Denn die Erschließung des wissenschaftlichen Nachlasses Theodor Litts durch das Universitätsarchiv hat den Zugang zu Leben und Werk dieses großen Pädagogen und für unser Land wichtigen Philosophen wesentlich erleichtert.
Das lässt sich an dem Problemkreis „Litt und der Nationalsozialismus” besonders gut illustrieren. Zwar war allgemein bekannt, dass Litt ein überzeugter Gegner der Nazis war. Seine Auseinandersetzungen mit dem NS-Studentenbund an der Universität Leipzig, die Behinderungen seiner Vortragstätigkeit, die im Jahr 1936 zu seinem Antrag auf vorzeitige Emeritierung geführt hatten, sowie seine Publikation „Der deutsche Geist und das Christentum”, in dem Litt sich als einer von ganz wenigen, die sich auf diese Publikation kritisch einließen, im Jahr 1938 mit der ideologischen Hauptschrift der Nationalsozialisten, Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts” kritisch auseinandergesetzt hatte, sollten es eigentlich verhindert haben, ihn in die Nähe des NS-Regimes zu rücken. Trotzdem musste Friedhelm Nicolin bei dem Symposion aus Anlass des 100. Geburtstages Litts im Dezember 1980 erhebliche Mühe auf den Nachweis verwenden, dass es sich bei der von Bernd Weber behaupteten Unterschrift Litts unter eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler, die angeblich die Unterschrift von 650 Professoren trug, um eine Fälschung handelte. Nach der Erschließung des Nachlasses Litts und den sich darauf stützenden Forschungen steht die Unhaltbarkeit von Anschuldigungen einer angeblichen Nähe Lifts sowie seine entschiedene und mutige Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten zweifelsfrei fest. Für die Behauptung, Litt habe die Ergebenheitsadresse an Hitler unterschrieben, gibt es außer der wie auch immer zustande gekommenen Liste nicht nur keinen einzigen Beleg; ihm stehen vor allem auch die völlig eindeutigen Aussagen Litts entgegen, der es mehrfach und sehr dezidiert abgelehnt hat, sich an derartigen Unterschriftsaktionen zu beteiligen.
Welche Rolle die Existenz der Litt-Forschungsstelle seit ihrer Gründung vor 12 Jahren für die Aktualisierung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik gespielt hat, lässt sich am besten an den Arbeiten ablesen, die sich in den Theodor-Litt-Jahrbüchern niedergeschlagen haben. Unter den 46 Autoren, die in einigen Fällen mehrfach zu Wort kamen, sind neben den Herausgebern und einigen Nachwuchswissenschaftlern so bekannte Namen wie Kurt Au-rin, Helmut Goerlich, Wolfgang Klafki, Jörg Knoll, Rudolf Lassahn, Eva Matthes, Werner J. Patzelt und Gerald Wiemers. Dazu kommen auch ausländische Pädagogen, wie Aida Krüzel und Zanda Rubene von der Universität Riga in Lettland und die beiden Japaner Kohtaro Kamizono16 und Michio Ogasawara17. Außerdem treten immer wieder neue Namen hinzu, wie im vorliegenden Band Erich E. Geissler, der als später Nachfolger Litts auf dem Bonner Lehrstuhl nach dem Neubeginn in den neunziger Jahren als Gründungsdekan der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig gewirkt hat.
Auch an anderen Publikationsorten sind die Möglichkeiten, die das Theodor-Litt-Archiv und die Theodor-Litt-Forschungsstelle eröffnet haben, nicht ohne Auswirkungen geblieben. Dass der von der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Universität Leipzig alljährlich vergebene Preis für besondere Leistungen in der Lehre seit dem Jahr 2003 den Namen des engagierten Hochschullehrers und begnadeten Vortragenden, tiefschürfenden Erforschers der Grundfragen staatlicher Gemeinschaften und pädagogischen Tuns trägt, der sich darüber hinaus durch sein mutiges und unmissverständliches Verhalten in zwei Diktaturen als unbeugsamer Demokrat bewährt hat, ist ebenfalls eine Folge davon, dass er durch das ihm gewidmete Archiv und die an sein Wirken erinnernde Forschungsstelle dem Vergessen entrissen wurde.

Litts Berufung nach Leipzig

Litt, der im Jahr 1880 geboren wurde, war erst ein Jahr vor seinem Amtsantritt in Leipzig zum a. o. Professor an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn bestellt worden. Er war für Leipzig nicht die erste Wahl. Denn die Universität wollte als Nachfolger für den nach Berlin gewechselten Eduard Spranger eigentlich den seinerzeit auf der Höhe seines Ansehens stehenden, aber inzwischen bereits 66 Jahre alten Mitbegründer der Arbeits-schulbewegung, den Münchener Stadtschulrat und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität, Georg Kerschensteiner, gewinnen. Der aber lehnte nach relativ langer Überlegungszeit ab. Die Gründe hierfür legte er in einem vierseitigen handschriftlichen Brief dar, der sich bei den Berufungsakten Litts im Archiv der Universität Leipzig befindet, in dem aber auf den in der Öffentlichkeit diskutierten angeblich wahren Ablehnungsgrund nicht eingegangen wird. Dieser besagte, dass Kerschensteiner ein persönlich ausgesprochen gespanntes Verhältnis zu dem damaligen Haupt der Leipziger Arbeitsschulbewegung, Hugo Gaudig, hatte, der nicht nur unter den Leipziger Pädagogen, sondern auch an der Stadtspitze so großes Ansehen genoss, dass er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Rektor einer großen Schule fungieren konnte, für die die Stadt in dem vornehmen Vorort Gohlis ein repräsentatives Gebäude errichtet hatte, und die nach seinem Tod im Jahr 1923 nach ihm benannte wurde.
Litt war bis dahin vor allem durch Publikationen zum Geschichts- und Sprachunterricht hervorgetreten. Eva Matthes hat im Jahr 2003 seinen Zugang zu den Grundfragen der Pädagogik beschrieben: Bei einer vom Preußischen Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten im Mai 1917 veranstalteten Pädagogischen Konferenz entwickelte er die Forderung nach Ausarbeitung einer Kulturpädagogik.2° Der Staatssekretär und spätere preußische Kultusminister, Carl Heinrich Becker, berief Litt nach diesem Auftritt in das Ministerium, wo er an der Ausarbeitung von Lehrplänen für die Gymnasien mitwirkte. Der Aufgabe der Entwicklung einer allgemeinen Kulturpädagogik unterzog sich Litt sogleich selbst. Dieses Bemühen hat sich in seiner Veröffentlichung „Eine Neugestaltung der Pädagogik” im Deutschen Philologenblatt im Jahr 1918 niedergeschlagen.

Lifts Auffassungen über die Pädagogik als wissenschaftliches Fach

Als Litt am 1. Oktober 1920 die Professur für Philosophie und Pädagogik übernahm, war er der Meinung, dass die pädagogische Wissenschaft noch in ihren Anfängen stecke, denn es fehle ihr bisher an einer, der wissenschaftlichen Betrachtung standhaltenden Formulierung ihrer Aufgaben. Es müsse daher zunächst an deren Begründung und der Herausarbeitung ihrer Methoden gearbeitet werden, um ihr einen „eigenen wissenschaftlichen Charakter” zu geben. Um diesem Ziel näher zu kommen, ging Litt sofort daran, systematisch philosophische Grundeinsichten dafür zu erschließen. Er entwickelte den Aufbau einer Philosophie des Geistes und in Abwehr deszendenz-theoretischer Theorien eine autonome geisteswissenschaftlich fundierte An-thropologie. Diese Zielrichtung veranlasste ihn außerdem, sich intensiv mit der Wissenschaftstheorie zu beschäftigen. Er hat aber „nie eine Allgemeine oder systematische Pädagogik geschrieben, auch keine Bildungstheorie oder Allgemeine Didaktik; seine Hauptwerke befassen sich alle mit systematischen philosophischen Problemen”. Rudolf Lassahn fasst Lifts Auffassung zur Aufgabe und zum Verhältnis von Philosophie und Pädagogik so zusammen: „Gestalten und umschaffen ist eine genuin pädagogische Aufgabe. Platons Pädagogik steht nicht zufällig in seiner Staatslehre. Hier sind Philosophie und Pädagogik im Grunde verbunden. Der Mensch, das Leben, Geschichte, Handeln und Denken des Menschen in der Welt — in diesem ,Gegenstand’ finden Philosophie und Pädagogik ihre gemeinsame Wurzel. Beide Disziplinen sind nicht methodisch verbunden, es handelt sich um kein Theorie-Praxis-Verhältnis, um kein Verhältnis eines Mittel-Zweck-Denkens, in dem die Philosophie die Theorie zu liefern hätte und die Pädagogik als praktische Wissenschaft diese umsetzt. Philosophie und Pädagogik haben eine gemeinsame Wurzel in der elementaren Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt und sich selbst, sie reicht anthropologisch in den elementaren Lebensbereich von Individuum, Gesellschaft und Geschichte. Es geht um eine wissenschaftstheoretische Reflexion über diesen gemeinsamen Gegenstandsbereich, alle übrigen Geisteswissenschaften und selbst die Naturwissenschaften bleiben dieser Grundstruktur verhaftet.”
Das nun traf” auf einen bereiten Boden und einen inzwischen ansehnlichen Kreis von auf Wilhelm Dilthey fußenden Vertretern der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik”, für die die Namen Herman Nohl, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner, Aloys Fischer und eben auch Theodor Litt stehen und die die herrschende pädagogische Richtung in der Weimarer Republik wurde. Wegen ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus verlor diese Bewegung zwar bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs allen Einfluss, konnte aber danach erneut Boden gewinnen. Angesichts der um 1960 verstärkt einsetzenden natur- und psychologie-wissenschaftlichen Einflüsse auf das Bildungswesen, der soziologischen Empirieorientierung und der Entstehung einer neomarxistischen Richtung im Westen Deutschlands geriet die Geisteswissenschaftliche Pädagogik aber zunehmend ins Abseits. Werner Esser beschreibt den in der alten Bundesrepublik lange bestehenden Zustand so: „Was der Soziologe an vermeintlich Objektivem erheben kann, kann der Psychologe an Subjektivem womöglich beschreiben. Wenn beide sich über das Zusammenspiel dieser Momente auf ‚Fortschritt’ oder ,Entwicklung’ hin verständigen können, dann sitzt der, der sich um Fragen der Bildung kümmert, der Pädagoge, als ,armer Verwandter’ bekümmert bei ihnen am Tisch. Ihm bleiben die Abfälle, ihm bleibt der Geschmack des Unwissenschaftlichen, Unquantifizierbaren, Spekulativen, weil Bildung immer auf eine unbekannte Zukunft zielen muss.” — Am Ende des zitierten Aufsatzes aus dem Jahr 2007, in dem Esser die Feststellung Martin Greifenhagens referiert, dass von der Qualität schulischer, beruflicher und universitärer Ausbildung und der Förderung von Forschung und Wissenschaft nicht nur die kollektive Versorgung der Bevölkerung, sondern ebenso das Schicksal der politischen Kultur abhänge, wobei es dabei nicht nur um individuelle Wissensbestände, sondern um ein neues Verständnis der Bedeutung kollektiven Wissens gehe, resümiert Esser wörtlich: „Dann schließt sich der Kreis, der wieder bei dem — in Zukunft vielleicht nicht mehr ganz so ,armen Verwandten’ des Soziologen und Psychologen —angelangt ist, bei dem, der nichts anderes als die Überzeugungskraft seiner spekulativen Gedankengänge besitzt, der mithin selber ganz auf die Kraft des Diskurses setzen muss, kurz: bei dem, der sich mit Bildungsfragen auseinanderzusetzen hat.” — Das aber rechtfertigt die Erwartung, dass die bleibenden Erkenntnisse der genannten Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in unserer Zeit fortgeschrieben werden können. (Dass mit dem Theodor-Litt-Archiv, der Theodor-Litt-Forschungsstelle und dem Theodor-Litt-Jahrbuch für diese Renaissance und Aktualisierung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik inzwischen exzellente Arbeitsmöglichkeiten bereitstehen, soll nur am Rande nochmals angemerkt werden.)

Litts Methode

Um die Entwicklung der Erkenntnisse Litts verstehen und nachvollziehen zu können, bedarf es eines Eingehens auf die Methode der Entwicklung seiner Gedanken. Das ist deshalb nicht einfach, weil er sich selbst zwar dazu geäußert hat, seine Auffassungen aber von rigoroser Strenge und in hohem Maße abstrakt formuliert sind. Da ihn in jüngeren Jahren vor allem das Verhältnis von Sprache, Sprachentwicklung und Geschichte beschäftigt hatte, gehen seine Bemühungen um den Bildungsbegriff und seine Forderung nach der Entwicklung einer Kulturpädagogik von den Phänomenen der Sprachentstehung aus. Aus den bei Martin Buber vorgezeichneten Beziehungen zwischen dem „Ich” und dem „Du” gelangt Litt zu seinen Aussagen über das dialektische Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Dabei lehnt er die von den Neukantianem vertretene geltungstheoretische Begründung der Geisteswissenschaften und Versuche einer philosophischen Begründung politischer Grundentscheidungen ebenso ab, wie die auf den Solipsismus hinauslaufende prinzipielle Leugnung der Möglichkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. Laufen die Aussagen der Neukantianer darauf hinaus, dass eine naturrechtliche Begründung ethisch zu bejahender menschlicher Beziehungen möglich und daher auch die Legitimität der Ausübung staatlicher Gewalt vernunftgemäß zu begründen sei, so bedeutet dieser Verzicht auf einen archimedischen Punkt der „letzten” Begründung des Geltungsanspruchs staatlicher Machtausübung nach Litts Ansicht keineswegs, dass den Geisteswissenschaften generalisierbare Erkenntnisse mit Geltungsanspruch nicht möglich seien. Für die Gewinnung einer theoretischen Letztbegründung der zentralen Sollenssätze der Pädagogik hängt aber von ihrem Geltungsanspruch alles ab. Ausgehend vom Fehlen einer übergeordneten Schiedsrichterinstanz und von der statt dessen herrschenden Dialektik des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft entwickelte er seinen — wie bereits gesagt — auf kulturphilosophischen und anthropologischen Erkenntnissen beruhenden Ansatz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Dieser habe zwar seinen Ausgangspunkt in der Reformpädagogik des beginnenden 20. Jahrhunderts. Litt stand ihm aber — wie sich auf dem Weimarer Pädagogenkongress von 1926 zeigte — skeptisch gegen, weil ihm nach seiner Meinung die erkenntnistheoretische Durchdringung fehlte.
Um dieses Manko zu beheben, entwickelte Litt den aus der Geschichte der Philosophie bekannten Gedanken der „Reflexion über die Reflexion” weiter. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass sich der über sein Reflektieren Reflektierende dadurch selbst verändert, während es bei Reflexionen über die außermenschliche Natur zu keinem Eingriff in deren Substanz kommt. Hierin sieht Litt den prinzipiellen. Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften — einen Unterschied, der ihn zu der Erkenntnis führt, dass die (Selbst-) Gestaltung des Menschen eine ihm auferlegte ständige Aufgabe ist, der er sich nicht entziehen kann, weshalb Bildung und Erziehung notwendige Faktoren der humanen Existenz darstellen.

Die Wirkung von Lifts Integrationslehre außerhalb der Pädagogik

Seine unter den Methodenfragen angesprochene, vor seiner Leipziger Zeit bereits begonnene Beschäftigung mit dem Verhältnis von „Individuum und Gemeinschaft” und deren gründliche Überarbeitung im Rahmen der drei sehr verschiedenen Auflagen des Buches mit diesem Titel31, hat weit über das Gebiet der Pädagogik hinaus Bedeutung gewonnen. Die Geschichte der Staats-rechtslehre, für die allein wegen der Monopolisierung und Konzentration der Machtausübung beim Staat die Frage der Gewinnung sicherer Fundamente für die staatliche Ordnung zentral ist, durchzieht die Suche nach einer Lösung dieser Geltungsproblematik. Versucht man das von Litt gezeichnete Bild des Staates zusammenzufassen, „so bleibt für die heutige Zeit fruchtbar die Beschreibung des Staates als etwas zu Schaffendes, als einen geistigen Prozeß der Einigung und Willensbildung”. Litts Lösungsvorschlag, der in der Staatsrechtslehre unter dem Stichwort „Integrationslehre” weiterlebt, wurde von Hermann Heller und Rudolf Smend als Fundament in ihre Staatsrechts-lehren übernommen. Heller war es nicht vergönnt, dass seine Staatslehre sich im politischen Raum hätte entfalten können. Er musste sich 1933 vor den Nationalsozialisten durch die Emigration in Sicherheit bringen und ist noch im selben Jahr verstorben. Teile seiner Werke waren zwar in den zwanziger Jahren in Deutschland publiziert worden, für die allgemeine wissenschaftliche Beschäftigung standen sie aber erst beginnend mit dem Jahr 1961 zur Verfügung, als seine nachgelassene Staatslehre publiziert wurde. Rudolf Smend aber hat Lifts Integrationslehre in die politische und verfassungsrechtliche Wirklichkeit „hindurchgetragen”: er war der Vater des Herrenchiemseer Entwurfs des Verfassungstextes, der nach seiner Überarbeitung durch den Parlamentarischen Rat als Bonner Grundgesetz die Grundlage zunächst der westdeutschen und seit dem Jahr 1990 der gesamtdeutschen Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Smend und damit indirekt Litt haben auf diese Weise zum überwältigenden Erfolg des demokratischen Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich beigetragen. In der zeitgeschichtlichen Forschung und in der auf sie aufbauenden politischen Bildung der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es den gängigen Satz „Bonn ist nicht Weimar”. Damit sollte die Wertbindung des Bonner Grundgesetzes von 1949 dem Relativismus der Reichsverfassung von 1919 gegenübergestellt werden. Angesichts der Grundlegung der geltenden Verfassung, die auf der Integrationslehre Theodor Litts beruht, kann man den zitierten Satz heute mit der Formulierung vervollständigen: „Bonn ist nicht Weimar — aber auch und vor allem Leipzig.”

Die Klärung der Aufgaben des Erziehers durch Litt

Es ist vielfach berichtet worden, dass Litts Vortrag bei dem Weimarer Pädagogenkongress von 1926 sowohl auf Zustimmung als auch auf heftige Kritik gestoßen ist. Bekannt ist auch, dass Litt daraufhin sein epochemachendes, 1926 in erster Auflage erschienenes Buch „Führen oder Wachsenlassen” verfasst hat, das bis zum Jahr 1967 dreizehn Auflagen erlebt hat, und seither auch in einigen Reprints und längeren Auszügen auf dem Buchmarkt verfügbar ist. Es gehört nach wie vor zum Grundbestand des Kanons der Erziehungswissenschaft.
Dieses Werk — wie alle späteren Untersuchungen zu pädagogischen Fragen und alle öffentlichen Reden Litts — ist Bestandteil seines engagierten Programms, eine Pädagogik der Freiheit zu formulieren. Litt verlangt vom Erzieher, dass er seine pädagogischen Aufgaben nicht als Mittel zur Durchsetzung eigener Vorstellungen einer ihm als wünschenswert erscheinenden Gestaltung der menschlichen Verhältnisse auffasst, sondern uneigennützig hinter das Recht der zu Erziehenden auf Selbstbestimmung zurücktritt. Dies ist der Imperativ einer Pädagogik der Freiheit, die auf das Engste mit einer freiheitlichen Staatsordnung verbunden ist.
(Es verwundert nicht, dass Litt mit solchen Auffassungen die Gegnerschaft der Nationalsozialisten herausforderte. Merkwürdigerweise haben es die damaligen Machthaber aber unterlassen, gegen solche Auffassungen ausdrücklich zu argumentieren. Die Repressalien, denen Litt ausgesetzt war, hingen vor allem mit seinen öffentlichen Auftritten und mit seinem entschiedenen Eintreten gegen die gewaltsamen Übergriffe des Nationalsozialistischen. Studentenbundes gegen die Lehrfreiheit zusammen. Dass sie sich an das Gedankengebäude Litts nicht heranwagten, ja dass sie sogar dessen Fundamentalkritik an der ideologischen Kampfschrift Alfred Rosenbergs ohne unmittelbare Sanktionen, zu denen sie ja jederzeit in der Lage gewesen wären, schweigend hinnahmen, hängt sicher mit dem Gefühl ihrer geistigen Unterlegenheit zusammen.)
Dass aber das pädagogischen Tun altruistisch zu sein hat, wenn es den Namen „Erziehung” zu Recht tragen will, muss sich vor allem der Lehrer klar machen. Deshalb ist es unverzichtbar, dass er sich im Rahmen seiner Ausbildung systematisch mit der pädagogischen Theorie auseinandersetzt. Litt hat seine Auffassungen dazu im Jahr 1946 bei einer pädagogischen Konferenz für die damalige Sowjetische Besatzungszone formuliert. Der Vortrag wurde zunächst in der Zeitschrift „Pädagogik” abgedruckt. Später hat Litt ihn in die Neuauflagen von „Führen oder Wachsenlassen” aufgenommen. Er erneuert darin seine Aussage, der Erzieher habe im Verhältnis zum Zögling Zurückhaltung zu üben, da sich beide in einem prinzipiellen Verhältnis der Gleichberechtigung gegenüberstehen: Denn Erziehung „ist sie nur dann …, als was sie mit ihrem Namen bezeichnet wird, wenn sie dem Mitmenschen um seiner selbst willen dient … Dass die Erziehung an dem Verhältnis der unbedingten Gegenseitigkeit ihre Grundlage hat, das bleibt auch dann bestehen, wenn die eine Seite an Alter, Erfahrung, Gewicht, Wissen und Können hinter der anderen weit zurückbleibt.” Da der zu Erziehende auf diese Art des Umganges auch und gerade gegenüber dem überpersonalen Ganzen einen Anspruch habe — “heiße es nun Volk, Staat oder Gesellschaft” — stehe dem Erzieher „relative Autonomie” zu. Er müsse den „geschichtlichen Standort seines Geschlechts als solchen sehen können, weil er gerade nicht der geschichtlichen Notwendigkeit als willenloses Vollstreckungsorgan unterworfen ist. Erziehen heißt nicht, das Gebot der überpersönlichen Mächte gehorsam auszuführen: es heißt, aus eigener Einsicht und Verantwortung an dem Walten dieser Mächte teilzunehmen.” (Darauf, dass für eine solche Pädagogik der Freiheit auch im Machtbereich der kommunistischen Sowjetunion und unter deren willfährigen Vollstreckern aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nicht lange Raum war, wird noch einzugehen sein.)

Einwirkung Litts auf die Bildungspolitik

Bereits die Berufung Lite nach Leipzig war bildungspolitisch umkämpft —und zwar zwischen den Vertretern der Volksschullehrerschaft und den Philologen. Während die erstgenannten versuchten, die Berufung Litts zu verhindern, verlieh der Rheinische Philologenverein in seinem Glückwunschschreiben zu Litts Berufung seiner Freude über die Bestallung eines „Kampfgenossen” Ausdruck. Die Befürchtungen der Volksschullehrerschaft waren nicht unbegründet. Zwar hatte Sachsen — den Empfehlungen Eduard Sprangers folgend — als erstes deutsches Land die Volksschullehrerbildung akademisiert. Als unbeugsamer Gegner des Einheitsschulgedankens hat sich Litt aber erfolgreich gegen die Einbeziehung der Volksschullehrerbildung in die Philosophische Fakultät gewehrt. Deshalb kam es zur Gründung eines eigenen „Pädagogischen Instituts Leipzig”. Zu einer gewissen Entschärfung des Konfliktes dürfte in der Folgzeit beigetragen haben, dass Litt besonders befähigte, in der Schulpraxis tätige Volksschullehrer, wie den späteren Würzburger Erziehungswissenschaftler Albert Reble, als Doktoranden annahm und erfolgreich zur Promotion führte»
Litt engagierte sich daneben ganz erheblich in der Erwachsenenbildung. In einem 1979 in Baden-Baden vom Verfasser geführten Interview mit Fritz Borinski, der im Jahr 1931 Assistent von Litt geworden war, bestätigte dieser, in der westdeutschen Volkshochschulbewegung nach dem Krieg in wichtigen Ämtern wirkende Erziehungswissenschaftler, diesen Einsatz Lins.”
Zu den offenen bildungspolitischer Fragen, zu deren Klärung Litt durch sehr grundsätzliche Überlegungen beizutragen suchte, gehörte das Verhältnis der Berufsbildung zur Allgemeinbildung. Zwar hat sich Litt auch schon während der Zeit der Weimarer Republik damit beschäftigt, doch bezog sich dies weitgehend auf die Frage des Bildungskanons der weiterführenden Schulen und des Verhältnisses der (alten) Sprachen zu den naturwissenschaftlichen Fächern. Erst in dem in seiner Bonner Zeit veröffentlichten Werk “Berufsbildung und Allgemeinbildung” — und diese Beschäftigung abschließend in dem Buch „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt” — hat er sich mit dieser Problematik intensiver auseinandergesetzt. Aus seiner Leipziger Zeit ist dazu lediglich ein Vortrag über Grundsätzliches zur Gewerbelehrerausbildung zu erwähnen, den Litt im Jahr 1929 auf der Eisenacher Tagung des “Deutschen Ausschusses für Technisches Schulwesen” gehalten hat» Erst 1947 taucht die Frage des Verhältnisses von „Berufsbildung und Allgemeinbildung” erneut auf, das Litt in einem Vortrag vor Berufsschullehrem in Halle behandelt hatte und das er nun breiter ausbaute. Es ist kein Zufall, dass diese Arbeit aber bereits im Westen erschien. Seine auf breite Resonanz gestoßene Beschäftigung mit dieser Problematik gehört nicht mehr in Litts Leipziger Zeit.

Das hochschulpolitische Wirken Litts

Ganz anders verhält es sich — man muss angesichts seines Amtes als Hochschullehrer sagen: naturgemäß — mit Lins hochschulpolitischen Aktivitäten und den ihnen zu Grunde liegenden Auffassungen.
Wie es im Jahr 1931 zur Wahl Lifts zum Rektor kam, lässt sich nicht mehr aufklären, da die Akten dazu schweigen und Zeitzeugen nicht mehr befragt werden können. Unabhängig von seinen akademischen Ämtern war Litt aber auch in das gesellschaftliche Leben Leipzigs intensiv eingebunden. So äußerte er sich zu bildungspolitischen Fragen auch in Interviews und in Form von Leserbriefen nicht nur in der überregionalen Presse, sondern auch und gerade in den Leipziger Zeitungen.
In den 27 Jahren seines Wirkens in Leipzig hatte er die wichtigsten akademischen Ämter inne. Neben dem Direktorat seines Instituts gehört dazu das Amt des Dekans der großen Philosophischen Fakultät, die damals neben den Geistes- und Sozialwissenschaften noch alle naturwissenschaftlichen Fächer umfasste. In Litts Dekanatsjahr fielen wichtige Entscheidungen, wie die Berufungen der beiden Physiker und späteren Nobelpreisträger Peter Debye und Werner Heisenberg, des Germanisten Theodor Frings und des Althistorikers Helmut Berve. Den Ruf, den Litt zu dieser Zeit nach Frankfurt am Main erhielt, lehnte er ab.
Hochschulpolitischer Einsatz wurde von Litt vor allem während seines Rektoratsjahres erzwungen. Es begann mit seiner vielfach besprochenen Antrittsrede am 31. Oktober 1931, in der er die bis dahin übliche Praxis durchbrach, dass der antretende Rektor einen Einblick in sein wissenschaftliches Fachgebiet gab. Litt widmete sich dem Thema „Hochschule und Politik”. Darin verlangte er leidenschaftlich die Erhaltung der Freiheit der Wissenschaft und warnte nachdrücklich vor ihrer Inanspruchnahme für politische Zwecke. Eva Matthes bemerkt dazu: „Diese Position hielt er strikt durch: Litt trat als Rektor allen Störungen und Provokationen durch die bereits dominierenden nationalsozialistischen Studentengruppen entschieden entgegen.” Wie sich inzwischen das bildungs- und allgemeinpolitische Klima verändert hat, ergibt sich aus der Leipziger Lehrerzeitung, die Litt gegenüber früher besonders kritisch eingestellt gewesen war. Angesichts der drohenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hieß es aber nun dort: “Der Leipziger Universi-täts-Rektor hat gegenüber den unwürdigen Vorkommnissen eine Haltung gewahrt, die in Bezug auf Initiative, Zielklarheit und Entschiedenheit hoffentlich vorbildlich wirkt auf die übrigen Hochschulrektoren des Reiches. Litt ist ein Philosoph von Geist und ein Akademiker von Kultur. Man kann es verstehen, wie gerade er sich abgestoßen fühlen muss von der Barbarei und dem Ungeist politischer, studentischer Demonstrationen, wie sie nun auch in Leipzig veranstaltet worden sind.”
Dass Litt gegen die Krawalle vorging und zur Wiederherstellung der Ordnung die Universität anderthalb Tage lang schließen ließ, hat ihm die Feindschaft der bald an die Macht gelangenden Nationalsozialisten endgültig eingetragen und zahlreiche Repressalien gegen ihn ausgelöst, die über die von ihm schließlich durchgesetzte vorzeitige Emeritierung hinausreichten und ihm nicht nur ein öffentliches, sondern sogar ein Vortragsverbot in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eintrug. Was Litt besonders niederdrückte, war das Verhalten seiner Kollegen, nicht erst, als sie sich auch von ihm abwandten und gegen die rechtswidrige Beschränkung seiner wissenschaftlichen Freiheit nicht Front machten, sondern bereits als die ersten Übergriffe gegen jüdische Gelehrte stattfanden. Eindrucksvoll ist dafür ein brieflicher Beleg: Als der jüdische Philosoph Richard Kroner in Kiel von einem nationalsozialistischen Mob an seiner Vorlesungstätigkeit gehindert wurde, schrieb ihm Litt am 19. Januar 1934: „Es wird einmal die Zeit kommen, — wie bald, weiß man nicht — da man mit tiefer Beschämung an diese Insulten verhetzten Pöbels denken wird. Übrigens bin ich überzeugt, dass vieles Derartiges nicht geschehen wäre, wenn sich die deutschen Hochschullehrer von vornherein mit Würde gegen diese Unverschämtheit gewehrt hätten, statt zusammenzuknicken und alles mit jugendlicher ,Begeisterung'(!), nationalem’ Überschwang u. dgl. zu entschuldigen. Die Würdelosigkeit der Lage, in der sich die deutsche Gelehrtenwelt heute befindet, ist unsagbar beschämend.”
Unabhängig von seinem Kampf gegen die unmittelbar die Universität betreffenden Machtergreifungsversuche der Nationalsozialisten ging es in Litts Dekanats- und Rektoratsjahr aber auch um die Behauptung des Selbstverwaltungsrechts der Universität im Verhältnis zur Dresdener Ministerialbürokratie. Dank der Einbindung von Litts Nachlass in das Leipziger Universitätsarchiv war es Jens Blecher möglich, diese Frage zu untersuchen. Er zeichnet im Einzelnen den mühevollen Weg nach, den Litt bereits während seines Dekanats zu gehen versuchte, um die aus Dresden verlangte Änderung der Fakultäts- und Promotionsordnungen auf den Weg zu bringen. Das Ministerium weigerte sich beharrlich, die eingereichten Entwürfe zu genehmigen und forderte ständig weitere Zugeständnisse zu Lasten des Selbstverwaltungsrechts der Universität. Dies zog sich jahrelang hin und beschäftigte Litt auch noch während seines Rektorats. Blecher schreibt dazu: „Nach gut vierjährigem Ringen mit der Ministerialbürokratie konnten im Dezember 1931 die neuen Fakultätsordnungen gedruckt werden. Unter diesen Voraussetzungen konnte kaum noch von einer funktionierenden Selbstverwaltung die Rede sein …”. Der diesen Vorgängen zu Grunde liegende Streit über die Verwendung der Promotionsgebühren, mit denen die Universität Eingriffe in die Höhe der Professorenvergütung kompensieren wollte, wurde aber schon bald nach der „Machtergreifung” durch eine reichsrechtliche Regelung der Verfügungsgewalt der Universitäten im ganzen Land entzogen.
Bereits in die Zeit nach seinem Rektoramt und bis zu seiner Emeritierung reichen Litts Versuche, die Entfernung jüdischer Gelehrter und die Behinderung jüdischer Doktoranden zu verhindern oder abzumildern. So übernahm er —zusammen mit Arnold Gehlen — nach der Entlassung des schon erwähnten Kieler Philosophen Richard Kroner die Betreuung von dessen Doktoranden Hermann von Braunbehrens, dessen Promotionsverfahren im November 1936 erfolgreich abgeschlossen werden konnte. In engem Zusammenwirken mit Felix Krueger und Hans Freyer gelang es Litt noch 1936, gegen den erbitterten Widerstand des Dekans Hans Münster, eines überzeugten Nationalsozialisten, die Promotion von Lotte Paulsen durchzusetzen. Der Vorstoß ,Münsters dagegen in Dresden mit der Begründung, Paulsen sei „Volljüdin”, blieb erfolglos. Das Ministerium machte ihn darauf aufmerksam, dass es keine rechtliche Handhabe zur Verweigerung seiner Bestätigung der Promotionsurkunde gebe. Allerdings erging — offenbar auf die Beschwerde Münsters beim Rektor und seiner Aufforderung hin, sich im Reichserziehungsministerium für einen generellen Ausschluss jüdischer Kandidaten von der Promotion einzusetzen — am 15. April 1937 ein entsprechender Erlass.
In seinem Rektoratsjahr hatte sich die enge Beziehung, die Litt zum Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler bereits besaß, vertieft. Beide traten immer wieder gemeinsam als Redner auf, so bei der Hundertjahr-Feier des Gustav-Adolf-Vereins, bei der Feier zum 150. Jahrestag der Gründung des Gewandhauses im Jahr 1931, den Goethe-Feiern des Jahres 1932 und bei der Einweihung des Großrundfunksenders Leipzig im Oktober des gleichen Jahres.
So sehr dieses enge Vertrauensverhältnis zu Goerdeler und seiner Familie65 Litt aufrichtete, die Angriffe der Nationalsozialisten verstärkten sich zusehends und Litt wurde vor allem innerhalb der Universität, aber auch in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zunehmend isoliert. Als einziges Mitglied der Akademie versuchte Werner Heisenberg sich nach dem generellen Vortragsverbot für Litt einzusetzen — allerdings blieb sein Vorstoß bei der SS umsonst. Die in Briefen Lins an ihm nahestehende Kollegen wie Hermann Nohl und Eduard Spranger zum Ausdruck kommende Niedergeschlagenheit wandelte sich nach 1945 in regelrechte Verachtung, als sich die Gesinnungslosigkeit einiger an seiner Ausgrenzung beteiligter Kollegen so weit ging, dass sie Litt baten, sich doch bei der (zunächst amerikanischen) Besatzungsmacht für sie zu verwenden.

Litts Stellung zur Demokratie

Das Verhältnis Litts zum demokratischen Staat von Weimar war mehrfach Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Untersuchungen. Danach ergibt sich, dass Litt nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt kein enthusiastischer Vertreter der Republik war. Aber er hat von Anfang an von seinen Kollegen verlangt, dass sie die verfassungsmäßige Ordnung von Weimar mittragen und insbesondere den extremistischen Kräften von rechts und links Widerstand entgegensetzen. Jedoch lehnte Litt ein ausdrückliches Votum im Namen der Wissenschaft zu Gunsten der republikanischen Staatsform in der Zeit bis 1933 ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg — in der Sowjetischen Besatzungszone — äußert er sich anlässlich einer Vortragsveranstaltung für Studenten am 9. November 1946, bei der Walter Ulbricht sprach, und die Litt moderierte, in einer kurzen Ansprache, in der er auf den Irrweg des Nationalismus einging, zugleich aber auch die Notwendigkeit der Beseitigung oder der Umformung des Kapitalismus in aller Welt forderte.
Nach seinem Weggang aus Leipzig im Jahr 1947 beschäftigte Litt die Problematik der Erziehung zur Demokratie in ganz erheblichem Ausmaß. Mit dem grundlegenden Problem von „Staatsgewalt und Sittlichkeit” hatte er angesichts der Greuel des „Dritten Reiches” bereits im Jahr 1942 ein Manuskript abgeschlossen, das aber erst 1948 im Druck erscheinen konnte. Das Vorwort trägt noch den Vermerk „Leipzig 1947″. Im sowjetischen Machtbereich konnte es aber nicht erscheinen. Das mit einem Imprimatur der amerikanischen Besatzungsmacht versehene kleine Werk kam deshalb in einer Auflage von 4000 Stück im Münchner Erasmus-Verlag heraus.
Die darin behandelte Thematik ließ Litt nicht mehr los. Anknüpfend an Gedanken zur staatsbürgerlichen Bildung, die er schon nach dem Ersten Weltkrieg formuliert hatte, trug er von seinem Bonner Lehrstuhl aus maßgeblich zur Grundlegung der Politischen Bildung in der Bundesrepublik bei. Die Fragen, die deshalb manchmal an seine Formulierung des Titels „Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes”, die als die Programmschrift der 1955 gegründeten Bundeszentrale für Heimatdienst (die später in Bundeszentrale für Politische Bildung umbenannt wurde) gelten kann, gehören schon nicht mehr zu dem hier behandelten Lebensabschnitt Litts — obwohl die Grundlage gerade für diesen Teil seines Werkes zweifellos in Leipzig gelegt wurde und sich an der Auseinandersetzung mit den beiden von ihm erlebten Diktaturen herausgebildet hat. Zu erwähnen ist aber aus dieser späteren Zeit noch, dass Litt kurz vor seinem Tod in seinem Buch „Freiheit und Lebensordnung” seine Auffassung über das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat insoweit korrigiert hat, dass er — im Gegensatz zu seiner früher vertretenen Meinung, die Wissenschaft habe gegenüber dem Staat strikteste Neutralität zu wahren — ihr nun zur Pflicht macht, dem Staat fördernd an die Seite zu treten, so lange er seinerseits die Freiheit der Wissenschaft achtet und fördert, ihm aber in den Arm zu fallen, wenn er diese Freiheit nicht verteidigt oder gar zu beseitigen droht.

Der Versuch eines Neubeginns nach dem Krieg

Bereits unmittelbar nachdem die Amerikaner Leipzig besetzt hatten, war Litt gebeten worden, sich für den Wiederaufbau der Universität einzusetzen und auf seinen im Jahr 1937 durch die vorzeitige Emeritierung frei gewordenen Lehrstuhl zurückzukehren. Litt war inzwischen 65 Jahre alt, verweigerte sich aber diesen Bitten nicht. Das ihm angetragene Rektoramt lehnte er zwar ab. Auf Antrag des Dekans der Philosophischen Fakultät, Hans-Georg Gadamer, setzte der inzwischen zum Rektor bestimmte Bernard Schweitzer unter Berufung auf die ihm von der amerikanischen Besatzungsmacht verliehene Vollmacht Litt jedoch provisorisch in sein Lehramt wieder ein. Die Landesverwaltung Sachsen bestätigte Litts Wiederbestellung kurz darauf.
Die zunächst auch von Litt als beglückend empfundene neue Freiheit des Lehrens und die Resonanz auf seine zahlreichen öffentlichen Vorträge wich schon bald der Enttäuschung darüber, dass sein Rat zwar häufig eingeholt wurde, aber ohne praktische Konsequenzen blieb. Das traf besonders deutlich erkennbar für die beiden bereits erwähnten Vorträge — in Halle zum Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung und in Berlin zur Rolle der pädagogischen Theorie für die Ausbildung der Lehrer — zu. Nach Konrad Krause hätten die neuen Machthaber aus der SED Litt wegen dessen Gradlinigkeit in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten gern als Aushängeschild benutzt. Sie mussten aber sehr schnell zur Kenntnis nehmen, dass Litt auch ihnen gegenüber unbequem war. Die Konsequenz war, dass die Litt gewährte Schonfrist für sein freies Reden sehr schnell zu Ende ging.
Das zeigte sich besonders deutlich bei den Bemühungen der Kommunisten, die Universität in ihrem Sinn zu steuern. Da diese in ihrem Kern bürgerlich geblieben war und es ihre maßgeblichen Vertreter versuchten, die Freiheit der Wissenschaft zu behaupten, gab es eine beispiellose Kampagne zur „Ausmerzung des bürgerlichen Elements” und ständig neue agitatorische Aufrufe zur „Errichtung der Diktatur des Proletariats” auch an der Universität. Zur praktischen Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs der SED wurde begonnen, neue Fakultäten zu gründen. Dazu gehörte zunächst die Einrichtung einer Vorstudienanstalt, die Jugendliche ohne Abitur auf ein Studium vorbereiten sollte, um eine neue sozialistische Intelligenz heranzuziehen, die im Jahr 1949 in “Arbeiter- und Bauernfakultät” umbenannt wurde. Als erste „richtige” neue Fakultät wurde die Pädagogische Fakultät geschaffen, was auf erheblichen Widerstand bei den meisten Professoren der Philosophischen Fakultät und besonders Litts stieß. Später kam die „Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät” dazu, deren Entstehung und weiteres Schicksal hier allerdings nicht dargestellt werden kann.
Die Gründe für Litts Gegnerschaft gegen die Ausgliederung der Erziehungswissenschaft aus der Philosophischen Fakultät waren vielfältig. Konrad Krause schreibt dazu: „Litt hatte natürlich keine Einwände gegen eigenständige Organisationsstrukturen pädagogischer Fachrichtungen. Eine eigene Fakultät zu gründen war für ihn jedoch eine übertriebene, unangemessene und organisatorisch und inhaltlich überzogene Zielstellung.” Dazu kam, dass Litt als Konsequenz seines Engagements gegen die Einheitsschule auch die Ausbildung eines Einheitslehrers für falsch hielt und befürchtete, dass dies in einer eigenständigen Pädagogischen Fakultät schneller und einfacher durchzusetzen wäre.
Die Untersuchung Krauses darüber, wie die Errichtung der Pädagogischen Fakultät durchgesetzt wurde, hat einen erstaunlichen Dissens zwischen den Absichten der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren Handlangern in der SED aufgedeckt: Der Befehl Nr. 205 der Sowjetischen-Militär-Administration, der die Gründung Pädagogischer Fakultäten zur Pflicht gemacht hatte, sprach ausdrücklich davon, dass die neue Fakultät zur Ausbildung der Mittelstufen-Lehrer einzurichten sei. Entgegen diesem klaren Wortlaut setzte der in Leipzig als Direktor des schulwissenschaftlichen Instituts bestellte Dr. Roman Roth die Einbeziehung der Grundschullehrerbildung in die Fakultät durch. Er wirkte dabei mit dem Stadtrat Helmut Holtzhauer, der eine Schlüsselstellung für das Schulwesen in Leipzig innehatte und die SED-Politik auf diesem Gebiet durchzusetzen bemüht war, eng zusammen. Als es um eine mögliche Belastung Roth aus der Zeit des 3. Reiches ging, über die Litt Material haben sollte, unternahm Holtzhauer bei Litt mehrfach den Versuch, an diese Unterlagen heranzukommen — ganz offensichtlich um Roth zu schützen.
Bei der Besetzung der schließlich gegründeten neuen Fakultät kam es mehr auf Linientreue als auf fachliche Kompetenz an. Krause berichtet dazu: Nach Litts Weggang wurde der Zahnmediziner Dr. Hermann Ley, vor 1933 Vorsitzender des kommunistischen Studentenbundes in Leipzig, der sich an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät im Jahr 1948 mit einer Arbeit über „Erkenntnistheoretische Problem des Marxismus” habilitiert hatte, auf Litts Pädagogik-Lehrstuhl berufen — obwohl er keine einzige Publikation in diesem Fach vorzuweisen hatte.”
Bevor es so weit war, war Litt aber erneut Behinderungen in seiner Arbeit ausgesetzt. Krause fasst die Gründe, die Litt bewogen haben, nach Ausschla-gung eines Rufes an die Universität Berlin im Jahr 1946 den an ihn ergangenen zweiten Ruf der Nachkriegszeit im Jahr 1947 anzunehmen und an die Universität Bonn zu wechseln, zusammen: „Eine Fülle von Erlebnissen, Zurücksetzungen, Denunziationen und Rechtfertigungen sowie die nun gewonnene Einsicht, dass eine demokratische Entwicklung in der SBZ nicht zu erwarten war, hatten bei Litt eine veränderte, innere Situation geschaffen, die den Gelehrten schließlich bewog, den Ruf nach Bonn anzunehmen. … Als Litt vor der Entscheidung stand, den Ruf an die Universität Bonn anzunehmen, war er 67 Jahre alt. 27 Jahre seiner Lebenszeit hatte er, wie bereits erwähnt, in Leipzig verbracht. In dieser Zeit ist dem Rheinländer ohne Zweifel die Stadt sehr vertraut geworden; er hat sich in sie hinein gelebt, ist heimisch geworden und sie ist ihm in dieser Zeit sogar ans Herz gewachsen: hier war sein zu Hause. Sicher wurde sein Entschluss, Leipzig zu verlassen, von mehreren Faktoren bestimmt. Dabei hat ohne Zweifel die Einsicht Litts maßgeblich mitgewirkt, dass es ihm in Zukunft nicht möglich sein würde, mit den sich anbahnenden Machtinstanzen, die ganz entgegen seiner eigenen geistigen Haltung absolut totalitär waren, zusammenzuarbeiten. Die von Ulbricht bei der Ankunft seiner Gruppe herausgegebene Direktive: ,Es ist doch ganz klar: Es muß demokratisch aussehen — aber wir müssen alles in der Hand haben’, war von Litt schnell als taktisches Mittel erkannt worden. Litt nahm Abschied von Leipzig.”

Fortführung der geisteswissenschaftliche Pädagogik als bleibende Aufgabe

Wie gezeigt, hat die Tätigkeit der Theodor-Litt-Forschungsstelle, die sich des Theodor-Litt-Archivs bedienen konnte, zu einer erheblichen Verbesserung unserer Kenntnis über das Werk und das Wirken dieses herausragenden Gelehrten an der Universität Leipzig geführt. Dieses mehr Wissen und mehr Verstehen ist natürlich kein Selbstzweck, obwohl es unserer Zeit gut anstünde, sich derer immer wieder zu erinnern, die zur geistigen und politischen Freiheit unseres Landes durch ihre geistigen Leistungen und ihr vorbildliches Leben maßgeblich beigetragen haben. Dass Theodor Litt für dieses Gedenken einen vorderen Platz einzunehmen hat, kann nicht zweifelhaft sein. Mehr aber noch hat die Beschäftigung mit seinem Werk gezeigt, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik kein Fach von gestern ist, sondern im Gegenteil für die Bestimmung unseres Standortes in der Welt und der Aufgaben, die den Pädagogen gestellt sind, nach wie vor unverzichtbar bleibt, wenn Vernunft und Zuwendung an die Adressaten ihrer Bildungs- und Erziehungstätigkeit weiterhin den Maßstab bilden sollen.

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