Theodor Litt und Herman Nohl 1925-1960.111 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch
2005/4
Leipziger Universitätsverlag 2005

WOLFGANG KLAFKI
Theodor Litt und Herman Nohl 1925-1960.
Zur Entwicklung ihrer Freundschaft.
Eine Korrespondenz-Analyse

  1. Zum historischen Hintergrund des Briefwechsels zwischen Litt und Nohl: Quellenlage und Forschungsstand

Der Tatbestand, dass es zwischen Theodor Litt und Herman Nohl mindestens seit dem letzten Drittel der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts einen über nahezu dreieinhalb Jahrzehnte andauernden Briefwechsel gegeben hat, ist, soweit ich sehe, bisher in der Literatur nur sporadisch angesprochen worden. Selbst in Elisabeth Blochmanns eindrucksvoller, feinfühliger Nohl-Biografiel kommen zwar einige wichtige Aspekte dieser Beziehung zur Sprache; aber der relativ kontinuierliche Gesamtprozess dieser Beziehung, die vor allem in Briefen und Postkarten und der wechselseitigen Zusendung vieler Publikationen beider zum Ausdruck kommt, ist von Frau Blochmann nicht dargestellt, besser: dessen Nachzeichnung von ihr auch nicht angestrebt worden.
Das Vorhaben, diesen Korrespondenz-Prozess der beiden Philosophen und Pädagogen in seinen drei Hauptphasen — während der zweiten Hälfte der Weimarer Republik, der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und den anderthalb Jahrzehnten der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland —nachzuzeichnen und sowohl hermeneutisch zu interpretieren als auch kritisch zu kommentieren, stößt allerdings an deutliche Grenzen:

Auf der Seite Litts liegen zwar 73 Briefe und Postkarten — beginnend mit einem Brief Litts vom 24.6.1927 — vor; allerdings fehlen, ohne ermittelba-re Gründe, entsprechende Dokumente aus den Jahren 1928, 1930, 1936, 1939 und 1946 sowie für die Spanne zwischen dem 15.1.1956 und dem 6.3.1958. Das letzte Dokument ist eine Postkarte Litts an Nohl vom 23.l.1960. Überdies ist dem ersten, erhalten gebliebenen Brief Litts an Nohl vom 24.6.1927 zu entnehmen, dass mindestens ein vorangehendes Postdokument verloren gegangen sein muss.
Hinsichtlich Nohls sind insgesamt nur 5 Briefe bzw. Postkarten aus dem Zeitraum zwischen dem Ende des Jahres 1940 und dem Jahr 1955 erhalten. Die Gründe für die großen Lücken habe ich nicht ermitteln können.

Auch die Frage, seit wann es Kontakte zwischen Nohl (7.10.1879 —27.6.1960) und Litt (27.12.1880 — 16.7.1962) gegeben hat, lässt sich nach der bisherigen Quellenlage nicht klar beantworten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat es vor dem Ende des Ersten Weltkrieges keinerlei Begegnung zwischen ihnen gegeben. Möglicherweise sind beide sich in den frühen 20er Jahren auf größeren pädagogischen oder philosophischen Tagungen begegnet; aber auch dafür sind bisher m. W. keine Belege gefunden worden. Sicher ist, dass Litt und Nohl mindestens seit den Jahren 1924 oder 1925 erste intensivere Gesprächskontakte hatten, und zwar im Zusammenhang mit der Planung und der Gründung der Zeitschrift „Die Erziehung”.

  1. Die Gründung der Zeitschrift „Die Erziehung”

Initiatoren dieser Gründung waren, wie wir aus vorliegenden Originalquellen (vorwiegend Briefwechseln und gedruckten Dokumenten) wissen,3 Wilhelm Flitner und Aloys Fischer und auf deren Anregungen hin besonders Eduard Spranger. Spranger gewann dann Litt als weiteren Herausgeber, und Flitner konnte Spranger gegen dessen anfängliche Bedenken dazu bewegen, auch Nohl in den Herausgeberkreis aufzunehmen.4 In die Planungsphase ist der Besitzer des Verlages Quelle & Meyer, Dr. Heinrich Meyer, der wohl zu den Mit-Initiatoren der Gründung der Zeitschrift gezählt werden muss, hinsichtlich finanzieller und verlagstechnischer Aspekte öfters einbezogen worden.
Flitner hat den Planungsprozess in seiner Biografie “Erinnerungen 1889 —1945″ geschildert, und Ernst H. Ott hat in seiner von Otto-Friedrich Bollnow angeregten Dissertation unter dem Titel „Wilhelm Flitner, die Gründung der Zeitschrift ,Die Erziehung’ und die hermeneutisch-pragmatische Pädagogik” (1971) eine relativ ausführliche, später durch mehrere Aufsätze ergänzte Darstellung der Vorbereitungs- und Gründungsphase und der ersten Arbeitsperiode bis zum nationalsozialistischen Umbruch 1933 sowie die krisenreiche Zeit bis 1936/37 durch Quellenstudien und eine Inhaltsanalyse der Zeitschriftenbeiträge erarbeitet.’ Jedoch findet man weder genauere Angaben über die Anzahl der Herausgebersitzungen, noch auf die Fragen, ob es solche Treffen regelmäßig, z.B. jährlich einmal oder öfters gegeben hat oder ob regelmäßig Sitzungsprotokolle angefertigt worden sind.
Nun liegt die Vermutung nahe, dass im Verlauf des Briefwechsels zwischen Litt und Nohl auch Fragen oder Probleme der Zeitschrift, z. B. nach Herausgebersitzungen, angesprochen worden sind. Diese Vermutung wird jedoch durch die dokumentierten Briefe und Karten beider nicht bestätigt.

  1. Eine Kontroverse zwischen Nohl und Litt 1925-1927

Unter dem Gesichtspunkt der Korrespondenzanalyse, die den Schwerpunkt dieses Beitrags bildet, kommt einer theoretischen Kontroverse zwischen Theodor Litt und Herman Nohl — sowie einer Doktorandin Nohls, Erika Hoffmann, die allerdings im Wesentlichen Nohls Auffassungen wiederholt —insofern besondere Bedeutung zu, als sie den dissonanten Vorklang einer Beziehung bildet, die für beide Philosophen und Pädagogen lebenslang Bedeutung gewinnen sollte. Dass aus jener Kontroverse im Zeitraum von fast 35 Jahren eine Freundschaft, vorwiegend im Medium von Briefen und wechselseitiger Zusendung von Publikationen, werden sollte, konnten sie zu jenem Zeitpunkt selbstverständlich noch nicht voraussehen.
Litt veröffentlichte 1925 eine Schrift zum Thema „Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluss auf das Bildungsideal”; sie erschien 1927 in überarbeiteter, zweiter und 1930 in nochmals verbesserter Auflage. Nohl rezensierte das kleine Buch Litts in seiner ersten Auflage in der „Deutschen Literaturzeitung” im Jahre 19279. Anlass der Schrift Litts waren die heftigen Kontroversen, die zwischen verschiedenen philosophischen Richtungen, soweit sie wesentliche Beziehungen zu Erziehungsfragen, besonders zum Problem pädagogischer Zielvorstellungen bzw. Bildungsideale aufwiesen, schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik ausgefochten wurden, so vor allem — direkt und indirekt — zwischen (erstens) „positivistischen” bzw. „psychologistischen”, (zweitens) „idealistischen” bzw. „logizistischen”, an Paul Natorp exemplifizierten und (drittens) „lebensphilosophischen” Positionen, die Litt vor allem an Dilthey und seinen „Schülern” verdeutlichte.
Litt machte nun den Versuch, die Wahrheitsmomente der drei genannten philosophisch-psychologisch-pädagogischen Denkansätze herauszuarbeiten, zugleich aber ihre Grenzen hinsichtlich des Anspruchs, in pädagogischer Perspektive „Bildungsideale” und ihre Konkretisierung in pädagogischer Praxis zu begründen, zu bestimmen.
Damit war für Litt die Notwendigkeit deutlich, die begrenzten Wahrheitsmomente der drei skizzierten Positionen nicht einfach nebeneinander stehen zu lassen, sondern sie theoretisch und praktisch aufeinander zu beziehen, m. a. W.: Sie in übergreifenden Synthesen „aufzuheben”, also auf einer neuen, vierten Reflexionsebene „dialektisch-reflexiv” zu vermitteln, und zwar angesichts der konkreten historischen Entwicklungsphase der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Litt betonte dabei, dass so verstandene dialektische „Synthesen” durchaus unterschiedliche Konkretisierungen, Realisierungsspielräume erlaubten und dass auf dieser Ebene kontroverse Auffassungen und Konzepte pädagogisch legitim seien, sofern sie nicht letztlich doch auf den Anspruch der Alleinherrschaft einer der skizzierten Grundpositionen hinausliefen.
Auch hinsichtlich Diltheys als des nach Litts Auffassung namhaftesten und differenziertesten Vertreters der dritten, vorher genannten Position, nämlich der „Lebensphilosophie” und „Lebenspädagogik”, vertritt Litt in seinem Text die Auffassung, dass jener die Dichotomie zwischen „positivistischer” und „logizistischer” Philosophie und Pädagogik nicht „auf höherer Ebene” überwinde, „aufhebe”, sondern dass er in den meisten seiner Aussagen zum Thema die Spannung zwischen „Leben” und „Idee”, Subjekt-Anspruch und Geltungsanspruch „objektiver” Gehalte (Erkenntnisse, ethische Prinzipien, ästhetische Werke) letztlich doch zugunsten der Subjektivität abspanne. Die Polarität zwischen „Subjekt” und „objektivem Gegenstand”, „Individuum” und „Gemeinschaft” sowie weiteren vergleichbaren, nach Litt nur dialektisch zu verstehenden Polaritäten, würde letztlich auch in Diltheys Schriften allzu oft zugunsten des Subjekt-Pols „abgespannt”.
Damit ist schon angedeutet, dass Litt die Einsicht und damit die Anerkennung einer vierten Erkenntnis- und Handlungsdimension für notwendig hält; er nennt sie die „dialektische Lösung”. Litt legt sie nun aber nicht als überhistorische, also zeitlos allgemeingültige Lösung des Bildungsproblems aus, sondern als eine im geschichtlichen Prozess immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe, in der der Anspruch, das individuelle Interesse der einzelnen Personen (Subjekte) und der jeweiligen „Gemeinschaften” (Gruppen, Parteien usw.) einerseits mit dem „Anspruch” der im historischen Prozess gewonnenen (und in die Zukunft hinein weiter zu gewinnenden) „objektiven Erkenntnisse, ethischen Prinzipien, ästhetischen Werke” andererseits immer wieder neu „vermittelt”, im Sinne Hegels „aufgehoben” werden muss.
Die damalige pädagogische Situation kennzeichnete Litt jedoch dahingehend, dass in ihr das subjektive Moment in verschiedenen Varianten, insbesondere in der „Reformpädagogik” vorherrsche, und er folgerte daraus, dass diese Einseitigkeit durch eine stärkere Betonung des objektiven Moments ausgeglichen werden müsse.
Nohl setzte am Schluss seiner Rezension dem aus seiner Sicht unbefriedigenden, abstrakten Lösungskonzept Litts ein scharf formuliertes Urteil entgegen. Ich zitiere daraus wenige Aussagen: Litt betone, ähnlich wie der Kulturphilosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918), das „Gegenüber von Leben und Idee, die eigentümliche Spannung zwischen der fließenden Bewegung und dem Jenseits beharrender Sinngehalte sei das strukturelle Grundmotiv der geistigen Wirklichkeit” (S. 53). „Aber in der weiteren Darstellung dieses dialektischen Verhältnisses werde nun von Litt […] die rein dialektische und objektive Haltung verlassen, und eine Polemik tritt an ihre Stelle, die dem Gegner nicht mehr gerecht wird, weil sie ihm seine Substanz nimmt […]. Aus dem Leben mit seinem Bedeutungsgehalt wird das vitale Leben, aus dem Wesensausdruck wird die Willkür und Selbstherrlichkeit des Subjekts mit seinen Neigungen und Bedürfnissen. Wie denn überhaupt die eigenen Kategorien der Lebensphilosophie (im Sinne Diltheys und Nohls) […] nicht zu ihrem Recht kommen und der große Sinn dieser Bewegung in Gefahr ist, verloren zu gehen über der nun betonten Sachlichkeit und Objektivität.”
Dieses Versagen der Argumentation Litts zeige sich besonders deutlich, ja „brennend”, wenn nun das Problem „des Bildungsideals des Deutschen von heute zur Debatte steht, d. h. die eigentümliche Entscheidung, die ich angesichts meiner historischen Wirklichkeit als Ihre Lösung ansehe, wenn ich den dialektischen Kosmos gleichgewichtiger Inhalte gegenüber meinen eigensinnigen [gemeint war wohl: den meiner eigenen Überzeugung entsprechenden; W. KI.] Schritt tue”.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, Recht und Grenze der Kontroverse zwischen Litt und Nohl, die von beiden Autoren nicht direkt fortgeführt worden ist, zu erörtern. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung eines Freundschaftsverhältnisses zwischen beiden ist m. E. die Vermutung begründet, dass zum Zeitpunkt ihres Disputs im Jahre 1925 von einer solchen Beziehung noch nicht die Rede sein konnte.

Litt an Nohl, 24.6.1927
Der erste, im Original erhaltene Brief Litts an Nohl — er leitete eine Folge von 73 Briefen und Postkarten an seinen Göttinger Kollegen bis zum Januar 1960 ein —, trägt das Datum des 24.6.1927. Dieser Text war höchstwahrscheinlich die zweite, überarbeitete und um einige Seiten erweiterte Auflage seiner Broschüre „Die Philosophie der Gegenwart und der Einfluß auf das Bildungsideal” (Erstauflage Leipzig/Berlin 1925), die Nohl wohl inzwischen erhalten hatte.
Wahrscheinlich hatte Nohl in einem vor dem 24.6.1927 verfassten Brief eine Bemerkung über die unbefriedigende Situation hinsichtlich des erziehungswissenschaftlichen Nachwuchses gemacht. Litt bestätigte diese Einschätzung nämlich in seinem Brief und fügte folgende Bemerkung hinzu: Diese missliche Nachwuchslage liege „doch sicherlich am besonderen Charakter der Pädagogik als Theorie”.
Ohne diese Einschätzung genauer zu erläutern, fügte er hinzu: Er habe auch „keine Hoffnung auf Besserung”, glaube außerdem, „dass auf die jetzige Wertschätzung der Pädagogik bald ein Rückschlag folgen werde”.
Der folgende Satz lässt m. E. den Rückschluss zu, dass Litt mit dem Wort „Pädagogik” in der vorangehenden Aussage die „theoretische Pädagogik” gemeint hat. Im Folgenden heißt es nämlich — für Litt m. E. eine überraschende Aussage —: „Das Beste und Entscheidende macht ja doch die Praxis des einzelnen und mit […] Lehrern, nicht die Begriffsarbeit, von der man zweifeln kann, ob sie mehr Klarheit oder mehr Verwirrung schafft.”
Der vorletzte Absatz des Briefes enthält zunächst eine Einschätzung, die in verschiedenen Versionen in vielen Briefen Litts während der mindestens dreieinhalb Jahrzehnte des kommentierten Briefkontakts zwischen Litt und Nohl wiederkehrt. Gemeint ist der von Litt immer wieder betonte Unterschied der Lebens-Grundstimmung beider Männer: Auf der einen Seite Nohls letztlich immer wieder optimistische und aktive Einstellung, obwohl auch er zeitweilig von depressiven Phasen nicht verschont geblieben ist; im Kontrast dazu die von Litt oft bekundeten pessimistischen Schübe. Im Brieftext heißt es: „In Ihnen lebt offenbar doch viel mehr Zuversicht”.
Als Beleg für diese Einschätzung bezieht sich Litt auf eine in der Nohl-Literatur m. W. bislang unbekannt gebliebene Information, die Nohl ihm mitgeteilt hatte, nämlich Nohls „Gedanke, die Leitung einer pädaglogischen Akademie zu übernehmen”.
Litts skeptische Einschätzung dieser Erwägung Nohls lautet: „… diese Übernahme hätte den Abschied von aller theoretlischen] Tätigkeit (auch in phi-losoph.)” bedeutet, dazu der Eintritt in eine Welt voll kleiner Plagen und Enttäuschungen (wie ich sie aus meiner eigenen Schulzeit kenne), bereitet durch Menschen, mit denen zusammen Sie Ihre Gedanken hätten durchführen müssen. Tausendmal lieber als einzelner Lehrer zusammen mit einer lebendigen Klasse denn als Direktor mit einem vielköpfigen Kollegium zusammen zu arbeiten genötigt.” Litt schließt den Brief mit dem Satz: „Ich würde gerne wieder einmal mit Ihnen Gedanken austauschen; vielleicht würde mich Ihr impetus mitreißen. Herzliche Grüße Ihres Th. Litt.”

Litt an Nohl, 23.7.1927
Litt nimmt zu zwei Aspekten der Kritik Nohls an seiner (Litts) Argumentation in der ersten Auflage der Schrift „Die Philosophie der Gegenwart” Stellung und bedauert, dass er die Rezension Nohls nicht bereits vor der Drucklegung der zweiten Auflage gelesen hätte und dass Nohl und er die Kontroverse nicht mündlich austragen könnten. Auf seiner Postkarte könne er, Litt, nun nur in Andeutungen antworten. Litt skizziert dann zwei Gegenargumente: Erstens könnte er „durch eine nicht kleine Reihe von Zitaten beweisen”, daß, „die Lebensphilosophie (z. B. Nietzsche) und die zugehörige Pädagogik (z. B. manche Arbeitsschulvertreter) den Sinn vitalisiert und subjektiviert” hätten.
Das zweite Argument Litts gegen Nohls Verteidigung der „Lebensphilosophie” und lebensphilosophisch orientierter Pädagogik lautet: „Wie ich mir das Zusammenkommen von Leben und Idee denke, d. h. wie es möglich ist, daß in einer Sinngestaltung die Objektivität der betr. Sinnsphäre und die Individualität des produzierenden Lebens sich durchdringen, das habe ich am ausführlichsten [in] „Individuum und Gemeinschaft”, 3. Aufl., S. 342-360, besonders S. 353-357 zu zeigen versucht. Wenn Sie den Begriff der ,Lebensphilosophie’ so weit fassen, daß Sie diese Betrachtungsweise als ihr zugehörig oder auf ihrem Boden möglich anerkennen, dann sind wir in der Sache einig, aber dann trennen Sie sich auch von denjenigen Lebensphilosophen, die die subjektive Seele in der besagten Weise überbetonen und dem ,Etwas’ seinen Eigenwert nehmen. — Ich glaube also das ,Historische’, das ,konkrete Bildungsideal’ genau in der gleichen Weise mit der Sachlichkeit der Kulturprinzipien in Verbindung bringen zu können, wie ich es an der zitierten Stelle mit den Gebilden der Musik getan habe. Und von da aus ist dann auch in der Konkretheit der deutschen Lage eine Mehrheit von Bildungstendenzen möglich, von denen keine bloß ‚Ausdruck’, vielmehr jede an den Sachprinzipien der Kultur orientiert ist.
Hoffentlich machen diese flüchtigen Sätze das Gemeinte einigermaßen deutlich. — Herzliche Grüße Ihres Th. Litt.”

22.3.1929
Litt schreibt nach der Anrede „Sehr verehrter Herr Nohl”, er habe „schon vor dem Frühstück” in die angekündigte und nun bei ihm eingetroffene, von der Nohl-Schülerin Erika Hoffmann verfasste Dissertation „Das dialektische Denken in der Pädagogik” (1929) hineingeschaut. Das für ihn (Litt) Entscheidende, worin er sich von Hegels Dialektik-Interpretation unterscheide, sei bei Erika Hoffmann verfehlt. Zwar betone auch Frau Hoffmann den Unterschied zwischen Hegels und Litts Dialektikbegriff. Aber sie missverstehe gleichwohl seinen (Litts) Dialektikbegriff. Er betone: „Keine konkrete pädagogische Entscheidung könne durch die Klärung der Dialektik allgemeiner pädagogischer Prinzipien abgeleitet werden” (E. Hoffmann, S. 70).
Ähnliche Argumente habe er in den Büchern „Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal” (2. Aufl. 1927), und „Führen oder Wachsenlassen” (2. verb. Aufl. 1929) sowie in der Systemskizze „Pädagogik” (3. Aufl. 1921) geäußert. Erika Hoffmanns Kritik beruhe also auf gravierenden Fehlinterpretationen. — Er schließt den Brief mit herzlichen Grüßen.

Litt an Nohl, 5.7.1931
Litt leitet diesen Brief nach der Anrede „Sehr verehrter, lieber Herr Nohl” wie folgt ein: „Ich habe Ihre Abhandlung mit starker innerer Spannung gelesen und den Eindruck gewonnen, daß hier die Linie gezeichnet ist, auf der wir, denen es um eine nichtdogmatisch (vor)gehende Erziehung zu tun ist, gemeinsam marschieren können.” Gemeint war Nohls Aufsatz „Die Polarität in der Didaktik”, zuerst in der Zeitschrift „Die Erziehung”, 6. Jg. 1930/31, S. 277 ff.
Die inhaltliche Bedeutsamkeit dieser Aussage bedarf hier einer knappen Erläuterung. Sie kann im gegebenen Rahmen nur in Form weniger zentraler Thesen Nohls erfolgen:5 „Wo das Leben dynamisch gesehen wird, zeigt es eine polare Spannung von ständigem Werden und zugleich Ständigwerden, ein Verhältnis von Grenzenlosigkeit und Begrenzung, Offenheit und Festigung, Freiheit und Festigung zugleich” (S. 89). „Es kommt heute alles darauf an, daß die Pädagogik sich in dieser Lage richtig, d. h. autonom pädagogisch zurechtfindet. Daß sie nicht von einer politischen Welle, der liberalistischen, zu einer neuen, entgegengesetzten hinüberschaukelt, sondern tapfer ihre Freiheit bewahrt und aus der Einsicht in die wahre, ewige, polare Struktur des geistigen Lebens und das dynamische Gesetz seines Aufbaus die richtige Konsequenz zieht” (S. 93).
Der nachdrücklichen Zustimmung, die Litt im Einleitungssatz seines Briefes zu der eben skizzierten, „polaristischen” Position Nohls aussprach und mit dem Bild des ,gemeinsamen Marschierens` unterstrich, folgen nun Sätze, die einmal mehr und, im Laufe der folgenden Jahrzehnte häufig in verschiedenen Variationen wiederkehrend, die Unterschiedlichkeit der Lebenseinstellungen, der „Welt-Sicht” beider Männer zeigt, ohne dass ihre lebenslange persönliche Beziehung daran zerbrochen wäre. In Litts Brief heißt es nach seinem Einlei-tungssatz: Nur zwei Fragen blieben für ihn offen: „Jene Weltanschauungen, die dem echten erzieherischen Gedanken im Grunde keine Aufnahme gewähren, sind doch da als mächtige Realitäten unseres Lebens, ja, von ihnen gehen faktisch auch solche Wirkungen aus, die wir pädagogisch bejahen können. —Und weiter: Wird nicht mit dem ,Sich einstellen in die produktiven Entscheidungen’ dem einzelnen Lehrer eine Sicherheit des auswählenden Urteils, ein Instinkt für das Wesentliche und Gesunde zugemutet, die In erschreckend vielen Fällen nicht vorhanden sind? An dieser Stelle muß sich doch, meine ich, eine Unsicherheit fühlbar machen […] Wie steht es denn mit unserer eigenen (ich meine die pädagog[ischen] Theoretiker) Sicherheit und ‚Gläubigkeit’?”
Herman Nohl konnte sich bis in seine letzten Lebensjahre hinein, trotz mancher durchlittener Enttäuschungen und Fehleinschätzungen während der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode, seine letztlich dominierende, optimistisch-aktive Grundeinstellung lebenslang bewahren; Litt hingegen musste sich, wie er ihm nahestehenden Menschen gegenüber mehrfach bekannte, erheblich häufiger skeptischer Stimmungen und Einschätzungen hinsichtlich der Einsichts-, Urteils- und Handlungsfähigkeit der Mehrheit der Menschen und nicht zuletzt der Lehrenden immer wieder erwehren, gerade auch, wenn es um Fragen pädagogischer Bemühungen und Wirkungsmöglichkeiten ging.
Der Schlusssatz des Briefes lautet: „Also herzlichen Dank und viele Grüße Ihres aufrichtig ergebenen Th. Litt”.

Litt an Nohl, 30.5.1932
Auf einer Postkarte (mit der Anrede „Sehr verehrter und lieber Herr Nohl”) bedankt sich Litt zunächst für verschiedene, mit einer Ausnahme nicht genauer gekennzeichnete „Göttinger Studien zur Pädagogik”, die Nohl ihm zugesandt hatte; er habe sie aber noch nicht lesen können, weil ihn die Belastung durch das Rektoratsjahr daran hindere.
Litt bekundet dann „ein tiefes Verlangen nach Arbeitsruhe und Sammlung”. Nohl könne er die Freude nachfühlen, „die eigene Arbeit durch den eigenen Nachwuchs fortgeführt zu sehen”. Entweder waren mit dem „Nachwuchs” alle Verfasserinnen oder Verfasser der eingangs erwähnten, ihm zugesandten Dissertationen gemeint oder nur die Autorin einer dieser Studien, nämlich Nohls älteste Tochter Johanna. Sie wurde 1932 mit der Untersuchung „Erinnerung und Gedächtnis — eine historisch-systematische Studie” (Göttinger Studien zur Pädagogik, Heft 21) promoviert.
Im Jahr 1932 erschienen in den „Göttinger Studien”, über die Arbeit von Johanna Nohl hinaus, folgende Untersuchungen: Heinz Weniger: Die drei Stilcharaktere der Antike in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung (H. 19). — Wilhelm Patzschke: Der Anfang der Bildung. Eine historisch-systematische Studie zur Theorie der Volksschule, Teil I (H. 18). — Helene Hertz: Die Theorie des pädagogischen Bezuges (H. 22). — Fritz Wüllenweber: Dessau und Ifferten. Eine Strukturstudie zur Theorie der pädagogischen Internate, Langensalza 1922.

1933
Zwei Postkarten Litts und ein Brief aus dem Jahr 1933 fallen durch ihre besonders lapidare Kürze auf; vielleicht waren sie Ausdruck der verständlichen Unsicherheit Litts hinsichtlich der weiteren politischen einschließlich der universitären Entwicklungen.
In der ersten Postkarte vom 1.6.1933 bedankt Litt sich „für die freundliche Zusendung Ihrer (Nohls) neuen Sammlung”; vermutlich war die Broschüre „Landbewegung, Osthilfe und die Aufgabe der Pädagogik” (Leipzig 1933) gemeint, in der Nohl drei Aufsätze aus den Jahren 1931 und 1932 zum Titelthema und zwei weitere, eher allgemeinpädagogische Beiträge, nämlich „Die zweifache deutsche Geistigkeit und ihre pädagogische Bedeutung” und „Die volkserzieherische Arbeit innerhalb der pädagogischen Bewegung” (beide Aufsätze wurden 1932 publiziert) zusammenfasste. Auffällig ist Litts letzter Satz in der Karte. Er kann m. E. dahingehend verstanden werden, dass Litt nun — im Schulterschluss mit Gleichgesinnten — seine eigene, bislang so oft betonte Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten und der Bereitschaft vieler Pädagoginnen und Pädagogen überwinden und sich, mindestens durch entsprechende Veröffentlichungen, angesichts bildungspolitisch relevanter Forderungen und Ankündigungen der neuen Machthaber und ns-orientierter Autoren mit philosophischem Anspruch (wie etwa Ernst Krieck und Alfred Baeumler) kritisch zu Wort melden wollte. Jener Satz der Karte an Nohl lautet nämlich: „Ich bin der Meinung, dass unser Wort niemals unentbehrlicher gewesen ist als jetzt, so vermessen das angesichts des Geschehenden klingen mag.”‘7 Litts Brief schließt „Mit den herzlichsten Grüßen”.
In Litts Karte an Nohl vom 24.7.1933 bedankte er sich für Nohls „Theorie der Bildung”, zu deren Lektüre er allerdings noch nicht gekommen sei. Gemeint war das 78 Seiten umfassende Einleitungskapitel „Die Theorie der Bildung” aus dem ersten Band des von Nohl und Ludwig Pallat herausgegebenen fünfbändigen „Handbuch(s) der Pädagogik”, S. 1-78. — Nohl hat zu dem ersten Band des „Handbuchs” noch ein zweites Kapitel unter dem Titel „Die pädagogische Bewegung in Deutschland” beigesteuert (S. 302-374), das Litt in seiner Karte nicht erwähnt.'”
Hinsichtlich Litts dritter kurzer Karte an Nohl vom 18.10.1933 erwähne ich an dieser Stelle nur, dass Litt sie auf Bitte von Nohl einem Gutachten für die Nohl-„Schülerin” Elisabeth Blochmann beifügte. Er schrieb: „Hoffentlich kann das […] Zeugnis Frau Blochmann etwas nützen”. Frau Blochmann war als „Halbjüdin” aufgrund des NS-Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7.4.1933 bereits entlassen worden und bemühte sich nachdrücklich — durch Nohl und andere Pädagogen unterstützt —, aber vergeblich um irgendeine Form der Rehabilitation. Litt kennzeichnete diese Entlassung als eine weitere der vielen „Berserkertaten” der neuen Machthaber. — Die Karte schließt mit „guten Wünschen für die innere Gelassenheit, die man so schwer bewahrt”.

1935
Für das Jahr 1935 liegen vier Briefe Litts an Nohl vor; ein fünfter muss verloren gegangen sein.
Brief vom 29.4.1935
Der erste dieser Briefe ist — mit zwei handschriftlichen Seiten — im Vergleich mit den meistens knapp gehaltenen Postkarten Litts — relativ lang.
Nohl hatte Litt — wahrscheinlich kurz vor dem 29.4. — mitgeteilt, dass nun auch der mit Nohl befreundete Göttinger Philosoph Georg Misch, seit 1916 Professor für Philosophie in Göttingen, zwangsemeritiert worden sei; Misch war Jude. Litt kannte und schätzte ihn, mindestens aus seinen Schriften. Litt erweiterte nun seine Empörung auf die weit überwiegende Zahl deutscher Universitätsprofessoren, zunächst angesichts seiner Erfahrungen mit der Universität Leipzig: „Vieles von der Art” des entehrenden Berufsverbots für Misch wäre seines (Litts) Erachtens nicht geschehen, wenn „die Professorenschaft von vornherein auch nur einigermaßen geschlossen gegen dies alles Front gemacht hätte”. Er wirft ihr ,würdelose Selbstpreisgabe vor; er habe sich „innerlich ganz und gar von dieser Zunft losgesagt”. „In die Fakultät gehe er „so gut wie gar nicht mehr”, weil „er erfahren habe, daß man, falls man in entscheidenden Dingen Widerspruch anmeldet, nicht einen einzigen Sekundanten findet”. Dass er selbst „noch nicht um seine Entpflichtung nachgekommen sei”, liege „allein an der Haltung seiner Hörer, die erheblich mehr Charakter zeigen als die Herren Kollegen”.
In den Schlusspassagen bezieht Litt sich auf eine Information, die Nohl (in einem nicht mehr auffindbaren Brief) Litt mitgeteilt hatte: dass er (Nohl) sich ,mit Erfolg in die Arbeit flüchte’, ein „Heilmittel”, das Litt selber, „wenn auch manchmal mit Hemmungen”, anwende. — Litt erwähnte in seinem Brief auch, dass Sprangers „Eindrücke und Erfahrungen […] vollkommen die gleichen seien, die er [Litt] gemacht” habe.
Litt schließt seinen Brief mit der Bitte, Nohl möge Misch den Ausdruck seines (Litts) herzlichen Mitgefühls übermitteln und ihm sagen, er selbst werde „vielleicht schon bald sein Schicksal teilen”. Er schließt mit dem Satz: „Ihnen und den Ihren alle guten Wünsche und die besten Grüße”.
Etwa sechs Wochen später, am 9.6., bedankt sich Litt für die Übersendung des vor kurzem erschienenen Buches Nohls „Die ästhetische Wirklichkeit”, Frankfurt/M. 1935, die ihm (Litt) manche „genuß- und lehrreiche Stunde” bereitet habe. Diesem Dank fügt Litt eine Bemerkung hinzu, die er in einigen späteren Briefen an Nohl in zunehmend stärkerer Form erneut aussprach. Nohls Verhältnis zur Kunst sei offenbar genauso lebhaft wie in jüngeren Jahren. Er (Litt) dagegen müsse bei sich „ein Erlahmen der künstlerischen Genussfähigkeit, besonders auf musikalischem Gebiet, mit Schmerzen feststellen”. — Im Vorblick sei bereits hier angemerkt, dass Litt diesen Prozess abnehmender ästhetischer Genussfähigkeit auch anderen Menschen, die ihm nahe standen, gegenüber bedauernd offenbarte; Litt war im Kollegen- und Freundeskreis vor der NS-Zeit bekannt dafür, dass er das Klavierspiel auf überdurchschnittlichem Niveau beherrschte und bei geselligen bzw. festlichen Gelegenheiten anspruchsvolle Stücke der klassischen Klavierliteratur vortrug. Der Beeinträchtigungsprozess hielt mindestens bis zur Übersiedlung aus Leipzig nach Bonn im Herbst 1947 an.
Am Schluss des Postkartentextes teilte Litt Nohl mit, dass die ihm von Nohl angekündigte „Einleitung in die Philosophie” (1. Aufl. 1935) noch nicht in Leipzig angekommen sei; daher habe er sich noch nicht bedanken können. Diese Information zeigt einmal mehr, dass Litt Nohls Veröffentlichungen stets mit lebhaftem Interesse verfolgte. „Viele Grüße und alles Gute für Ihre Englandreise” schließen diese Postkarte ab.
Fünfeinhalb Monate später, am 26.11.1935, folgt eine weitere, nur drei Sätze enthaltende Karte Litts, auf der er sich für die Übersendung der zweiten Auflage des Nohl-Buches „Die Pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie” bedankt und hinzufügt, er finde es erfreulich, dass Nohl diese Auflage im Vergleich mit der Erstauflage (im „Handbuch der Pädagogik”) inhaltlich unverändert gelassen habe. — Unverständlich bleibt m. E. aber der Tatbestand, dass Litt das neue Vorwort jener „2. Auflage” völlig übergeht. Oder sollte er dieses Vorwort im Ganzen übersehen oder mindestens einen erschreckenden Satz darin überlesen haben? Der Satz lautet nämlich: „Wenn unser neuer Staat mit gutem Grund sein erstes und entscheidendes Mittel in einer diktatorischen Massenftihrung hat, die auch den Letzten noch national erweckt und bewußt macht und unserm Volk die Einheit seines Gefüges wiedergibt, wobei dann ganz neue pädagogische Aufgaben und Möglichkeiten erscheinen, so werden die wahren Einsichten der pädagogischen Bewegung in irgendeiner Gestalt doch in diese Arbeit eingehen müssen.”
Inhaltlich bezeichnet die erste Hälfte des Satzes einen Bestandteil einer Vorlesung Nohls aus dem Wintersemester 1933/34 unter dem Titel „Die Grundlagen der nationalen Erziehung”. Litt konnte von diesem Tatbestand im Jahre 1935 noch nichts wissen, weil Nohl ihm die maschinenschriftliche Fassung des Textes weder vor noch nach dem Wintersemester 1933/34 zugesandt hatte. Vorgreifend ergänze ich: Nohl hat Litt jenes Vorlesungsmanuskript erst in den letzten Tagen des Jahres 1940 zugeschickt! Ich werde später auf jenen Vorlesungstext zurückkommen.
Dem letzten erhalten gebliebenen Brief Litts aus dem Jahr 1935, er datiert vom 21.12., muss ein weiterer vom gleichen Tage oder kurz zuvor vorangegangen sein; er ist aber im Litt-Nachlass nicht vorhanden. Litt bezieht sich in jenem relativ ausführlichen Brief vom 21.12.1935, den er als „Nachwort” zu einem kurz zuvor an Nohl gerichteten Schreiben bezeichnet, auf kritische Bemerkungen Nohls zu einem Vortrag, den Litt kurze Zeit vorher gehalten hatte. In diesem Vortrag, den er Nohl zugesandt haben muss, hatte Litt offensichtlich einige kritische Anmerkungen zu Aussagen Diltheys gemacht, Anmerkungen, die den Widerspruch Nohls hervorriefen. Darauf ging Litt nun in seinem brieflichen „Nachwort” ein: Nohl habe „natürlich gemerkt”, dass es in jenem Vortrag nicht um Dilthey, sondern um die „vulgarisierte Lebensphilosophie” ging, „der man jetzt in den Äußerungen der Maßgeblichen immer wieder begegnet”. Gemeint waren zweifellos nationalsozialistische Wel-tanschauungs-„Philosophen” wie der NS-„Reichspressechef` Otto Dietrich.
Litt kommentierte nun seine Antwort auf Nohls Einwände, deren briefliche Fassung, wie gesagt, nicht erhalten ist, die man m. E. aber aus Litts Brief an Nohl entnehmen kann: Diltheys „lebensphilosophische” Auffassung des Verhältnisses von „Weltanschauung” und „Philosophie” tendiere oft zu Formulierungen, in denen philosophisches Denken letztlich als dominant durch irrationale, unbewusste oder nur halb bewusste Sichtweisen und Motive bestimmt würde. Er, Litt, setze solche Aussagen zwar nicht mit den Auffassungen nationalsozialistischer Autoren gleich. Aber Diltheys Lebensphilosophie enthalte doch zahlreiche Aussagen, die es NS-Philosophen erlaubten, sich auf Dilthey zu berufen. Litt wies in den Anmerkungen seiner Broschüre, die er Nohl wahrscheinlich zugeschickt hatte, auf zahlreiche entsprechende Stellen in Band acht der Gesammelten Schriften Diltheys (hrsg. v. B. Groethuysen, Leipzig/Berlin 1931) im Abschnitt „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen”, S. 75-118, hin.
Wie sehr nun aber Litt daran gelegen war, solche Auffassungsunterschiede zwischen ihm und Nohl nicht zum Anlass werden zu lassen, die Freundschaft beider zu gefährden, zeigt der letzte Absatz des Briefes: Er, Litt, habe Nohls und dessen, was er zu tragen habe, „oft gedacht”. „Der Bund der anständigen Leute muß sich ja gerade heute seiner inneren Zusammengehörigkeit versichert halten, damit der Einzelne nicht verzweifelt”. Dann folgt eine — zumal bei Litt — überraschende Aussage: „Im Übrigen ist es mir zur Gewißheit geworden: Das ,andere Deutschland’ ist nicht tot, es rührt sich immer deutlicher. Natürlich ist das noch keine Wandlung; aber wenn man das weiß, ist man vor dem Gefühl bewahrt, auf völlig verlorenem Posten zu stehen.”27 Litt schließt mit dem Appell: „Halten wir 1935 den Nacken steif und halten wir zusammen! Herzlichst Ihr Th. Litt”

1936
Für das Jahr 1936 liegen keine postalischen Belege Litts und Nohls vor. Dass es in diesem Jahr keinen Briefwechsel zwischen beiden gegeben haben sollte, ist unwahrscheinlich. Der Verlust ist insofern besonders bedauerlich, weil im August dieses Jahres die Olympischen Spiele in Berlin ausgetragen wurden, mit denen das NS-System internationales Ansehen gewinnen und das „neue Deutschland” demonstrieren wollte, was ihm, von einigen rassistischen Entgleisungen abgesehen — besonders Hitlers Weigerung, dem mehrfachen, dunkelfarbigen amerikanischen Sprintstreckensieger Jesse Owens persönlich die Goldmedaille zu überreichen —, rein sportlich auch gelungen ist. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob und ggf. wie Litt (und Nohl) auf die Großveranstaltung reagiert haben.

1937
Aus dem Jahr 1937 liegen drei maschinenschriftliche Briefe Litts an Noh’ vor. Den ersten dieser Briefe vom 19. April beginnt Litt mit der Bemerkung „Ich habe unerwünscht lange nichts mehr von Ihnen gehört und möchte Sie hierdurch zu einer Äußerung anreizen”. In ironischer Form fährt er fort: Das Einzige, was er wisse, sei, „daß die himmlischen Mächte Ihnen den so überaus gesinnungstüchtigen Herrn Heyse als Kollegen beschert haben”. Hans Heyse, engagierter Nationalsozialist, war auf die zweite Professur für Pädagogik in Göttingen berufen worden.28 — Über sich teilte Litt mit, dass er seine Emeritierung beantragt habe. U. a. spiele dabei auch die Verschleppung seines Antrags auf Genehmigung einer Vortragsreise nach Österreich durch das Berliner Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter Bernhard Rust eine Rolle; er habe immer noch keine Antwort auf sein Gesuch.
Einmal mehr betont Litt, dass das Interesse der Studenten an seinen Vorlesungen immer noch erfreulich sei. Wenn er trotzdem die Emeritierung beantragt habe, so sei der Grund dafür, dass „der Zustand der Hochschule unbeschreiblich entwürdigend” sei. — Seiner Familie gehe es „nicht übel”, „man kapselt sich ein, so gut es gehen will”. Litt schließt den Brief mit der Erwartung, Nohl möge einmal von seinem Ergehen berichten. Der Schluss lautet: „Ich bin mit den herzlichsten Grüßen Ihr Th. Litt”.
In einem Zusatz ergänzt Litt, gerade bringe die Post einen Brief von Leise-gang mit der Mitteilung über Nohls Emeritierung. Litt setzt hinzu: „Wie sehr ich mit Ihnen fiihle, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.” Dem folgenden Brief Litts ist dann indirekt zu entnehmen, dass Nohl in der Zwischenzeit Litt geantwortet hatte.
Litts zweiter, erneut relativ langer Brief vom 9.6.1937 beginnt mit der Mitteilung, er wisse bereits durch Flitner, dass die geschäftsführende Redaktion der „Erziehung” (faktisch waren das Sprangerm und Flitner) einen zur Veröffentlichung eingereichten Vortragstext Litts zum Problem der „Verwirrung des Generationsverhältnisses in der Gegenwart” abgelehnt habe. „In der Tat” sei, so gebe er (Litt) zu, der letzte Teil des Manuskripts „etwas gefährlich”, und er finde die Ablehnung „nicht unbegreiflich”. Er habe nun Flitner sofort geschrieben, dass seiner Meinung nach der Zeitpunkt gekommen sei, „mit der ‚Erziehung’ Schluß zu machen”. Die Zeitschrift habe sich inzwischen „zu mancher unwahrhaftigen Konzession bereit gefunden”, da sei es „an der Zeit, daß wir vom Schauplatz abtreten”. „In jeder Hinsicht” sei es besser, „daß das völlige Verstummen auch der loyalsten Opposition auch äußerlich ungemindert sichtbar wird.” Er wolle nur noch Flitners Antwort abwarten; allerdings setzte er — m. E. inkonsequent — hinzu: falls Flitner „nicht einen annehmbaren Vorschlag mache”. Bemerkenswert ist, dass Litt in seinem Brief erwähnt, er wolle, wenn Flitner einen solchen Vorschlag nicht machen könne, mit seinem Austritt Nohl „nachfolgen”.
Litt bringt dann seine Freude darüber zum Ausdruck, dass Nohl sich, wie er von Flitner wisse, in seinem „neuen Lebensstande” wohl fühle. Er selbst warte noch vergeblich auf seine “Entlastung”, gemeint war zweifellos die Entpflichtung. — Er schließt „mit herzlichsten Grüßen stets Ihr Th. Litt.”
Kürzer als der vorangehende Brief Litts ist seine Mitteilung an Nohl vom 20.8.1937, dass er nun zum 1.10. des Jahres emeritiert werde. Er selbst sei „für die Kehrseite der Angelegenheit” keineswegs „blind” — gemeint war sicherlich der Abschied von der akademischen Lehre —, habe aber doch „das Gefühl einer ungeheueren Erleichterung” angesichts der „Atmosphäre von Zwang, Lüge, Feigheit, Intrigue” in der Universität. Er hoffe, dass Nohl „in der neuen Lage schon etwas heimisch geworden” sei. Einmal mehr fällt auf, dass Litt, bevor er seinen Brief mit den Worten „herzlichst grüßt sie Ihr Th. Litt” schließt, einen bedauernden Satz einflicht, ähnlich seiner Äußerung vom 19.4. d. J.: „Es ist so schade, daß man sich gar nicht mehr sieht.”

1938
Die drei ersten, jeweils nur wenige Sätze umfassenden Karten Litts an Nohl im Jahre 1938 — vom 3.7., 22.8. und 1.9., alle mit der Anrede “Lieber Herr Nohl” — galten inhaltlich dem Dank an Nohl für seine Einladung, Litt möge ihn in Göttingen oder Lippoldsberg — gemeint war das Nohl und seinem „Schüler-” und Freundeskreis gehörende dortige Landheim — besuchen. Litt konnte den ersten von Nohl vorgeschlagenen Termin nicht wahrnehmen, beim zweiten und dritten, an denen Litt von Kassel aus eine mehrtägige Wanderung nach Lippoldsberg plante, machte schlechtes Wetter ihm einen Strich durch die Rechnung. — Schon in seiner ersten Postkarte an Nohl vom 3.7.1938 hatte er seiner Vorfreude mit dem Satz Ausdruck gegeben: „Wir haben uns ja […] nach langer Zeit viel zu erzählen.” Das Vorhaben, das Nohl und Litt bereits in vorangehenden Jahren mehrfach angesprochen hatten, kam auch in den folgenden Monaten nicht zustande. Es ist erst später, wahrscheinlich, einige Zeit vor dem Kriegsausbruch 1939, verwirklicht worden und blieb dann, vor allem für Litt, eine lebenslang in der Erinnerung haftende, schöne Erfahrung, auf die er in seiner späteren Korrespondenz mit Nohl mehrfach verwies.
Litts letzter, am 25.12. maschinenschriftlich verfasster Brief des Jahres 1938 an Nohl setzt unvermittelt mit dem Satz ein: „Ich habe in den letzten Tagen Ihre ‚Menschenkunde’ gründlich studiert und an der Lektüre viel Freude erlebt. Das Buch liest sich sehr angenehm und regt immer wieder zu eigenem Weiterdenken an.”
Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Litt und Nohl ermutigte Litt dann, einige kritische Bemerkungen zu wissenschaftstheoretischen Aspekten des Textes zu skizzieren. Die erste Bemerkung betraf Nohls Formulierungen zum „Verhältnis des Leiblichen zum Seelischen”. Zunächst stelle „Nohl die physiologischen Bedingtheiten” der menschlichen Existenz neben den „geistigen Einsatz”. Dann aber werde dieser „geistige Einsatz” — gemeint war offensichtlich die geistige Dimension — „auf eine rein physiologische Voraussetzung” zurückgeführt oder mindestens „mit zurückgeführt”. Litt schreibt dann in der für ihn in wissenschaftlichen Disputen charakteristischen Schärfe: „Hinter solchen Formulierungen steht ein Schema kausalen Denkens, das implizit den Geist und die Freiheit zerstört”. Der „einzige Ausweg” aus solchem Denken sei: „man muß die physiologische Betrachtung als eine methodische Abstraktion ansehen, die die noologische” (d. h. hier: die geisteswissenschaftliche bzw. erkenntnistheoretische Betrachtungsweise; W. Kl.) „nicht neben sich hat, sondern durch sie recht eigentlich aufgehoben wird”, (d. h. im Sinne Hegels und Litts zugleich „aufbewahrt” und auf höherer Reflexionsebene überwunden wird; W. Kl.). Litt fährt fort: “Es handelt sich um logisch notwendige Denkstufen, nicht um ein Nebeneinander von gleichberechtigten Begriffen.”
In einem zweiten Briefabschnitt betont Litt, der dialektisch denkende Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheoretiker: „Von gleicher Art sind die Bedenken, die ich gegen das Bild von den ‚Schichten’ habe. Gewiß ist der Gebrauch, den Sie von diesem Bild machen, frei von den Irrungen, die es bei manchen anderen mit sich führt. Aber wenn Sie z. B. auf S. 33 von den ,Beziehungen der einzelnen Schichten zueinander’ sprechen, so ist damit, wie ich meine, die substantialisierende Verständigung der ,Schichten’ weiter getrieben, als mit dem Prinzip der strukturellen Einheit vereinbar ist. Und wenn Sie sagen, daß diese Einheit erst das Resultat einer bewußten Selbstgestaltung ist, so würde ich erwidern, daß diese Bemühung erfolglos sein müsste, wenn die Einheit nicht schon ,an sich’ im ursprünglichen Seelenleben angelegt wäre (gemeint war m. E.: als angelegt verstanden werden müsste; W. Kl.). Litt ergänzt diesen kondensierten wissenschaftstheoretischen Diskurs durch die folgende Bemerkung: „Hoffentlich halten Sie mich nicht für einen Beckmesser, der nur bemäkeln kann und will. Ich habe immer gefunden, daß die Diskussion der Dinge, in denen man nicht ganz zusammengeht, förderlicher ist als die Hervorhebung der vielen Gemeinsamkeiten.”
Im Schlussabschnitt schreibt Litt: „Ich hoffe und wünsche, daß Sie wenigstens mit einem Teil Ihrer Kinder34 ein friedliches Fest begehen. Mehr als […] zeitweilige Entspannung ist uns ja nicht vergönnt. Mit herzlichen Grüßen und Wünschen stets Ihr Th. Litt.”

1939
Es liegen keine postalischen Dokumente vor. Sie sind höchstwahrscheinlich verloren gegangen. Indizien der Korrespondenz des Jahres 1940 sprechen aber dafür, dass es auch 1939 postalische Kontakte zwischen Litt und Nohl gegeben hat.

1940
Aus dem Jahre 1940 liegen vier Briefe bzw. Karten Litts an Nohl vor. Einmal mehr ist es besonders bedauerlich, dass — mit einer gewichtigen Ausnahme —auch für dieses und die folgenden Jahre keine Briefe oder Karten Nohls an Litt erhalten sind.
Am 6.l.1940 sandte Litt einen zwei Seiten umfassenden Brief an Nohl. In einem kurzen Einleitungsabschnitt teilt er dort mit, dass für ihn die Festtage „diesmal in besonderer Stille” verlaufen seien, weil er seine „sehr erholungsbedürftige Frau mit beiden Söhnen in die Winterfrische geschickt” habe; er könne „nicht verhehlen, daß für ihn eine solche Zeit völlig ungestörter Besinnung manchmal sehr heilsam” sei.
Litt bedankt sich dann bei Nohl für die Zusendung seiner „Ethik” — gemeint war Nohls 1939 erschienenes Buch „Die sittlichen Grunderfahrungen — Eine Einführung in die Ethik” — und für mehrere, bei Nohl verfasste Dissertationen; besonders habe ihn die „ausgezeichnete Arbeit” von Edmunde Haccius über „Die pädagogische Bewegung in Herders Reisejournal” (Göttinger Studien …, H. 32, 1939) „beschäftigt und interessiert”35. Litt geht dann auf Nohls Buch ein: „Ihr Buch birgt einen erstaunlichen Reichtum an historischer und persönlicher Erfahrung. Es kommen alle Grundmotive des sittlichen Lebens zum Anklingen. Das macht die Lektüre zu einem wirklichen Genuß.”
Er konfrontiert dann unvermittelt seine eigene, dominierende Denkweise mit der Nohls: Ihm, Litt, würde bei der Lektüre der Arbeiten Nohls „immer wieder klar”, daß „seine eigene Manier, an den Problemen herumzubosseln, eigentlich dem Leser Unerträgliches oder wenigstens schwer zu Ertragendes zumute […] Dabei wird die Fülle der Phänomene leicht verkürzt”. Aber schließlich „sei auch in dieser Hinsicht jeder sich selbst sein Schicksal”. Und dann folgt unmittelbar eine m. E. hoch bedeutsame Aussage: „Überhaupt wird es auch in der Philosophie so sein, daß die Wahrheit nur in der Kooperation der verschiedenen Denktypen ans Licht gehoben werden kann. So kann ich auch nicht von dem Versuch ablassen, hinter dem Reichtum der Richtungen des sittlichen Lebens eine einheitliche Wurzel zu suchen, die dann natürlich nicht in einem Begriff ausgesprochen werden kann, denen jene (m. E. sind die sittlichen Richtungen gemeint; W. Kl.) logisch zu subsumieren wären.
Litt weist hiernach auf ein neues Buchmanuskript hin, das er kurz vor dem Kriegsausbruch abgeschlossen habe und in dem er „in jener Richtung vorzudringen versucht habe”, die er mit seiner Bemerkung über die gesuchte „einheitliche Wurzel” andeutet. Er setzt hinzu, dass er den zunächst erwogenen Gedanken, jenes Manuskript zum Druck zu geben, angesichts der ,gegenwärtigen Situation’ aufgegeben habe.
1939 waren in der Reihe „Göttinger Studien zur Pädagogik” — über die Arbeit von Frau Haccius hinaus — folgende, bei Nohl geschriebene Dissertationen abgeschlossen und veröffentlicht worden: Anna Ritter: „Die Frage der Bewußtheit in der Erziehung des Volkes bei E. M. Arndt” (Nr. 30) und Olga von Hippel: „Die pädagogische Dorfutopie der Aufklärung” (Nr. 31), darüber hinaus die Dissertationen von Hildegard Brökel-mann: „Mädchenerziehung im Sauerland” (Druckort Dortmund) und Karl Siegel „Volksgeschichtliche Studien über Herbart und die Herbartianer” (Weende/Göttingen). Die Publikation dieser Dissertationen in Nohls Göttinger Wirkungszeit seit 1921 — es waren bis 1939 53 Dissertationen, ab 1948 kamen dann weitere hinzu — zeigt, dass Nohl mit der Zwangsemeritierung nicht das Promotionsrecht entzogen worden war. Ergänzend sei erwähnt, dass weitere, von Nohl betreute Dissertationen erst ab 1948 zum Abschluss kamen.

Schon anderthalb Monate nach dem langen Brief Litts an Nohl vom 6.1.1940, am 18.2. dieses Monats, bedankte Litt sich zunächst für eine familienbiografische Schrift, die Nohl kurz zuvor als Manuskript unter dem Titel „Hermann Nohl 1850 (sein Vater; W. KI.) und die Geschichte seiner Familie. Erinnerungen für seine Enkel” drucken ließ. Litt nahm diese Darstellung zum Anlass, ohne konkrete Einzelheiten zu nennen, von Nohl geschilderte „glückliche, harmonische Lebensphasen” hervorzuheben, nannte aber auch Schicksalsschläge; wahrscheinlich war vor allem der frühe Tod seiner Frau gemeint, Schicksalsschläge, die Nohl jedoch ohne Bitterkeit, ohne „Hadern mit dem Schicksal” letztlich zu verarbeiten vermocht habe. Er, Litt, müsse hingegen gestehen, dass bei ihm „Stunden tiefster Niedergeschlagenheit” und “Zweifel an dem Ertrag der eigenen Lebensarbeit nicht ausblieben”. Äußerungen ähnlicher Art sind bereits mehrfach in meinem Beitrag erwähnt worden, und sie werden im Folgenden weiter zur Sprache kommen.
Wie Litt selbst betont, sei der Unterschied der Lebens-Grundstimmung beider Männer in der Korrespondenz zwischen ihnen unverkennbar: Bei Nohl, der auch in oder nach schwierigen Lebenserfahrungen letztlich immer wieder obsiegende Optimismus und seine Bemühungen um aktive, vor allem pädagogische Wirklichkeitsgestaltung — bei Litt die eher skeptische Einschätzung der begrenzten praktischen Wirkungsmöglichkeiten, nicht zuletzt auch im Felde der Pädagogik. Im letzten Absatz des Briefes erwähnt Litt, dass ein geplanter Besuch Nohls bei Litt und seiner Frau nun leider nicht zustande komme, da Nohl, wie er Litt mitgeteilt habe, zu dem vorgeschlagenen Zeitpunkt bereits durch einen gebuchten Urlaub festgelegt sei.
Litts Brief vom 24.6.1940 schließt insofern an den vorangehenden vom 18.2. an, als er mit dem Dank für den zweiten Teil der Familiengeschichte beginnt, die Nohl wohl bald nach der Sendung vom 18.2. an Litt übersandt hatte. Die Verzögerung seines erneuten Dankes begründet Litt damit, dass ihn „der Wirbel der Zeitereignisse […] so mitgenommen” habe, dass ihm „briefliche Äußerungen fast unmöglich waren”.
Er skizziert dann in wenigen Sätzen einige Parallelen der von Nohl dargestellten Familiengeschichte mit seinen (Litts) Erinnerungen an seine Großeltern und Eltern, an die ,menschliche Gediegenheit’ jener Generation, „ihren Wert wie ihre Grenze”, aber auch an seine Jugend und seine „philologisch( Studienzeit”. „Der Menschentypus, der jetzt im Abendland die Zügel in die Hand nimmt, hat sicherlich auch seine nunmehr bewährten Tüchtigkeiten aber mich mit ihm zu befreunden, ist mir unmöglich”. „Und die kriegerischer Ereignisse kann ich im Grunde auch nur als einen neuen Akt in der Tragödir Europas ansehen. Der Blick in die Zukunft erschreckt mich.” Litt wünsch Nohl abschließend „schöne Tage in Lippoldsberg”; er selbst könne sich nich entschließen, etwas zu unternehmen, „weil die Einberufung unseres Älteste) vor der Tür” stehe.
Sofern nicht Briefe oder Karten Litts an Nohl verloren gegangen sind, hat es nach dem 24.6.1940 bis zu den Weihnachtstagen dieses Jahres keinen Briefwechsel zwischen beiden gegeben. Gründe für diesen Sachverhalt habe ich nicht ermitteln können. Umso gewichtiger ist die Korrespondenz zwischen beiden Männern aus den letzten Tagen des Jahres 1940 und der Tatbestand, dass der nächste Briefkontakt zum Thema der Vorlesung Nohls durch Litt erst gut fünf Monate später, am 5.6.1941, wieder aufgenommen wurde.
Um den Zusammenhang und die inhaltlichen Akzente der im Folgenden darzustellenden Phase der Beziehung zwischen Nohl und Litt im Zeitraum zwischen den letzen Tagen des Jahres 1940 und den ersten fünf Monaten des Jahres 1941 nachvollziehbar und meine Interpretation verstehbar zu machen, werde ich die einzelnen Phasen dieses Prozesses durch Zwischenüberschriften kennzeichnen.
Nohl sendet seine Vorlesung aus dem Wintersemester 1933/34 „Die Grundlagen der nationalen Erziehung” zum Jahresende 1940 mit einem kommentierenden Begleitbrief an Litt.
In der letzten Dezemberwoche des Jahres 1940 sandte Nohl seine maschinenschriftlich fixierte Vorlesung „Die Grundlagen der nationalen Erziehung” im Umfang von 130 Seiten mit einem handschriftlichen Begleitbrief an Litt. Die ungenaue Datumsangabe dieses Briefes lautete „im Dezember 1940″. Dieser Brief war zugleich als Gruß zum 60. Geburtstag Litts am 27.12.1940 gemeint:
„Lieber Herr Litt,
ob ich Ihnen mit dieser Abschrift meiner Vorlesung vom Winter 1934, un-
verändert wie ich sie damals hielt, wirklich eine Freude mache? Es wäre mein großer Wunsch, denn es giebt (sic!) für mich zur Zeit kein Problem, das mir wesentlicher wäre als diese Auseinandersetzung, und ich weiß keinen Kollegen im Reich der Pädagogik, mit dem ich so gern eines Sinnes wäre wie mit Ihnen. Wenn ich auch oft wider den Stachel Ihrer Kritik und Auffassung löckte, so hatte ich doch immer den ehrlichsten Respekt vor ihr, und ich sah oft die echte Gerechtigkeit ihres (sic!) Urteils und die moralische Autorität Ihrer Person, auch wo ich anders darüber denken mußte. Die Vorlesung macht den Versuch, in einem Augenblick höchster allgemeiner Spannung unsere pädagogische Haltung der großen Bewegung, die über uns hinweg-stürmte, vor der Jugend meines Kollegs zur Geltung zu bringen und bei aller Anerkennung der neuen Sicht ihre Wahrheit ohne Polemik und Apologie zu behaupten. Sie werden sagen, wieweit mir das gelungen ist. Jedenfalls wollte ich an diesem Tage mit Ihren Freunden und Schülern bei Ihnen sein und feiern helfen, dankbar, daß ein Mann wie Sie in diesen schweren Jahren wie ein Leuchtturm der Wahrhaftigkeit in unserer Welt stand! Mit innigen Wünschen für Sie und Ihr Haus Ihr treu ergebener Nohl”
Litt antwortete am letzten Tag des Jahres 1940, am 31.12., also fast unmittelbar nach dem Eintreffen der Sendung Nohls.

„Lieber Herr Nohl!
Als aus der schwarzen Bundeslade der von Ihnen beigesteuerte Band hervorkam, da habe ich besonders herzliche Freude empfunden. Denn mir ist in den zwanzig Jahren pädagogischen Bemühens, die hinter uns liegen, die freundschaftliche Begegnung mit Ihnen und der Gedankenaustausch mit Ihnen eine einzigartige Bereicherung gewesen. Und heute kann man doch schon deutlich sehen, daß das, was uns hier oder da trennen mochte, nur innere Differenzierung innerhalb einer einzigen Grundanschauung war. Fühle ich mich doch heute selbst den wildesten entschiedenen Schulreformern durch eine gewisse Gemeinsamkeit des Grundwollens verbunden.
Über Ihre Vorlesung, die ja in Wahrheit ein druckreifes Buch ist, werde ich Ihnen nach gründlicher Lektüre schreiben. Schon die flüchtige Durchsicht hat mir gezeigt, daß es Ihnen besser als mir gelungen ist, Ihre eigene Haltung zu wahren und dabei doch das Anerkennenswerte in dem Neuen zu würdigen und einzubauen. Bei mir ist vom ersten Tage an bis heute der Glaube an die pädagogische Echtheit der einschlägigen Manifeste und Versuche nicht stark genug gewesen, um mich zu einer positiv förderlichen Auseinandersetzung zu bringen. Nicht als ob ich bezweifelte, daß bei vielen, die sich in den Dienst der Bewegung gestellt haben, ein echter pädagogischer Idealismus lebendig ist. Wohl aber kann ich bei den Leitenden und bis heute Maßgeblichen nichts weiter finden als eine Denkart, der der einzelne Mensch nichts weiter ist als ein Objekt, das man so bearbeitet, wie man es im Interesse bestimmter zu erreichender Ziele für richtig hält. Zumal Hitlers eigene Äußerungen in „Mein Kampf” scheinen mir in dieser Hinsicht absolut beweiskräftig. Und es scheint mir, daß in dem Spiel der Kräfte dieser Machiavellismus durchaus die Führung behalten hat. Kein Wunder, da er ja in der Wahl der Mittel keine Skrupel kennt.”
Inhaltlich, aber implizit sind solche Sätze Litts eine Kritik an Nohls verharmlosend-euphemistischer Auslegung und seinen Zustimmungsbekundungen in seinem Vorlesungstext. So, als wolle Litt dann die implizit angedeutete Differenz zwischen seiner und Nohls Sichtweise nun wieder abmildern, fährt er dann in seinem Brief fort: „Aber ich bin entschlossen, mich auch in dieser Hinsicht von Ihnen in die Schule nehmen zu lassen. Es wäre ja auch für mich selbst besser, wenn ich mehr an Bejahenswertem zu finden vermöchte.
Litt geht dann in seinem Brief unvermittelt auf eine private, persönliche Beziehungsebene über: „Nur mit Zagen schließe ich an den Ausdruck meines wahrlich von Herzen kommenden Dankes die besten Wünsche für das Neue Jahr an. Ich kann mir vorstellen, wie viele Sorgen Sie um Ihre Kinder haben. Bei uns ist es in anderer Art ebenso. Der Älteste ist fertig ausgebildet (gemeint war: militärisch; W. Kl.), der Jüngste schon ausgemustert. Die Zukunft ist voll von drohenden Möglichkeiten. Und wie die Dinge auch laufen mögen: Gutes können wir uns von der Entwicklung der Dinge schwerlich versprechen. Die Welt, der wir geistig und sittlich angehören, ist in rapidem Versinken.” Litt schließt: „Trotz allem: wir müssen den Nacken steif halten. In diesem Sinne viel gute Wünsche und herzliche Grüße, denen meine Frau
sich anschließt. Treulich Ihr Th. Litt.”
Ich werde im Folgenden einige Passagen aus der Vorlesung zitieren, um Beispiele für ihre politische und pädagogische Problematik, genauer: das erschreckend hohe Maß an Zustimmung zu nationalsozialistischen Programm-Elementen zu verdeutlichen. Eine ausführliche Gesamtdarstellung dieser Vorlesung findet man in dem von mir und Johanna-Luise Brockmann verfassten Buch „Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus — Herman Nohl und seine ,Göttinger Schule’ 1932-1937″.

1941
Litts angekündigter Brief vom 4.6.1941 zu Nohls Vorlesung, fünf Monate nach Litts erstem Dankesgruß vom 31.12.1940, und ein weiterer Brief vom Jahresende 1941.
Es hätte nahe gelegen, dass Litt nach dem ersten, wie er selbst betonte, ‚flüchtigen’ Einblick in Nohls Vorlesungstext vom 31.12.1940 in der Folgezeit bei gründlicher Lektüre zu einer anderen, weitgehend kritischen, vielleicht sogar erschrockenen Einschätzung der Nohl-Vorlesung gekommen wäre. Als Leser darf man gespannt sein, ob diese Möglichkeit in Litts Brief an Nohl vom 4.6.1941, also mehr als fünf Monate nach jener ersten Reaktion Litts vom Jahresende 1940, bestätigt wird. Auffällig ist der lange Zeitraum von mehr als fünf Monaten zwischen Litts erstem Einblick in den Vorlesungstext und seiner Stellungnahme von Anfang Juni 1941. Denn Litt war, wie der größte Teil seiner Korrespondenz zeigt, bekannt dafür, ihm zugesandte Schriften sehr bald nach ihrem Eintreffen zu lesen und zu kommentieren. Sollte er sich im vorliegenden Fall mit der Stellungnahme schwer getan haben? Belege dafür gibt es m. W. bisher nicht.
Nach der Anrede „Lieber Herr Nohl” heißt es: „Ich habe nun endlich die Muße gefunden, Ihre pädagogische Vorlesung von 1933/1934 in aller Gemächlichkeit auf mich wirken zu lassen. Und nach der Lektüre kann ich nur sagen: Welcher Irrsinn ist es doch gewesen, einen Mann wie Sie gehen zu lassen, der so offenkundig gewillt war, der neuen Zeit ihr Bestes abzugewinnen, und der sich mit so viel Liebe in gewisse unter ihren Grundtendenzen eingelebt hat.”
Dann folgt eine lange Passage, die nicht der Form, aber dem Inhalt nach m. E. durchaus als Kritik an Nohl gelesen werden kann: „Ich schrieb Ihnen ja bereits, daß ich dessen vollkommen unfähig gewesen bin, weil ich auch da, wo ich sachlich zustimmen konnte (und das konnten wir, die wir in unserer Weise doch immer am deutschen Volk zu arbeiten bemüht gewesen waren, mit gutem Gewissen in Anspruch nehmen), an einen durchgängig redlichen Willen und an die dazu gehörige Fähigkeit zu glauben nicht imstande war. Also etwa was die Fürsorge für die Familie und die Frau angeht: bei allen schönen Redensarten geschah und geschieht doch unendlich Vieles, was genau in entgegengesetzter Richtung wirkt. Und ich kann nicht finden, daß alle von berufener Seite erfolgenden Proteste Wesentliches daran ändern. Es geht in grauenhafter Monotonie weiter — auch abgesehen von den Wirkungen des Krieges. Ähnlich steht es mit der Sprachpflege. Alles, was in dieser Hinsicht an Bejahenswürdigem vor sich geht, geschieht in ausgesprochener Gegenstellung gegen die offizielle Behandlung, besser Mißhandlung der Sprache. Oder die Pflege des Bäuerlichen, die vielfach einfach auf Verkitschung und falsche Sentimentalisierung hinausläuft. Den tiefsten Grund von alledem kann ich nur darin finden, daß die herrschende Strömung alles und jedes nur in der Stellung des Mittels sehen kann, das einem sehr eindeutigen Zweck zu dienen bestimmt ist. Der Geist der Propaganda hat sich alles unterworfen. Und darin zeigt sich hinwiederum dasjenige, was den innersten Kern des von mir Abgelehnten ausmacht und worüber man sich besser nicht schriftlich ausspricht. (Noch ein Beispiel: Besonders schön ist die Stelle, an der Sie von der Bedeutung des Waldes für das deutsche Gemütsleben handeln. Nun frage ich Sie: wann ist der Wald so von Jugend entleert gewesen wie in den Jahren seit 1933? Ich habe das auf allen Wanderungen immer wieder feststellen können. Der Technizismus wird mit allen Mitteln in die Jugend hineingetrieben!).
Die Frage, die wir, die ,Träger der Bildung’ bei alledem an uns zu stellen haben, ist doch wohl die, warum die Kräfte des Widerstandes gegen diese Entwicklung zu schwach gewesen sind. Und da spricht doch wohl ihr VI. Kapitel das Entscheidende in aller Klarheit aus. Ich gestehe, daß ich früher nicht gewußt habe, wie sehr es den Führern der deutschen Bildungsschicht an einer echten inneren Formung und einem sichern Willen zur Behauptung des Besten in uns gefehlt hat.
Wenn ich nun sehe, daß ein Mann wie Sie imstande gewesen ist, dem Neuen mit so viel mehr Vertrauen entgegenzutreten und ihm aus sich so viel an beseelender Kraft zu leihen, dann lege ich mir eine Frage vor, die mich schon oft beschäftigt hat: ob ich aus einer gewissen inneren Dickfälligkeit heraus mich dem Kommenden verschlossen habe und ob ein willigeres Entgegenkommen, von einer hinreichend großen Zahl geeigneter Menschen geübt, den Dingen einen anderen Lauf gegeben hätte. Ich komme dann aber immer wieder, wie ich Ihnen gestehen muß, zu einer verneinenden Antwort. Ich weiß von so vielen Fällen, in denen Menschen guten Willens es mit diesem Hinübertreten versucht haben, aber nur, um zu erkennen, daß ihr Einfluß auf die innere Gestaltung gleich Null gewesen ist. Auch sie wurden nur als Mittel verbraucht und hatten sich selbst verloren, ohne dem Ganzen damit im Geringsten zu helfen.
So kann ich schließlich nur sagen: Es wäre für uns alle ein unendliches Glück gewesen, wenn die verkündeten neuen Prinzipien in dem Sinne verstanden und betätigt worden wären, den Sie ihnen gegeben haben. Aber — ich fürchte, alles ist ferne davon geblieben. Wir können ja heute noch keine endgültige Bilanz ziehen. Alles ist noch in einer fürchterlichen Ungewißheit. Insoweit bitte ich auch meine Sätze als nur mit Vorhalt ausgesprochen anzusehen. Aber zu einer hoffungsfrohen Gesamtauffassung mich aufzu-schwingen ist mir vollkommen unmöglich. Ob dabei die nagende Sorge um unsere zwei Söhne — die beide im Osten stehen (der eine allerdings vorerst nur als Arbeitsmann) — (mitspielt; W. KI.), vermag ich nicht zu sagen.
Ich erneuere meinen herzlichen Dank für diese schöne und dauernde Gabe und bin mit den herzlichsten Grüßen stets Ihr Th. Litt.”
Folgende Feststellungen sind m. E. unverzichtbar: Dass der Brief Litts implizit an manchen Passagen des Vorlesungstextes Nohl Kritik übt, habe ich im Vorangehenden schon angesprochen. Litt blendet aber alle jene, z. T. breiten Passagen der Vorlesung aus, in denen Nohl höchst fragwürdige, ja oft erschreckende Zustimmungserklärungen zu Programm-Elementen oder bereits realisierten Maßnahmen des nationalsozialistischen Systems formuliert, oft in emphatischem Stil. Ich nenne sechs Beispiele:

  • Trotz offener, mutiger Kritik Nohls in der Vorlesung an einigen radikalen, inhumanen Programm-Elementen des Nationalsozialismus, die 1940 — also zum Zeitpunkt der Übersendung der Vorlesung an Litt — bereits realisiert bzw. geplant waren, plädiert Nohl dafür, dass die Familienpolitik „statt der wahllosen Unterstützung aller Familien nur nach dem Maßstab ihrer Not die erbgesunden Familien bevorzugen” müsse (S. 19); er fordert „eine Rassenpolitik mit der Front gegen den Osten” (S. 19) und verficht — mit Bezugnahme auf Plato — die These, dass „der nationale Erzieher eines Volkes nicht daran denken” könne, „Individualitäten zu züchten, sondern [er müsse] die Formung der Menschen nach einem festen Typus wollen, in dessen geschlossener Gestalt sich dann erst die freie schöpferische Bewegung entfalten darf” (S. 85, S. 90, S. 91, S. 92).
    Fünf Seiten später heißt es im gleichen Zusammenhang: „in der ganzen nationalen Breite entstand der neue Typus erst in der soldatischen Zuchtform, die Hitler unserem Volke vorgeschrieben hat, indem er es in die SA-Uniform und die Uniform des Arbeitsdienstes steckte” (S.99).
    In einem weiteren Abschnitt des gleichen Zusammenhanges bezieht sich Nohl kritisch auf Flitner, der in einem Aufsatz zur damaligen Situation in Deutschland die Auffassung vertrat: „regierbares Volk gestalten, das die Regentschaft erträgt und produktiv trägt”, das sei unser erstes Problem, die Bildung der Regentenschicht erst das sekundäre. Nohl setzt dagegen: „Ich meine, der ganze Aufbau, wie ihn der Führer der nationalsozialistischen Bewegung geschaffen hat, widerspricht dem. Nur der Führer lebt den Typus vor. Auch hier geht die Bewegung der Typenbildung unerbittlich nur von oben nach unten, und nur wenn die Führererziehung gelingt, wird auch die Volkserziehung gelingen.” — Schließlich heißt es zum Verhältnis des „Typus” zu der „freien Geistigkeit unseres Volkes”, dass „der Typus mit seiner Zucht und Gebundenheit die Voraussetzung aller wahren geistigen Entwicklung sein muß. Der Schritt geht nicht vom geistigen Reichtum zum Typus, sondern immer umgekehrt.” (S. 91)
    Dass Litt solche Thesen Nohls, deren Erläuterung oft mehrere Schreibmaschinenseiten umfasst, übergeht, vermag ich mir nur durch das Motiv zu erklären, dass er (Litt) jene geistige Freundschaft mit Nohl, die im Jahrzehnt seit etwa 1930 schrittweise intensiver geworden und für Litt offenbar eine geistige und seelische Stütze angesichts einer immer düsterer erscheinenden Gegenwarts- und Zukunftsperspektive war, nicht gefährden wollte. — Mir sei an dieser Stelle eine persönliche Anmerkung erlaubt: Ich hätte mir gewünscht, dass Litt, wie behutsam auch immer, Nohl offen geschrieben hätte, dass er, Litt, einer Reihe von Passagen der Vorlesung keinesfalls zustimmen könne.
    Hätte Nohl seine anfänglich erwogene Absicht verwirklicht, die Vorlesung als Buch zu veröffentlichen, so wäre ihm, und zwar mit guten Gründen, nach dem Ende des Krieges ein Entnazifizierungsverfahren unter Beteiligung von Vertretern der britischen Militärverwaltung in Niedersachsen wohl kaum erspart geblieben, und er wäre vermutlich nicht sofort in seine früheren Rechte als Universitätsprofessor wieder eingesetzt worden. Wenn es zu einem solchen Verfahren gekommen wäre, hätte es vielleicht einen ähnlichen Verlauf genommen, wie es im Falle Erich Wenigers der Fall gewesen ist: Weniger, nach seiner „Entlastung” in einem Überprüfungsverfahren im Jahre 1946, war kurz danach zum Direktor der Pädagogischen Hochschule Hannover ernannt worden, musste sich aber — keineswegs unbegründet! — vom Juli bis zum Freispruch im Oktober 1948 noch einmal einem Entnazifizierungsver-fahren aufgrund bestimmter, „NS-systemkonformer” Aussagen in einigen seiner militärpädagogischen Schriften rechtfertigen. Sein erneuter Freispruch erfolgte letzten Endes höchstwahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass seine Behauptung nicht widerlegt werden konnte, ihm seien Aussagen ohne seine Zustimmung von Personen der militärischen Publikationskontrolle im Jahr 1944 in sein Manuskript hineingeschrieben worden.
    Auch der folgende Brief Litts an Nohl wird hier — mit einer geringfügigen Ausnahme — vollständig zitiert, weil er die zunehmende Hoffnungslosigkeit Litts einmal mehr zum Ausdruck bringt. Das ist auch ein Symptom dafür, dass Litt nicht etwa durch den zunächst — bis etwa bis zum Oktober 1941 —siegreichen Angriffskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion positiv beeindruckt war: Im Oktober 1941 standen die deutschen Truppen vor Moskau und Stalingrad. Vielmehr haben ihn solche „Siege” wahrscheinlich zu noch stärkerer Skepsis als schon zuvor hinsichtlich der gesamten Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands veranlasst, und er sollte mit solcher Skepsis Recht behalten.
    Die einleitenden Sätze und der Schluss dieses Briefes legen überdies die Vermutung nahe, dass es in den vorangegangenen sieben Monaten des Jahres 1941 seit dem Brief Litts an Nohl vom 4.6. d. J. keine weiteren postalischen Kontakte zwischen ihnen gegeben hat.

Leipzig, den 23.12.1941 “Lieber Herr Nohl!
Ich möchte das alte Jahr nicht zu Ende gehen lassen, ohne mich noch einmal mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Denn persönliche Begegnungen werden ja durch die Umstände immer mehr zur Unmöglichkeit gemacht. Dabei ist das Bedürfnis, die Wucht der über uns hereinbrechenden Schicksale durch Aussprache mit den Menschen, denen wir uns verbunden wissen, ein wenig zu mildern, größer denn je. Ich möchte z. B. wissen, ob die relative Gelassenheit, mit der Sie den ,Bergrutsch’ früher ertragen haben, noch immer vorgehalten hat, möchte auch wissen, wieweit Sie die in mancher Hinsicht positive Bewertung gewisser Bestrebungen der Zeit durch den Fortgang der Geschehnisse hindurchgerettet haben. Bei mir ist die Überzeugung immer fester geworden, daß wir inmitten einer Götterdämmerung stehen, von der es mir fraglich ist, was von den uns wesentlichsten Dingen durch sie hindurchgeret-tet werden wird. […] Die metaphysische Abgründigkeit des Geschehenden drängt sich mir immer mehr auf. Dabei bin ich immer wieder starr, wie viele es noch immer in unseren Kreisen gibt, die augenscheinlich von den Dimensionen dieses Geschehens noch nicht eine blasse Ahnung haben.
Mit den allgemeinen Sorgen verschlingen sich die Befürchtungen für unsere Söhne. Der Ältere steht seit Monaten an der Ostfront. Jetzt ist gerade wieder einmal eine der quälenden Pausen in der postalischen Verbindung eingetreten. Der Jüngere hat als Arbeitsmann im Osten schlimme Tage erlebt, schlimm nicht so sehr wegen der Anstrengungen wie wegen der menschlichen Minderwertigkeit der Vorgesetzten und noch mehr wegen der Gemeinheit der ‚Kameraden’. Jetzt ist er als Funker in militärischer Ausbildung und findet es dort erheblich erträglicher als beim Arbeitsdienst.
Ich selbst habe neuerdings wieder einmal eine Probe davon erhalten, was man unter Pflege der ,Volksgemeinschaft’ im Kriege versteht. Nach einem sehr erfolgreichen (ich muß das zur Beleuchtung des Falles so sagen) Vortrage in Dresden ist mir durch die Gestapo jede Vortragstätigkeit im Lande Sachsen untersagt worden. Ich habe sofort an die Dresdener Zentrale die Frage gerichtet, was denn [im Original: „den”; W. Kl.] an meinem Vortrage dasjenige gewesen sei, was die ,Sicherheit von Volk und Staat’ bedroht habe. Ob ich je eine schriftliche oder mündliche Antwort erhalten werde? Aber alle Dinge dieser Art sind ja, verglichen mit dem, was auf dem Spiele steht, von einer tiefen Gleichgültigkeit, und das Einzige, was mich bei der Sache wurmt, ist wieder die Feigheit der Kollegenschaft. Es traf sich nämlich, daß der erste Vortrag, der unter das Verbot fiel, ein bereits angekündigter Vortrag für die öffentliche Sitzung der [Leipziger; W. KI.] Akademie der Wissenschaften war. Natürlich hat die Akademie nicht den leisesten Versuch gemacht, etwas dagegen zu tun, daß eines ihrer Mitglieder [gemeint war Litt; W. KI.] in einer ihrer eigenen Veranstaltungen den Mund verschlossen bekommt. Es wird, wie immer, schweigend gekuscht. Eine tief verächtliche Gesellschaft.
Bitte, lassen Sie mich einmal wissen, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht. Ist Ihr Heim an der Weser wieder frei gegeben?
Alle guten Wünsche für die kommende Zeit! Meine Frau schließt sich an. Stets Ihr Th. Litt”

1942
Aus diesem Jahr sind zwei Briefe bzw. Karten Litts an Nohl erhalten geblieben, denen, wie jenen Briefen zu entnehmen ist, jeweils Sendungen Nohls vorausgingen. Hinweise darauf, dass es in diesem Jahr mehr als die beiden postalischen Kontakte zwischen beiden Männern gegeben hat, sind nicht vorhanden.
Am 22. Januar 1942 bedankte Litt sich für einen „literarischen” Gruß Nohls. Es handelte sich um eine Würdigung des seit 1907 eng mit Nohl befreundeten Malers Erich Kuithan, der Leiter der Kunstschule der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena war und mit dem er seither bis zu dessen frühem Tod im Jahre 1917 in Kontakt stand.” Zu Beginn der 40er Jahre bereiteten Freunde Kuithans eine Gedächtnisausstellung der Werke des Malers vor, und Nohl veröffentlichte 1942 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung einen Aufsatz unter dem Titel „Ein vergessener Maler — Begegnungen mit Erich Kuithan”. Bei dem von Litt in seiner Karte erwähnten „literarischen Gruß” hat es sich vermutlich um das Manuskript eines Aufsatzes Nohls gehandelt. Litt schrieb, dass er sich dieses Malers, genauer: der „sehr charaktervollen Graphiken” Kuithans „noch sehr gut” erinnere, da sie öfters in dem Kalender „Kunst und Leben” abgebildet worden seien. — Allerdings ergänzt Litt diese positive Einschätzung dann sogleich durch eine schon mehrfach bekundete Einschränkung: Er müsse Nohl „gestehen”, daß es ihm „sehr schwer fällt”, den Kontakt mit der Welt der Kunst in jeder Form aufrechtzuerhalten! Es ist, als ob gewisse innere Organe in mir abgestorben wären. Ein unseliger Zustand.” Und dann folgt eine nostalgische Erinnerung: „Als ich Ihren Gruß las, stieg plötzlich vor meinem inneren Auge Ihr Heim in Lippoldsberg auf.45 Wenn man doch noch einmal so unbeschwerten Sinns durch die Natur wandern könnte!” Litt schließt mit den Worten: „Herzlichst grüßt Sie Ihr Th. Litt”.

1943
Für das Jahr 1943 liegen drei maschinenschriftliche Briefe Litts an Nohl vor, vom 5.2., dem 3.6. und dem 13.12. Sie spiegeln die weiter zunehmende Resignation Litts wider. Dem Brief vom 5.2. ist zu entnehmen, dass Nohl in einem vorangehenden Brief Kunstfragen angesprochen hatte, u. a. die Gotik betreffend. Seinem Dank an Nohl folgt dann eine Briefpassage, in der er eine von ihm schon mehrfach angesprochene, ihn bedrückende Selbsterfahrung erneut zur Sprache bringt: „Es ist wirklich so, dass ich in mir die Resonanz auf große Kunst vermissen muß […] Die Probe darauf erhalte ich immer dann, wenn ich mich dahin bringe [gemeint ist offensichtlich: dazu durchringe; W. Kl.], allein oder mit dem hervorragend Violine spielenden Kollegen Jacobi (Jurist, als Mischling pensioniert) die Tasten in Bewegung zu setzen. Dann muß ich erleben, daß Kompositionen, die mich früher hingerissen haben, mich vollkommen kalt lassen. Seit Jahren bin ich in keinem Konzert gewesen. Ich bedauere das umso mehr, als ich die Tröstung durch die Kunst wahrlich vertragen könnte und andere im Genuß dieser Tröstung sehe. Es ist eben doch zu viel, was uns zugemutet ist. Ich empfinde immer stärker das Mißverhältnis zwischen der Schwere der uns auferlegten Last und der Tragfähigkeit unseres inneren Menschen”. — Der Brief schließt mit den Worten: „Im Übrigen wünsche ich Ihnen von Herzen, daß Ihnen noch recht viel verbleiben möge, was Sie stark macht! Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr Th. Litt”.

Vier Monate später, am 3.6., schreibt Litt an Nohl, der ihn darüber informiert hatte, daß er — damals im 64. Lebensjahr stehend —, als einziger unter den Göttinger Professoren zur Arbeit in einer Göttinger Fabrik verpflichtet worden sei, er, Litt, halte das für „totale Sklaverei”. Er fragt, ob Nohl nicht die Möglichkeit sehe, sich aufgrund eines ärztlichen Attests „frei zu machen”, und er fragt, ob vielleicht „ein persönlicher Gegner” hinter dieser Verpflichtung stecke.46 Litt berichtet dann kurz „von schrecklichen Nachrichten über die Schicksale, die rheinische Verwandte von uns bei dem letzten Fliegerangriff auf Wuppertal erlitten haben” und fügt hinzu, dass es ihm „immer weniger möglich ist, mit dem Ganzen dieser Menschheitskrisis fertig zu werden. Es ist schwer, in diesem Zustand einer radikalen Hoffnungslosigkeit weiter zu leben — nicht nur um des zu erwartenden persönlichen Loses willen, sondern auch und erst recht im Hinblick auf das Gesamtbild, das dieses Dasein bietet”. Litts Schlusssatz lautet: „Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie auf die eine oder andere Weise wieder frei werden, und grüße Sie herzlich. Ihr Th. Litt”
Der dritte Brief aus dem Jahr 1943 vom 13.12. beginnt wieder mit dem Dank für einen Brief Nohls und geht dann zur Schilderung der Katastrophe Leipzigs über. Er, Litt, habe in der Nacht der Vernichtung „auf dem Dach des Hauses gestanden, um etwaigen Funkenflug melden zu können”. Ihm und seiner Frau sei es gelungen, „das Leben und auch die Wohnung zu retten”. Man „harrt natürlich des nächsten Angriffs”.
Litt geht dann auf ein von Nohl in dessen Brief angesprochenes Thema ein: Während Nohl die ‚junge Generation” wegen ihrer „Furchtlosigkeit” rühme, urteilt Litt, dass „doch bei vielen ein tüchtiges Quantum krasser Gedankenlosigkeit” beteiligt sei.
Ich übergehe weitere, durchweg resignative Bemerkungen Litts. Er beglückwünscht Nohl jedoch zur „Erlösung von der Fabrikarbeit”, über die Nohl ihn offensichtlich in der Zwischenzeit informiert hatte.
Aus den auffällig sprunghaften, weiteren Informationen und resignativen Einschätzungen Litts — vermutlich Nachwirkungen der von Litt erlebten Turbulenzen im Zusammenhang mit den Bombenangriffen britischer Flugzeuge auf Leipzig — hebe ich nur noch drei sporadisch von ihm angesprochene Aspekte hervor:

  • Er habe sich schon vor längerer Zeit von der früheren Beziehung zur Akademie der Wissenschaften gelöst; er wolle „mit dieser ganzen Zunft von Schlappschwänzen nichts [mehr] zu tun haben”.
    Erneut spricht Litt seine Konzentrationsschwierigkeiten am Schreibtisch an; „das sei ja kein Wunder bei dem tiefen Gefühl der Zwecklosigkeit dessen, was unsereiner treibt”, „haben wir doch für den Rest des Lebens” […] auf wirkliche Resonanz” ohnehin „nicht mehr zu rechnen”.
    Schließlich dankt Litt u. a. für die erneute Würdigung des von Nohl hoch-geschätzten Malers Erich Kuithan und kontrastiert, einmal mehr, Nohls nach wie vor „ungeschwächt wirksam gebliebenes Verhältnis zur bildenden Kunst” mit dem „Absterben” der Freude an der Musik bei sich selbst; er habe seit Monaten “keine Taste berührt”.
    “Entschuldigen Sie”, so schließt Litt, bevor er Nohl „herzlichst grüßt”, sein „Geseufze”: „Aber dieses Leben inmitten von Ruinen hat etwas unendlich Entmutigendes.”
    Der nun unvermittelt folgende Absatz in Litts Brief legt folgende Vermutung nahe: In einem vorangehenden, offenbar verloren gegangenen Briefwechsel zwischen Nohl und Litt hatte Litt mitgeteilt, dass der Brockhaus-Verlag ein kleines Heft drucken wolle, das zu Weihnachten vor allem an Frontsoldaten gesandt werden sollte. Litt war der Bitte, einen Beitrag dafür zu schreiben, nachgekommen, hatte aber wohl einen eher skeptischen Aufsatztitel gewählt. Auf „flehentliches Bitten von Herrn Brockhaus” hin habe er, Litt, nun im Schlussabschnitt bzw. im Aufsatztitel „etwas zuversichtlichere Klänge” als in der Erstfassung angeschlagen. Der Aufsatztitel laute nun: „Vom Verhältnis der Generationen”. Das kleine Heft trug den Gesamttitel „Unseren Söhnen im Felde”.

1944
Der nächste Brief Litts an Nohl trägt das Datum des 5.6.1944. Sein Anfang legt den Schluss nahe, dass es im vorangegangenen halben Jahr keine Postkontakte zwischen Nohl und Litt gegeben hat.
Nach der nun schon lange üblichen Anrede “Lieber Herr Nohl” schreibt Litt: „Es ist recht lange her, daß wir zuletzt voneinander gehört haben. Da will ich wieder einmal meine Stimme erheben, um auch Ihnen eine Äußerung zu entlocken. Von uns ist zu melden, daß wir zwar in Verwandt- und Bekanntschaft unendlich viel Leid miterlebt haben, selbst aber im Wesentlichen unbeschädigt geblieben sind. Die letzten Tagesangriffe auf Leipzig haben unsere Gegend, in der es keine industriellen Anlagen gibt, unberührt gelassen. Aber das Leben in dieser unbeschreiblich entstellten Stadt ist doch dauernd sehr bedrückend. Man gewöhnt sich ganz und gar nicht an den Anblick der Zerstörung. Ein Lichtblick ist, daß im Augenblick unser jüngster Sohn auf Urlaub daheim ist. Aber in wenigen Tagen muß er wieder an die finnische Front, und dann beginnt das Sorgen aufs neue. Es ist lehrreich, sich von ihm über die an der Front — wenigstens bei den jüngeren Offizieren — vorherrschende Gemütsverfassung berichten zu lassen. Man lebt ganz und gar den Aufgaben des Tages, über die großen Fragen wird nicht nur kein Wort gesprochen, man unterläßt auch nach Möglichkeit das Nachdenken darüber, vermutlich in dem dumpfen Gefühl, daß es mehr als bedenklich wäre, überhaupt damit anzufangen. Unterstützt wird diese Selbstbeschwichtigung durch eine überreichliche Zufuhr an konzentriertem Alkohol. — Der ältere Sohn weilt schon seit längerer Zeit bei seinem Ersatztruppenteil in München, wird aber vermutlich in Bälde wieder herauskommen. — Wir Alten daheim schleppen uns, so gut es geht, durchs Leben weiter, mit Unterstützung einer ukrainischen Hilfe, an deren Benehmen man den Stand der Dinge an der Ostfront ablesen kann. Bei mir sind die produktiven Impulse so gut wie völlig abgestorben. Der Anblick dieser entfesselten Raserei nimmt mir alle Hoffnungen, und wie kann man ohne Hoffnung irgendetwas anpacken! Hoffentlich ist es bei Ihnen anders und besser.” Im vorletzten Abschnitt des Briefes klingt, bei Litt eine Seltenheit, Galgenhumor an: „Von etwas Erheiterndem möchte ich Ihnen berichten, das womöglich Ihnen in gleicher Form widerfahren ist. Vorige Woche erhielt ich von dem Verlag Junker und Dünnhaupt ein in schmeichelhaftesten Tönen gehaltenes Schreiben, in dem ich aufgefordert wurde, dem Verlag eine ganz ausführliche — Autobiographie zu liefern. Da Spranger genau die gleiche Aufforderung erhalten hat, ist es mir wahrscheinlich, daß auch auf Sie dieser Strahl der Gnade gefallen ist. Wenn das nicht ein Zeichen der Zeit ist! Das wäre jetzt wirklich der rechte Augenblick, seine Lebensbeichte niederzuschreiben.
Ob Sie wohl von Ihren Kindern in England hören? Wir wissen von so manchen, die in ähnlicher Weise von ihren Lieben abgetrennt sind. All dies Leid übersteigt Menschenmaß.
Es grüßt Sie auf herzlichste und mit allen guten Wünschen Ihr Th. Litt”

Wenige Tage nach Litts Brief vom 5.6. muss Nohl ihm geantwortet und einen Aufsatz beigefügt haben; aus Litts bereits am 13.6. datierten Brief ist zu entnehmen, dass es sich um Nohls kleine Studie „Christian Gotthilf Salzmann zum 200. Geburtstag” (in: Hannoverscher Kurier, l.6.1944), handelte. Litt betont: „Das hat mich deshalb besonders beeindruckt, weil ich seit geraumer Zeit an einem pädagogischen Katzenjammer kranke, der mich veranlaßt hat, mich ganz in das Gebiet der Philosophie zurückzuziehen.”
Dann folgt eine für Litt typische, zugleich selbstkritische und skeptische Passage, die — einmal mehr — den Unterschied zu Nohls pädagogischer, tendenziell positiv-handlungsorientierter Grundeinstellung deutlich macht: „Ich habe ja, wie Sie wissen, hinsichtlich der erzieherischen Wirkungsmöglichkeiten immer sehr vorsichtig geurteilt. Aber was wir in dieser Zeit erlebt haben, das hat mir in dieser Hinsicht den Rest gegeben. Denn immer wieder muß ich mich fragen: was haben wir denn mit unseren Bemühungen, eine bestimmte geistig-sittliche Haltung zu entwickeln und zu stärken, eigentlich erreicht? Die Mächte, die den Kurs der Zeit bestimmt haben, sind völlig aus der Bahn, an die wir gedacht hatten, ausgebrochen, und die Widerstandskraft derjenigen, die ähnlich wollten wie wir, hat sich als unsagbar unerheblich erwiesen. Wir spielen mit denjenigen, die unseres Geistes sind, die Rolle von Außenseitern, von Nachzüglern einer dahingehenden Epoche. Gerade, wenn man die Hoffnungsfreudigkeit eines Salzmann ins Auge faßt, kommt einem die Hoffnungslosigkeit des eigenen Gemüts besonders drückend zum Bewußtsein. Wie gerne möchte man ,aus dem Schlamm der Zeit eine neue Generation auftauchen’ sehen! Aber ich sehe nur den Trieb zur Selbstzerstörung weiter und weiter wuchern. Von der großen Umkehr, die uns allein helfen könnte, vermag ich herzlich wenig zu bemerken. Die absolute Gedankenlosigkeit, mit der jedenfalls ein großer Teil der jungen Generation diesen Krieg durchsteht, ist nicht die Gemütsverfassung, aus der ein wirklich neues Geschlecht hervorgehen kann. Ist nicht in der Grundverfassung unserer ,maudite race’ irgend eine kardinale Verkehrtheit, die uns zur Selbstvernichtung prädestiniert? Ich bin Ihnen, fürchte ich, schon öfters mit solchen Gedanken beschwerlich gefallen. Aber es ist nun einmal so, daß ich mit Gleichgesinnten nicht reden kann, ohne daß meine trüben Ahnungen über mich Macht gewännen.”
Die Schlusspassage des Briefes lautet: „Von dem in Göttingen herrschenden Frieden hört man mit Neid. Bei uns ist es ja auch seit einiger Zeit erträglich, aber in den westlichen Städten, wo unsere Verwandten sitzen, ist es ein höllisches Dasein. Herzlichst grüßt Sie Ihr Th. Litt”
Litt beginnt den letzten Brief des Jahres 1944 — vom 11.11. — an Nohl, der ihm offensichtlich kurz zuvor geschrieben hatte, mit dem Satz: „Sie haben recht: von Zeit zu Zeit muß man sich davon überzeugen, ob der andere noch existiert. Ja, bisher haben wir hier nichts weiter erlitten.”
Dann berichtet er, dass die Luftangriffe der jüngsten Zeit nicht der Stadt Leipzig, sondern industriellen Zielen im Raum Leipzig, d. h. in seinem Umfeld, gegolten hätten, während die „rheinischen Verwandten … Tag für Tag” mit Bombardierungen rechnen müssten. Allerdings hätten, so fährt Litt fort, „wir alle” offenbar „innerlich organische Veränderungen durchgemacht, die uns befähigen, Dingen standzuhalten, die wir früher für völlig untragbar gehalten hätten. Natürlich hat das nur die Wirkung, daß die Zerstörung noch viel ,totaler’ wird, als selbst die schlimmsten Pessimisten für möglich gehalten hätten. Aber davon schreibt man besser nicht. Es ist ja auch wirklich so, daß selbst die Gedanken, d. h. das Bemühen um ein theoretisches Begreifen, mit dem Geschehenden nicht Schritt halten.
In anderer Hinsicht sind nun auch wir getroffen. Unser Jüngster, der in Finnland den Rückzug als Leutnant mitmachte, hat eine schlimme Verletzung des rechten Oberarms davongetragen. Nicht nur der Knochen, auch die Nerven sind arg beschädigt. Ob der Arm jemals wieder wird verwandt werden können, ist fraglich. Die Schmerzen haben nicht im geringsten nachgelassen. Dazu ist ein stark eiternder Abzeß aufgetreten. Der Allgemeinzustand ist sehr elend. Er liegt in Sternberg im Ostsudetenland, dicht an der Grenze des Protektorats […] Die Reisen dorthin und von dort sind schrecklich. Man fragt sich, wie lange sie überhaupt möglich sind. — Der Älteste ist nach wie vor bei einer Wachkompanie in der Nähe von München und hat es daher relativ gut.
Litt konfrontiert dann die vorher angesprochenen Sorgen mit einem äußerlich friedvollen, wahrscheinlich kurzen „Herbstaufenthalt in der Lausitz”, den seine Frau und er genossen hätten, kehrt im nächsten Absatz aber zu seiner offensichtlich unüberwindbar hoffnungslosen Grundstimmung zurück: „Mit der eigenen Arbeit habe ich vollkommen aufgehört. Ich lese, lese, lese, um mich wenigstens zeitweilig abzulenken. Aber alles geschieht mit tiefster Unlust. Man müßte sich zu der Seelenverfassung durcharbeiten, in der die erste Christenheit die Leiden dieser Zeitlichkeit ertrug. Aber freilich, die hatte es leichter, weil sie jenseits dieser Leiden die seligste Hoffnung aufleuchten sah.
Im folgenden Satz springt Nohl unvermittelt zu Erich Weniger mit der Frage über, ob es ihm wohl „besser zumute ist”? Als er, Litt, mit Weniger zusammen vor kurzem bei Kippenberg (dem Verleger und Inhaber des Insel-Verlages; W. Kl.) war, „schien er so etwas wie eine ,Wendung’ noch für möglich zu halten. Schade, daß ich ihn nicht über gewisse personale Dinge hören kann.” Litt schließt den Brief mit dem Satz: „Seien Sie beide herzlichst gegrüßt von Ihrem Th. Litt”

1945
Am 20.l.1945 schrieb Litt den letzten Brief an Nohl vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, jedenfalls den letzten erhalten gebliebenen Brief. Er bedankte sich darin bei Nohl zunächst für die Zusendung eines Nachdrucks der Schrift von Gottfried Semper (1803-1879), „Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol”, einen, wie Litt betonte, ihm bis dahin unbekannten Text. Für ihn (Litt) habe es „immer etwas Tröstliches, zu sehen, wie Ihnen trotz allem der Arbeitswille nicht verloren gegangen ist”.

Litt wiederholte dann die Information aus seinem letzten Brief an Nohl über die schwere Verwundung des jüngeren Sohnes mit dem Zusatz, seine Frau und er hätten es „unter unsäglichen Schwierigkeiten […] fertiggebracht”, dass der Verwundete „in ein Leipziger Lazarett verlegt worden” sei. Der letzte der beiden Absätze des Briefes lautet: „Sonst geht es uns wie allen Menschen, die sich das Denken noch nicht abgewöhnt haben. Die Not der Zeit liegt uns unendlich schwer auf der Seele. Da wir viele Verwandte und Freunde im Rheinland haben, dringen die Unheilsnachrichten besonders dicht auf uns ein. Das klägliche Verkümmern der Universität beobachte ich von ferne, als ob es sich um ein mir ganz fremdes Geschehen handelte. Ich kann für diese Institution keine Teilnahme mehr aufbringen.
So viel ich weiß, wird neuerdings auch Göttingen von Fliegern heimgesucht. Hoffentlich sind Sie ungeschädigt geblieben. Wir haben in dieser Hinsicht nicht, oder wenigstens nur um Alarme zu klagen. Leichtsinnige Leute ziehen daraus schon sehr weitgehende Folgerungen. Wie leicht läßt sich doch das Menschenherz einlullen!
Mit herzlichen Grüßen auch von meiner Frau Ihr Th. Litt”

Handschriftlich fügt Litt dem maschinenschriftlichen Text hinzu: „Wissen Sie, daß Spranger 10 Wochen ‚gesessen’ hat?

  1. Kriegsende am 9.5.1945 — Neuanfang in Trümmern — vermeintlicher Abbruch der Freundschaftsbeziehung zwischen Litt und Nohl

Im Juli 1945 übernahm Litt unter den Rahmenbedingungen der „Sowjetisch besetzten Zone” das Ordinariat für Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig, formell betrachtet im Sinne eines Wiedereintritts in jene Professur, die er bis zu seiner vorzeitigen, selbstbeantragten Emeritierung im Jahr 1937 innegehabt hatte. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen der Nachkriegsphase gestaltete Litt seine universitären Aufgaben offensichtlich mit der gleichen Intensität wie vor der NS-Zeit; die tiefe Resignation der Kriegsjahre schien verflogen, seine Energie fast schlagartig wiedergewonnen zu sein. Über seine Pflichten in der Universität hinaus entfaltete er überdies seit 1946 erneut wissenschaftliche Vortrags- und Publikationsaktivitäten, die auf politisch-philosophisch-pädagogische Wirkung im Sinne eines geistigen Wieder- und Neuaufbaus gerichtet waren. Aber schon seit etwa der Mitte des Jahres 1946 zeichnete sich ab, dass diese, über die Universität hinausgreifenden Aktivitäten auf Kritik und Widerspruch stießen, insbesondere dann, wenn Litts Stellungnahmen schulpolitische Fragen betrafen. Dabei ist zu bedenken, dass in den ersten Jahren der Nachkriegszeit auch in der „Sowjetisch besetzten Zone” ein beträchtlicher Diskussions-Spielraum offen stand und genutzt wurde, nicht zuletzt von links-sozialdemokratisch orientierten Pädagogen wie z. B. Robert Alt oder Heinrich Deiters. Litt erweiterte zwar sein pädagogisches Interessenspektrum im Verhältnis zu seinen primär gymnasialpädagogisch orientierten Akzentuierungen in der Weimarer Republik, z. B. durch die Forderung nach einer „Synthese zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung” in einem Vortrag auf einer berufspädagogischen Tagung in Halle im Jahre 1946. Aber von reformpädagogisch und links-sozialdemokratisch orientierten Pädagogen und Pädagoginnen vertretenen Forderungen wie etwa nach zügigem Ausbau der vierjährigen zur achtjährigen Grundschule widersprach Litt ebenso vehement wie nach der konsequenten Trennung von Kirche und Schule, die u. a. im Mai 1947 auf einer Tagung der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung” von einem Arbeitsausschuss, dem u. a. Alt und Deiters angehörten, vorgeschlagen wurde; auch moderatere Empfehlungen, etwa das Konzept einer sechsjährigen Grundschule, wie sie auf einer Tagung in Ostberlin von dort anwesenden niedersächsischen Teilnehmern, u. a. dem niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme und dem Ministerialrat Rönnebeck zur Sprache gebracht wurden, stießen auf Litts Widerspruch; mindestens in schulorganisatorischer Hinsicht blieb er dezidiert konservativ.
Litt folgte daher schon im September 1947 ohne Zögern dem Ruf der Universität Bonn auf eine Professur für Philosophie und Pädagogik. In den Jahren bis zur Emeritierung 1952 und danach bis in die beginnenden 60er Jahre hinein entfaltete er dann eine ungewöhnlich breite, durch seine zahlreichen Vorträge und die — oft in mehrfachen Auflagen erscheinenden — Buch- und Zeitschriftenpublikationen dokumentierte wissenschaftliche und öffentliche Wirksamkeit.

  1. Briefwechsel 1947-1956

1947
Erst vom 12. Juni 1947, also mehr als zwei Jahre nach dem Kriegsende und zweieinhalb Jahre nach dem letzten Brief Litts an Nohl vom 20. Januar 1945, liegt im Göttinger Nachlass eine Postkarte Litts aus Leipzig an Nohl vor. Der nach der Anrede “Lieber Herr Nohl” unmittelbar folgende Satz legt die Annahme nahe, dass es zuvor mindestens einen postalischen Kontakt zwischen beiden gegeben hat. Litt setzt nämlich sofort mit den Worten ein: “Der Abdruck Ihres Vortrags in der ,Sammlung’53 zeigt mir, daß Sie unter der selben Pein leiden, die mich manchmal zur Verzweiflung bringt. Es wird mir immer mehr zur Gewißheit: wir kämpfen einen aussichtslosen Kampf; unserem Volk ist nicht zu helfen! Jeden Tag verhärten sich die Dogmatismen mehr, wie in einander (sic!) greifende Zahnräder treiben sie sich gegenseitig vorwärts. Man redet von nationaler Einheit und tut alles, sie zu zerstören. Wer den Geist der Zonen [gemeint sind die vier Besatzungszonen der Siegermächte USA, England, Frankreich und der Sowjetunion; W. KI.] zu vergleichen die Gelegenheit hat, der weiß Bescheid. Ich bin dies ganze Treiben unbeschreiblich leid [oder: satt; W. Kl.] und würde mich, wenn es möglich wäre, ganz und gar zurückziehen. Ich höre, daß Sie eine ausgebreitete Tätigkeit ausüben, also vermutlich noch nicht alle Hoffnung aufgegeben haben. Aber die Veröffentlichung des Vortrags redet doch eine deutliche Sprache.
Es grüßt Sie herzlich Th Litt”
Vergleicht man diese Klagen Litts, drei Monate vor seiner Übersiedlung nach Bonn, mit seinem trotz aller Vorbehalte hohen Engagement nach seiner Wiedereinsetzung in das Professorenamt in Leipzig, dann wird einerseits die Unterschiedlichkeit der politischen Situation und damit der pädagogischen Handlungsmöglichkeiten Litts, andererseits aber — einmal mehr — die eher optimistisch aktivistische Einstellung Nohis im Vergleich mit der skeptizisti-schen Sichtweise Litts deutlich.

19.12.1948, Brief Litts an Nohl
„Lieber Herr Nohl!
Es freute mich sehr, wieder einmal von Ihnen zu hören. Lassen Sie es mich aussprechen, daß es mir eine Zeit lang nicht möglich war, die Verbindung mit Ihnen zu pflegen, weil es mich schmerzlich berührt hat, daß Sie nach dem Umschwung von 1945 mich völlig aus Ihrem Gesichtskreis verbannt zu haben schienen.” Diese Einleitungssätze Litts legen m. E. den Schluss nahe, dass Nohl in einem vorangehenden, kurzen Brief oder einer Postkarte zwar zum erstenmal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Lebenszeichen, aber keine Erklärung für sein langes Schweigen über einen Zeitraum von drei oder dreieinhalb Jahren hinweg gegeben hatte. Litt fährt dann in seinem Brief fort: „Wenn Sie sich vorstellen, wie es uns in dem KZ der Ostzone Eingeschlossenen zu mute war, wie es speziell mir zu mute sein mußte, als ich von der Gründung Ihrer Zeitschrift [gemeint war „Die Sammlung”; W. KI.] überhaupt nur durch buchhändlerische Mitteilungen Kunde erlangte, dann werden Sie es mir nachfühlen, daß ich mir wie einer der endgültig ,Abgeschriebenen’ vorkam und den Eindruck bekam, daß ich für Sie ein abgetaner Mann war. Nun, diese Sache ist jetzt verdaut, und ich hoffe, daß wir wieder im Zusammenhang bleiben. Es ist das umso mehr wünschenswert, als wir Pädagogen in dieser von verhärteten Gegensätzen zerklüfteten deutschen Welt zusammenhalten müssen, um nicht aus dem Konzert der deutschen Stimmen völlig auszuscheiden. Ich habe es in dem Lande Nordrhein-Westfalen noch schwerer als vermutlich Sie in Niedersachsen. Manchmal möchte ich mich aus dem Gezänk der pädagogischen Meinungen völlig zurückziehen. Man läuft ja Gefahr, zwischen allen Stühlen zu landen. Aber wenn ich dann bei den Verhandlungen zugegen bin, ist es mir doch nicht möglich, das Maul zu halten. Auch in der Universität ruft manches meinen Widerspruch hervor, was mir mit dem Geist der Wahrhaftigkeit in Widerspruch zu stehen scheint. Wir haben in diesem Augenblick große Möglichkeiten, aber sie werden weithih nicht ausgenutzt. Mein Trost ist immer wieder die Haltung der Jugend, die bei allen Lücken der Ausbildung und bei gelegentlichen Verkehrtheiten doch im Ganzen zu großen Hoffnungen berechtigt. Wenn sie nur richtig behandelt wird. […] Ich freue mich, daß die Sache mit Weniger geklappt hat”. Der Brief schließt mit einem der „alten”, vertrauten Schlusssätze: „Alle guten Wünsche Ihnen und Ihren Lieben für das Fest und herzliche Grüße Ihres Th. Litt”
Nohl muss auf Litts Brief vom 19.12. umgehend geantwortet haben, denn Litt antwortete ihm noch am 24.12. mit einer Postkarte in 3 Sätzen, die wie ein Stoßseufzer der Erleichterung klingen und die Freude über die Wiederherstellung der durch die Nachkriegsereignisse unterbrochenen Freundschaftsbeziehung signalisieren: „Herzlichen Dank. Ich freue mich sehr, daß nun alles klar ist. Sie haben ganz recht: wir können in unserer Weise doch noch wirken; die Gemüter sind geöffnet.”
Nohl muss in seinem Brief Litt um einen Beitrag für die „Sammlung” gebeten haben; auch das war wohl ein Signal wiedergewonnener Gemeinsamkeit. Litt musste allerdings zunächst absagen; ihm sei ein solcher Beitrag „im Augenblick unmöglich”, er werde das Angebot aber „im Auge behalten”.
Litt bestätigte schließlich eine Einschätzung, die Nohl offensichtlich in seinem Brief geäußert haben muss; sie betraf wohl die Beschwerlichkeiten der alltäglichen, bescheidenen Lebensnotwendigkeiten der Nachkriegszeit. Denn Litt antwortete: „Die von Ihnen geschilderte Lebensform ist auch die meinige. Ich glaube, wir haben den letzten Rest von ,Bürgerlichkeit’ von nun an abgetan.” Litt grüßt abschließend „Mit allen guten Wünschen, denen sich meine Frau anschließt”.

1949
In einem offiziellen Schreiben des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn an Nohl vom 11. Februar fragte Litt, ob Nohl ihm mit Ratschlägen bei der geplanten Gründung „eines neuen Instituts” helfen könne. Dieses Institut solle „Fortbildungskurse für Lehrer aller Schulgattungen” durchführen; zweifellos waren auch „Lehrerinnen” mitgemeint, aber charakteristischer Weise wurden sie nicht ausdrücklich genannt. Es ginge, so schreibt Litt, um Fragen wie „Auswahl, Beurlaubung, Vergütung etc.”. Er, Litt, wolle „Ungeschicklichkeiten und Fehler” vermeiden. Litt hatte wahrscheinlich bislang keine Erfahrungen mit Organisationsproblemen der angedeuteten Art gewonnen. Ob und wie Nohl auf Litts Bitte geantwortet hat, ist durch Quellen nicht belegt.

Das nächste postalische Dokument ist eine Postkarte Litts, in der er bei Nohl anfragt, ob er (Litt) seinen „unterbliebenen Geburtstagsbesuch” (am 7.10.1949), der offensichtlich geplant gewesen, aber nicht zustande gekommen war, nun am 27.10. nachholen könne, „falls nicht Ihr Gesundheitszustand dagegen Einspruch” erhebe. Er würde bei dieser Gelegenheit gern auch Weniger und Smend sehen. — Auch dieser Besuch kam, wie eine Karte Litts vom 19.10. ausweist, wegen Terminschwierigkeiten nicht zustande. „Hoffentlich”, so schrieb Litt, „klappt es ein anderes Mal”. — Litt drückte am Schluss der Karte seine Freude darüber aus, dass — wie Nohl ihm zwischenzeitlich mitgeteilt haben muss — sein Aufsatz (gemeint war „Die Geschichte und das Übergeschichtliche”) von der Redaktion der „Sammlung” angenommen worden sei. Litt bat, den Titel durch die Widmung „Herman Nohl zum 70. Geburtstag” zu ergänzen. Der Aufsatz erschien allerdings erst als Heft 1 im Jahrgang 1950. — Abschließend grüßte Litt mit dem Superlativ „herzlichst”.
Der letzte Postkartengruß Litts an Nohl vom 5.11.1949 beginnt mit dem Dank „für die freundliche Zusendung Ihrer Aufsatzsammlung”; gemeint war Nohls großer Sammelband „Pädagogik aus dreißig Jahren”.
Liest man auch nur die vier letzten Aufsätze des Sammelbandes, die aus dem Jahre 1946 und 1947 stammen, so werden erneut die unterschiedlichen Grundstimmungen und Grundeinstellungen beider Männer, insbesondere in pädagogischer Hinsicht, deutlich: Auf Nohls Seite dessen aktivitätsorientierte und — trotz aller Schwierigkeiten der ersten Nachkriegsphase, die er beispiel-reich darstellte — die Hoffnung auf produktiven, reformorientierten Einsatz der jungen Erwachsenen und die Begründung entsprechender Vorschläge; bei Litt eine explizit skeptische, weitgehend reform-kritische Einschätzung der pädagogischen Lage, obwohl er die akademische Jugend und den Umgang mit ihr positiv charakterisierte. Gleichwohl dominiert in Litts Postkarte m. E. deutlich Resignation: Die Lektüre des Sammelbandes werde auch für ihn „die Rückschau auf gut gemeinte Bemühungen entscheidender Lebensjahre sein. Ich würde mich gern einmal mit Ihnen über den Ertrag dieser Kampfjahre unterhalten. Manchmal bin ich herzlich pädagogikmüde. Wenn man die alten Irrtümer und Torheiten immer wieder aufwachsen sieht — hier in Rheinland-Westfalen [im Original Rh. W.; W. KI.] ist es wirklich so — dann fragt man sich, wozu eigentlich die gänze Arbeit gut gewesen ist.” Selbst der Schlusssatz der Karte übertönt, so meine ich, die resignative Grundmelodie nicht: „nur der Umgang mit dem jungen Geschlecht gibt einem wieder Mut”.

1950
Litts Postkarte an Nohl aus den ersten Januartagen des Jahres (5.1.) vermittelt dem Leser erfreulicherweise den Eindruck unbeschwerter Lockerheit: Litt dankt für freundliche Wünsche, die Nohl ihm wohl zu seinem Geburtstag übermittelt hatte. Er hofft auf ein Wiedersehen im Laufe des Jahres, erinnert — einmal mehr — an seinen Besuch in Lippoldsberg, spricht mit verstecktem Humor davon, dass es „eigentlich widernatürlich” sei, dass Nohl und er —„wir alten Knaben” — „immer noch eingespannt werden”. Etwas ernster im Ton bedauert Litt, dass er — anders als Nohl, auf dessen Lehrstuhl Weniger vom l.1.1949 an berufen worden war —, noch keinen „Thronfolger” habe, und betont, dass die Nachwuchsfrage ja generell „dornig” sei. — Litt gibt dann seiner Freude darüber Ausdruck, dass Nohl, der längere Zeit erkrankt war, wieder „im Vollbesitz seiner Kräfte” sei und fügt, erneut in heiterem Stil hinzu, manchmal vermute er, „daß wir Alten gerade deshalb noch arbeiten können, weil das Schicksal uns kräftig gezaust” habe und deshalb „kein Moos ansetzen konnten”. — Litt schließt dann „herzlich in alter Verbundenheit”.
Den nächsten Brief Litts vom 28.3. d. J. skizziere ich nur kurz. Er enthielt die durch Nohl übermittelte Anfrage eines holländischen Wissenschaftlers, Professor Dr. Romein, ob Nohl nach der Lektüre einer beigefügten Skizze für einen Vortrag zum Thema „Gedanken über den Fortschritt” bereit sein könnte, einen ausgearbeiteten Text zum Thema daraufhin zu prüfen, ob er in der „Sammlung” veröffentlicht werden könnte.
Dem Anfang des nächsten Briefes von Litt an Nohl vom 18.10.1950 ist zu entnehmen, dass es einen vorangehenden Briefwechsel gegeben haben muss, in dem Nohl in einer beide betreffenden Angelegenheit mit Litt übereinstimmte. Litt gab nun seiner Freude darüber Ausdruck, „daß wir so einig sind”. Litt sprach dann den plötzlichen Tod des Philosophen Nicolai Hartmann (1882 — 9.10.1950) an, der seit 1920 in Göttingen lehrte; Litt hatte noch kurze Zeit zuvor mit ihm gesprochen. — Ein weiteres Thema jenes Briefes betraf noch einmal den an früherer Stelle des Briefwechsels bereits genannten, vor 1945 dezidiert nationalsozialistisch orientierten Göttinger Philosophen Heyse, über den Litt einmal mehr scharf negativ urteilte; den Anlass der Empörung Litts konnte ich bisher nicht ermitteln.
Nohl hatte Litt in einem schon erwähnten, nicht erhalten gebliebenen Brief (vgl. Litts Brief vom 18.10.1950) gefragt, ob er (Litt), Philosophen nennen könne, die s. E. für die Nachfolge Hartmanns infrage kommen könnten. Litt nannte zunächst Otto Friedrich Bollnow, einen in Erlangen lehrenden Philosophen Kuhn und den namhaften Philosophiehistoriker Karl Löwith; Litt setzte hinzu: „trotz marxistischer Neigungen; persönlich kenne ich ihn nicht”. — „Unter den Jüngeren” schienen Litt „recht begabt” Werner Liebrucks und Felix Krüger, den er (Litt) „auch schätze”, den er aber wegen seiner „ihm eigentümlichen Christlichkeit philosophisch nicht recht einordnen” könne.
Schon drei Tage später schrieb Litt auf Nohls Bitte hin, sich über einen Philosophen namens Becker zu äußern, der offensichtlich in den Göttinger Diskussionen über die Hartmann-Nachfolge genannt worden war, er kenne Beckers Arbeiten nicht genügend, „um ein gut fundiertes Urteil abgeben zu können”. Becker beziehe sich ja „zum wesentlichen Teile auf Gebiete, in denen ich Laie bin”. Und dann folgt eine aufschlussreiche Ergänzung: „Ich kann […] kein Hehl daraus machen, daß ich in der Heidegger-Hörigkeit, die mir nicht nur in ihm entgegentritt (wie kann man die mathematische ‚Existenz’ auf ,Weisen des faktischen Lebens’ gründen!) eine Beeinträchtigung des eigenen philosophischen Denkens erblicke”. Litt ergänzt schließlich: „Über Beckers Lehrerfolg kann ich nichts Näheres sagen. Dies [gemeint war wohl die ganze Heidegger-Passage; W. Kl.] unter uns.”
Am 20.12.1950 gratuliert Nohl in einem handschriftlichen Brief Litt zu dessen 70. Geburtstag am 27.12.:
„Lieber, verehrter Herr Litt,
nun sind Sie auf der schnellen Fahrt durch das sonderbare Leben auch bei dem ominösen Kilometerstein angekommen! Es werden Ihnen viele in diesen Tagen sagen, mit welcher dankbaren Liebe und Verehrung sie [im Original ausgelassen; W. KI.] an Sie denken. Sie haben ihnen [grammatisch irrig; es müsste heißen: sie; W. Kl.] den Mut der Wahrhaftigkeit gelehrt in dieser verlogenen Welt. Nehmen Sie auch unser kleines Schärflein auf dem Altar dieser Dankbarkeit freundlich an!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Festtag und von ganzem Herzen eine noch lange, ertragreiche Wegstrecke in Zufriedenheit und Schaffensfreude!
„Treulich immer Ihr Nohl”
Das Datum der im Folgenden zitierten Briefkarte, auf der Litt sich bei Nohl für dessen Glückwünsche zum 70. Geburtstag bedankt, ist nicht vermerkt. Litt wird die Karte, seinen Korrespondenzgewohnheiten entsprechend, vermutlich kurz vor oder nach der Jahreswende 1950/51 an Nohl gesandt haben.

„Lieber Herr Nohl!
Sie wissen aus eigenster Erfahrung, daß der […] gute Geburtstag neben manchem, was man nicht ganz ernst nehmen kann, doch auch genug des Herzstärkenden mit sich bringt. Es tut gut, sich der menschlichen Beziehungen zu versichern, die standgehalten haben. Mit Freuden gedenke ich der stattlichen Reihe von Begegnungen, die mich mit Ihnen zusammengeführt und mir die Gewißheit echter geistiger Gemeinschaft gegeben [hat; W. Kl.] — ganz besonders des idylischen Beisammenseins in Lippoldsberg, an das ich immer wieder erinnert werde, wenn das berufene Gurkengemüse auf dem Tisch erscheint. Wir wollen in gleicher Eintracht das Stück Leben absolvieren, das uns noch zugemessen ist!
In herzlicher Dankbarkeit
Ihr treu ergebener Th. Litt”

1951
Für dieses Jahr liegen individuelle Briefe Litts nicht vor. Ob sie verloren gegangen sind oder besondere Umstände die Korrespondenzlücke verursacht haben, ließ sich bisher nicht ermitteln. Jedoch gibt es aus dem Jahr zwei Druckdokumente.
„Im Januar 1951″ bedankte sich Litt mit einem gedruckten Dankesbrief bei allen Personen, die ihm zu seinem 70. Geburtstag am 27.12.1950 gratuliert hatten. Mit Sicherheit darf man annehmen, dass auch Nohl die gedruckte Danksagung Litts erhalten hatte, vielleicht mit einer kurzen, handschriftlichen Ergänzung. Der Drucktext lautet: „In einer Zeit, die so viel menschliche Bande auflöst, ist es unendlich wohltuend, sich davon überzeugen zu dürfen, daß es eine innere Verbundenheit gibt, der keine Verwicklung des Weltlaufs etwas anhaben kann. Darum sei allen denen aufrichtig gedankt, die mir zu meinem 70. Geburtstag durch Wort und Werk diese tröstliche Gewißheit geschenkt haben. Ich habe bei der Lektüre dessen, was liebe Menschen mir an diesem Haltepunkt glaubten sagen zu sollen, so manche Stunde gemeinsam durchlebten Strebens, aber auch manche Stunde gemeinsam bestandener Not an meinem inneren Auge vorüberziehen lassen und bin dabei wieder dessen inne geworden, wie viel Beglückung und Stärkung mir in meinem Leben aus dem Zusammenstehen mit gleichgesinnten Freunden, alten wie jungen, erwachsen ist. Ihnen allen fühle ich mich in herzlichem Gedenken nahe. Gerne würde ich zu einem jeden von Ihnen ein persönliches Dankeswort gesprochen haben, wäre nicht diese Form der Erwiderung über meine Kräfte gegangen. Bonn, im Januar 1951 Theodor Litt”
Das zweite Dokument des Jahres 1951 ist ein von Litt und dem seit 1946 an der Universität Mainz lehrenden Philosophen Fritz Joachim von Rintelen unterschriebener Brief, in dem die beiden Unterzeichner an Hochschulen lehrende Philosophie-Professoren und Dozenten baten, einer im Oktober 1950 gegründeten „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland” beizutreten. Zeitgeschichtlich auffällig (und bedauerlich) ist, dass der Rundbrief sich nur an „Kollegen”, nicht an — damals allerdings noch sehr seltene — Philosophie-Kolleginnen richtete. — Der auf den 27.4.1951 datierte Rundbrief mit dem Briefkopf „Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e. V., Geschäftsführung: Worms, Spießstr. 4″, unterzeichnet von J. Rintelen und Th. Litt, lautete:
„Sehr geehrter Herr Kollege!
Am 1. Oktober 1950 wurde in Bremen die „Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland” gegründet. Über ihre Ziele geben die beiliegenden Auszüge aus der Satzung Auskunft.
Ihre Ziele zu erreichen wird der Gesellschaft nur dann möglich sein, wenn sie an der Gesamtheit der an deutschen Hochschulen die Philosophie vertretenden Dozenten ihren Kern hat. Aus diesem Grunde bitte wir Sie, der Gesellschaft beizutreten und damit zugleich Mitglied des ,engeren Kreises’ zu werden.
Es ist uns nicht fremd, welches die Bedenken sind, die manchen Kollegen abhalten könnten, dieser Aufforderung zu folgen. Man fürchtet, die Philosophie möchte zum ,Betrieb’ banalisiert werden, wenn sie Sache einer Hunderte von Mitgliedern zählenden Gesellschaft wird und den Gegenstand öffentlicher Vortragsveranstaltungen und Diskussionen bildet. Auch fragt man sich, ob nicht die Philosophie in zu viele Schulen und Richtungen zerspalten sei, als dass es zu einem ersprießlichen Zusammenarbeiten kommen könnte.
Ohne uns diesen Bedenken zu verschließen, bitten wir Sie, folgendes zu erwägen. Dass gerade im heutigen Deutschland weitere, nicht fachlich vorgebildete Kreise an den Erörterungen der Philosophie Anteil nehmen, bringt zwar mancherlei dilettantische Verirrungen und Verwirrungen mit sich, muß aber doch wohl auch als ein Positivum gebucht werden. Es ist ein Ausdruck der inneren Not, in die unser Volk durch die krisenhafte Zuspitzung der geschichtlichen Lage versetzt worden ist. Da dieses Interesse nun einmal besteht — wäre es da zu billigen, wenn die berufenen Vertreter der Philosophie sich vornehm zurückhalten und die Befriedigung der besagten Bedürfnisse den sich zahlreich anbietenden falschen Propheten überlassen wollten? Ist es nicht umgekehrt ihre Pflicht, zur Klärung der Köpfe, zur Behebung weitverbreiteter Irrtümer, zur Bekämpfung einflußreicher Irrlehren zu tun, was in ihren Kräften steht? Sicherlich ist der Erfolg dieser Bemühungen ungewiss. Aber schwerlich wäre es zu billigen, wollten wir aus diesem Grunde mit ihnen gar nicht erst den Anfang machen.
Und was die Divergenz der philosophischen Meinungen angeht — die übrigens mit dem Wesen der Philosophie unabtrennbar zusammenhängt —, so könnte in ihr doch gerade die Aufforderung gefunden werden, die Voraussetzungen zu schaffen, die eine sachliche Auseinandersetzung in den Grundproblemen ermöglichen, vielmehr begünstigen würden. Gerade dies aber ist das Ziel, das die Gesellschaft mit der Gründung des ,engeren Kreises’ im Auge hat. Es ist ihre Absicht, für sämtliche ernst zu nehmende Richtungen der philosophischen Gedankenarbeit eine Stätte der Begegnung und Aussprache zu schaffen und so zwar nicht zur Uniformierung, wohl aber zur wechselseitigen Klärung der philosophischen Lehrmeinungen ihren Teil beizutragen.
Zugleich würde auf diese Weise die deutsche Philosophie ein Organ gewinnen, durch das sie bei der Regelung der sie angehenden Fragen (z. B. Gestaltung des Hochschulunterrichts, der Prüfungen in Philosophie, Vertretung in den Lehrkörpern der Hochschulen) ihr verantwortliches Wort mitsprechen könnte. Und endlich würde sie so als geschlossenes Ganzes und nicht in Gruppen zersplittert den Wiedereintritt in den philosophischen Gedankenaustausch der Welt vorzubereiten in der Lage sein.
Alle diese Ziele können aber nur dann erreicht werden, wenn der Gesellschaft nicht von Mißtrauischen oder Übelwollenden entgegengehalten werden kann, dass sie nicht einmal die Gesamtheit der deutschen Hochschullehrer der Philosophie in sich zu vereinigen vermocht habe.
Aus diesem Grund bitten wir Sie, unserer Vereinigung nicht ferne zu bleiben.
Mit kollegialem Gruß J. Rintelen Th. Litt”

1952
Am 23.l.1952 schrieb Litt an Nohl, er habe auf unerfindliche Weise auf der Reise von Leipzig nach Bonn Nohls Buch „Die ästhetische Wirklichkeit” „eingebüßt”. Litt bat Nohl nun darum, beim Verlag anzufragen, ob der ihm ein dort noch vorhandenes Exemplar überlassen könne. Dass die Chancen gering seien, wisse er. — Nohl hat Litts Bitte dann erfüllen können. Interessant ist eine ergänzende Bemerkung Nohls in einem maschinenschriftlichen Brief an den Verleger Schulte-Bulmke: “Es ist ein Jammer, daß dieses, mein bestes Buch, so im Buchhandel fehlt. Es sollte ein zweiter Band dazu kommen, der meine ästhetischen Aufsätze von der Weltanschauung der Malerei an bis zu Kunst und Publikum und dem Musikaufsatz, an dem ich gerade diktiere, enthielte. Es ist schwer zu ertragen, daß so eine ganze Hälfte meiner wissenschaftlichen Existenz im Dunkel bleibt.”
Schon fünf Tage später, am 28.l., bedankt sich Litt zunächst aufrichtig für Nohls Vermittlung beim Verlag Schulte-Bulmke, der ihm umgehend ein neues Exemplar des Buches „Die ästhetische Wirklichkeit” zugesandt habe. —Litt bringt dann sein Bedauern zum Ausdruck, dass Nohl einen „so üblen Unfall” erlitten habe und rät ihm dringend, sich zu schonen.
Auf Nohls Anfrage nach Litts Ergehen antwortet Litt, er dürfe „zufrieden sein”; gemeint war zweifellos sein gesundheitliches Befinden. Dann aber spricht Litt — innerhalb der erhalten gebliebenen Korrespondenz zum ersten Mal — das schwere Leid an, dass seine Frau „seit einigen Jahren gemütskrank” sei. Das zöge auch „die Angehörigen in starke Mitleidenschaft”. Seine eigene Arbeit sei „vielfach eine Flucht vor dieser Not”.
Im letzten Briefabsatz vor dem „in alter Freundschaft” formulierten, abschließenden Gruß schreibt Litt: „Im Umgang mit den Pädagogen ergeht es mir wunderlicherweise so, daß ich, der ich in den zwanziger Jahren der Bremser war, heute vielfach die Rolle des Antreibers spielen muß. Es gibt da entsetzlich viel Mattigkeit und Gleichgültigkeit.” Gemeint waren wohl nicht so sehr die Studenten, sondern erhebliche Teile der Lehrer und Lehrerinnen, vielleicht auch der Hochschullehrer an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Es bleibt dahingestellt, ob bzw. wieweit Litts hier wie in etlichen anderen Fällen zugespitzte Einschätzung einer genaueren Überprüfung standhalten würde.
Am 28. Juni bedankte Nohl sich für Litts „Büchlein” — gemeint war „Naturwissenschaft und Menschenbildung”. Er habe es „eben mit großer Befriedigung” gelesen und müsse Nohl „doch gleich abends Grüße senden”. Nohl fährt fort: “Es war ja höchste Zeit, daß den Pascual Jordans63 einmal klar entgegengetreten wurde, und Sie haben das so überzeugend und klar getan, daß es wirken wird.” „Ich komme gerade von einer Fröbelreise nach Hause, war in Oldenburg, Nürnberg und Stuttgart und bin nun ,kampfmüde’, aber ganz behaglich wieder an meinem Schreibtisch.” Nohl schließt mit „herzlichem Gruß und guten Wünschen — dankbar Ihr Nohl”.
In einem Brief an Nohl vom 2.7. bedankte sich Litt für den Sonderdruck Nohls aus dem Spranger gewidmeten Heft der „Sammlung” (H. 6/1953; S. 289-295; vgl. Litts Brief vom 17.3.). Bei diesem Sonderdruck Nohls muss es sich um dessen Aufsatz „Vom geistigen Wesen der Musik” gehandelt haben. Litt schrieb, dass er Nohls Aufsatz noch nicht habe lesen können. — Er ging dann auf Nohls positive Würdigung seiner Schrift über “Naturwissenschaft und Menschenbildung” ein. Allerdings kann man dem lapidaren Zustimmungssatz Nohls nicht entnehmen, ob er die differenzierte Argumentation Litts wissenschaftstheoretisch und bildungstheoretisch hinreichend nachvollzogen hatte.
Litt knüpfte nun an seinen Dank eine Passage über „ein Erlebnis dieser Tage an”. Er habe auf einem Kongreß der „Vereinigung deutscher Naturforscher und Ärzte” im September in Essen über das Thema seines Buches sprechen wollen und eine Kurzfassung des Beitrages bereits dem Vorstand zugesandt. (Der Text muss wohl bereits einem größeren Interessentenkreis bekannt geworden oder kolportiert worden sein; W. Kl.). Nun gebe es ,einen Aufstand der Biologen’, er — Litt — „hätte bei einem Kursus seines Instituts die Biologen diffamiert”. Nun werde sein Vortrag abgesetzt. Litt fährt fort: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß die ,Diffamierung’ in nichts anderem bestand als in der Abwehr des grassierenden Biologismus!” — Litt fragte nun Nohl: „Hätten Sie Lust, die besagte Arbeit — es sind 14 1/2 Schreibmaschinenseiten —als eines ‚Vortrags, der nicht gehalten werden wird’ (mit beigegebener kurzer Erklärung ohne Spitzen), in der ,Sammlung’ zu drucken? Mir scheint der ganze Vorgang so bedeutsam, daß es heilsam wäre, ihn in dieser Form zu fixieren.
Sie wissen, daß ich gar nichts darin finde, wenn Sie im Hinblick auf etwaige weitere Auseinandersetzungen Nein sagen.
Es ist zum Verzweifeln, daß es Naturwissenschaftler gibt, die unsereinen schon im elementaren Wortsinn nicht verstehen können — oder wollen!”

1953
Die vier Briefe an Nohl, die Litt im Jahr 1953 schrieb, fallen durch ihre Kürze etwas aus dem Rahmen des Üblichen. Die Schärfe, in der Litt seine Urteile formuliert, bleibt jedoch konstant.
Am 4.3. beginnt er nach der Anrede unvermittelt mit einer Information, dass der in Göttingen lebende Philosoph Hans Heyse, vormals überzeugter Nationalsozialist, nun „wieder Philosophie” lese. Litt fragt: „Wie hat die Fakultät es zulassen können, dass dieser Bursche wieder das Katheder betritt?” Ironisch setzt er hinzu: „Jetzt warte ich nur noch, daß Baeumler und Schmitt wieder auftreten. Es ist zum Verzweifeln!”
Seinem abschließenden Gruß fügt Litt noch die Notiz hinzu: „Ende März spreche ich vor dem Verein deutscher Ingenieure über ,Sachbemeisterung und Selbstbestimmung’. Soll ich den Vortrag für die ,Sammlung’ niederschreiben?”
Schon am 15.3. bedankte Litt sich bei Nohl für eine „Aufklärung”, die ihm Nohl kurz nach dem Empfang des Briefes vom 4.3. mitgeteilt haben muss, wahrscheinlich Heyse betreffend. Litt schrieb daraufhin: „Der Fall würde mich nicht so erregen, wenn nicht allenthalben dieses Gelichter wieder auf die Oberfläche käme, ohne daß die Allgemeinheit sich sonderlich daran stieße. Der Übergang zum Katholizismus ist in manchen Fällen besonders be-liebt.64 Solche Burschen müßten unter der Verachtung ihrer Mitmenschen ersticken.”
Litt teilt Nohl dann mit, dass er sein Angebot vom 4.3., seinen Vortrag in der „Sammlung” zu veröffentlichen, zurückziehen müsse. Der Verein deutscher Ingenieure habe bereits mit der Zeitschrift „studium generale” die Veröffentlichung des Vortrages verabredet. Im dritten Brief, vom 14.7.1953, bedankte Litt sich für mehrere, von ihm nicht genauer genannte Beiträge aus der „Sammlung”; Litt nannte diese kurzen Abhandlungen „Streifzüge im Garten der Literatur” und bekundete, dass sie ihm „einen wirklichen Genuss” bereitet hätten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Nohl alle sechs kleinen, originellen Beiträge, die er in der ersten Hälfte des Jahres 1953 in der „Sammlung” veröffentlicht hatte, Litt zugesandt oder mindestens einige davon:
„Der Gegenpol in der deutschen Geistigkeit”
„Per molto variar la natura e bella” (frei übersetzt: Dank ihrer Vielfalt ist
die Natur schön)

  • „Wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten?”
  • „Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen”
    Litt schreibt in seinem Dankesbrief: „Es ist ein wirklicher Genuß, Ihnen auf Ihren Streifzügen im Garten der Literatur zu folgen. Ich bin jedes Mals starr über den Umfang Ihrer Lektüre. Sie haben es offenbar besser als ich verstanden, sich rechtzeitig von allen möglichen zeitraubenden Verpflichtungen freizumachen. Aber ich habe jetzt auch damit den Anfang gemacht! Und dann fängt auch bei mir das echte otium (die Muße) an.”

Im letzten Brief Litt vom 29.10. fragte er: „Sie kennen doch Professor Lan-geveld/Utrecht? Ich schätze ihn als einen besonders wohlunterrichteten Vertreter der pädagogischen Theorie.”
Langeveld hatte Litt einen Vortrag geschickt, den der niederländische Kollege „gerne in der ‚Sammlung’ abgedruckt sehen würde”. Litt legte das Manuskript Langevelds seinem Brief an Nohl bei und bat ihn, nach der Lektüre Langeveld zu benachrichtigen. Der originelle Aufsatz Langevelds erschien im ersten Heft des Jahrgangs 1954 der „Sammlung” unter dem Titel „Das Absichtliche und Unwillkürliche in der Erziehung und der Erziehungskunde” (S. 25-37).

1954
Den ersten Absatz des Briefes Litts an Nohl vom 11. April 1954 vermag ich nicht zu entschlüsseln. Es geht um die Kritik einer namentlich nicht genannten Person an einem ebenfalls nicht benannten Litt-Text. Litts Brief ist nur so viel zu entnehmen, dass der Kritiker den Vorwurf gegenüber Aussagen Litts in einer seiner Schriften, in denen das Problem der Macht erörtert wird, erhebt, Litt hätte „die Macht und den Kampf ,absolut gesetzt`”. Litt schreibt daraufhin, es sei ihm unverständlich, wie jemand eine solche Behauptung aus seiner (im Brief Nohls nicht genannten) Schrift herauslesen kann. Nohls Aufforderung, auf diese Kritik zu antworten, wolle er (Litt) nicht nachkommen; eine Erwiderung seinerseits „würde sich wieder zu einem Aufsatz auswachsen und an der Sache kaum etwas ändern”. Der namentlich nicht genannte Kritiker muss Pädagoge gewesen sein; Litt schließt nämlich den in Rede stehenden Briefabsatz u. a. mit der Bemerkung, es sei „bei uns besonders schwer, sich mit Pädagogen zu unterhalten”.
Nohl hatte in seinem Brief vom 11.4. auch berichtet, er sei im Odenwald gewesen. Litt schreibt, er habe diese Mitteilung „mit Rührung vernommen. Denn Michelstadt i. O. (im Odenwald; W. Kl.) ist die Wiege meiner Väter. Ich habe das Gebirge oft durchwandert.” Er ergänzt, dass er seine “Erholung wieder in Bad Gastein suchen werde, das mir immer sehr gut bekommt”.
Litt beglückwünscht Nohl dann zu seiner „Vater- und Großvaterwürde”, kontrastiert diesen Glückwunsch aber gleich darauf, nicht zum ersten Mal mit der Mitteilung: „Mir hat das Wirrsal der Zeit nur den einen bisher unverheirateten Sohn gelassen, und meine von schwerer Altersmelancholie heimgesuchte Frau habe ich gestern wieder in die Anstalt bringen müssen. Es kommt eine trübselige Lebensbilanz heraus. — Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Th. Litt”
Nohl muss auf Litts Brief bald geantwortet haben. Das geht aus einer Postkarte hervor, in der Litt sich unter dem 14.4. für Nohls „freundliches Teilnehmen” bedankte. Nohl muss überdies auch einen Vorschlag zu einem Treffen beider gemacht haben, denn Litt antwortete: “Ihre Anregung will ich mir durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht wird es etwas in Gastein.”
Der nächste Brief, als Diktat einer Sekretärin gekennzeichnet, trägt das Datum des 28. Juni. Diesem Brief muss eine Antwort Nohls vorangegangen sein, in dem er noch einmal seine Anteilnahme angesichts der offensichtlich resignativen Stimmung Litts bekundete und ihm einen Aufsatz beifügte; wahrscheinlich war es die Veröffentlichung des Beitrages „Schuld und Aufgabe der Pädagogik” aus der „Sammlung”, 9. Jg. 1954, S. 446 ff. Litt antwortete mit Dank für die „teilnehmenden Zeilen und für die beiliegende Arbeit. Ihre Lesung wird sicherlich helfen, mein Gemüt aufzuhellen, wenn ich erst wieder mit regelrechter Arbeit den Anfang machen kann”. Litt schließt „mit herzlichem Gruß”.
Am 7.10. d. J. sendet Litt Nohl herzliche Glückwünsche. Er blickt dann zurück: „Ich gedenke mit Freuden der vielerlei Berührungen und Begegnungen, die uns die gemeinsame Bemühung um die pädagogische Provinz gebracht hat, und meine rückblickend feststellen zu können, daß wir im Entscheidenden einander immer viel näher waren, als im Kampf um Vordergründiges bemerklich war. Es hat sich doch wirklich in diesen 3 1/2 Jahrzehnten so etwas wie eine gemeinsame pädagogische Grundintention in unserem Kreise herausgebildet.”
Litt grüßt abschließend „In alter Verbundenheit”.
Aus dem letzten erhalten gebliebenen Brief Litts an Nohl vom 17.11. geht hervor, dass er sich in der Zwischenzeit seit dem 7.10. einen Armbruch zugezogen haben muss und dass Nohl darüber informiert worden war. Nach der üblichen Anrede heißt es: „Ich habe mich bei der Lektüre Ihres ‚Schiller’ —gemeint war Nohls kurz zuvor erschienenes Buch “Friedrich Schiller — Eine Vorlesung” (Frankfurt/M. 1954) — als einer Ihrer Hörer vor Ihnen sitzend gefühlt. So stark ist der nationalpädagogische Impetus dieser Vorlesung. Eine Wohltat angesichts der zeitüblichen Neigung, Schiller im Geist der Romantiker abzuurteilen! Mich macht der anmaßliche Unverstand gewisser zeitgenössischer Literaten manchmal ganz krank. Von mir muß ich Ihnen melden, daß ich wieder im Gipskorsett stecke, weil der gebrochene Arm noch nicht genügend gefestigt ist. Äußerst langweilig!”
Litt schließt „Mit herzlichem Dank und vielen Grüßen”.

1955
Die erste von drei vorliegenden postalischen Dokumenten Litts aus diesem Jahr beginnt er unter dem Datum ,21.4.55″ mit seinem Dank für eine „freundliche Äußerung” Nohls. Bedauerlicherweise fehlt — einmal mehr — die vorausgegangene Post Nohls, die offensichtlich eine interessante Frage angeschnitten haben muss; Litt schrieb nämlich: „Ich würde die Sache gerne mündlich fortspinnen”.
Litt informierte Nohl dann darüber, dass er „am Samstag bei Plessner anlässlich der Vorstandssitzung” der an früherer Stelle erwähnten „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie” sein werde und schrieb: „Hoffentlich kann ich Sie in einer Pause aufsuchen!” Litt war also in den Vorstand der Gesellschaft gewählt worden; ob Nohl ihr ebenfalls beigetreten war, habe ich nicht ermitteln können.
Dem zweiten Brief Litts an Nohl aus dem Jahr 1955, vom 31.8., ist zu entnehmen, dass Nohl in einer vorangehenden Postsendung an Litt eine Vermutung über einen nicht genannten Pädagogen geäußert hatte, die Litt nun bestätigte. Bei dieser Person muss es sich um einen Philosophen und ggf. Pädagogen gehandelt haben, der nach 1945 zunächst in der SBZ bzw. später DDR gewirkt hatte und dort in der führenden theoretischen Zeitschrift „Pädagogik” scharfe Kritik an Litt geübt hatte, später aber in die Bundesrepublik wechselte und in die Gesellschaft für Philosophie eingetreten war. Nohl muss sich nun bei Litt unter irgendeinem Gesichtspunkt über diese Person erkundigt haben. In Litts Antwortbrief heißt es: „Ihre Vermutung trifft leider zu. Es ist wirklich dieser Gesinnungslump. Ich hatte seiner Zeit schon Bedenken, als er in die Philos. Ges. [Philosophische Gesellschaft; W. Kl.] aufgenommen wurde, aber ich schwieg, weil ich in der ‚Pädagogik’ das von ihm am meisten mißhandelte Objekt war und den Anschein vermeiden wollte, als ob ich aus persönlicher Gekränktheit protestierte. Ich finde überhaupt, daß die Gleichgültigkeit gegenüber diesem Kapitel deutscher Vergangenheit einen bedenklichen Grad erreicht hat. Der Sinn für persönliche Sauberkeit hat sehr gelitten.
Im folgenden Briefabschnitt schaltet Litt sozusagen schnell auf Privates um: „Ich habe bis jetzt die Ferien zur Erledigung einer dringenden Arbeit verwandt, gedenke aber in der nächsten Woche zu einem Kongreß in Mailand und anschließend zur Erholung in die Schweiz zu reisen. Leider nicht im offenen Auto, um das ich Sie sehr beneide! Was Sie mir über die Quartiere schreiben, wirkt bestürzend, denn ich habe nicht ordentlich vorgesorgt. Eine Woche werde ich bei Medicus unterhalb von Montana-Vermala sein. Ich kann die Erfrischung vertragen.” Nohl plante offenbar ebenfalls eine Ferienreise; Litt wünschte dazu — „herzlichst” grüßend — gutes Gelingen.
Die letzte Korrespondenz des Jahres 1955 zwischen Nohl und Litt datiert vom 26.12. d. J. Dabei handelt es sich um einen jener wenigen Briefe Nohls an Litt, die erhalten geblieben sind, ein Dokument herzlicher Verbundenheit, einer Beziehung, die man m. E. mindestens seit den Jahren 1947/48, vielleicht schon seit den beginnenden dreißiger Jahren als Freundschaft bezeichnen kann, obwohl dieses Wort im Briefwechsel zwischen ihnen niemals auftaucht. Man darf diese Zurückhaltung der Brief- und Gesprächspartner wahrscheinlich als Ausdruck der Einstellung beider, Litts und Nohls, deuten, den jeweils anderen in der wechselseitigen Beziehung keinesfalls zu überfordern und diese Beziehung damit möglicherweise zu gefährden.
Nohl schreibt:
Göttingen 26/12 55 Hoher Weg 4
„Lieber, verehrter Herr Litt,
morgen feiern Sie nun auch Ihren 75. Geburtstag, man tut es mit einem weinenden ünd einem lachenden Auge. Menschen mit solcher Wirkung wie Sie, der Kraft des Gedankens und des Worts und vor allem des Charakters, sollten noch sehr lange arbeiten können, um die Wahrheit in diesen armen Menschen zurechtzurücken. Ich hoffe, dass sie den Tag gesund erleben und nur Freude an ihm haben. Es war so schön und so freundlich von Ihnen, mich neulich an meinem Bett zu besuchen. Ich bin inzwischen auf, aber noch sehr wacklig und auch kopfmüde, dass es sogar zum Lesen nicht recht reichen will. Sie erschienen mir wie eine Säule, die das Gehäuse Ihres Lebens noch lange tragen wird. Möchte es wahr sein und noch eine schöne Reihe von Jahren vor ihnen liegen, in der Sie Ihr beglückendes Wesen auswirken können, zu sehr vieler Menschen Freude, nicht zuletzt Ihres treulich ergebenen Nohl”

1956
Aus dem Jahr 1956 liegen nur zwei postalische Dokumente vor: Eine Druckkarte, in der Litt sich für die zahlreichen Glückwünsche zu seinem 75. Geburtstag bedankt, und ein kurzer Brief, in dem er noch einmal ganz persönlich für Nohls Brief vom 26.12. des vergangenen Jahres Dank sagt.
Gedruckte Danksagung Litts für zahlreiche Glückwünsche zu seinern 75. Geburtstag am 27.12.1955:
„Bedrückend groß ist das Mißverhältnis zwischen dem Gefühl der Dankbarkeit, welches mich im Rückblick auf meinen fünfundsiebzigsten Geburtstag erfüllt, und der Möglichkeit, ihm angemessenen Ausdruck zu geben. Alle die alten und neuen Freunde, die mir an diesem Tage ihre Verbundenheit bezeugt haben, hätten Anspruch auf ein persönliches Wort der Erwiderung, und doch muß ich sie bitten, mit der Beteuerung vorlieb zu nehmen, daß ihr vereinter Zuspruch mich in der dem Altgewordenen so tröstlichen Gewißheit bestärkt hat, noch nicht ganz aus dem Kreis der verantwortlich Tätigen ausgeschieden zu sein.
THEODOR LITT
Bonn; im Januar 1956″
Die folgende, nur zwei Sätze enthaltende Briefkarte hatte Litt wahrscheinlich der gedruckten Danksagung beigefügt:
„Lieber Herr Nohl! Bonn 15.1.56
Es lohnt sich wahrlich, 75 Jahre alt zu werden, wenn man von alten Freunden so viel Ermutigendes zu hören bekommt — sei es auch mit einigem Erröten. Ich freue mich unserer langjährigen Verbundenheit und hoffe, Sie bald wohlauf wiederzusehen.
Treulich ihr Th. Litt”

  1. Zwischenbemerkung

Für die Zeit zwischen dem 15.1.1956 — dem Zeitpunkt der kurzen Danksagung Litts für Nohls Glückwünsche zu seinem 75. Geburtstag — bis zum 16.3.1958, also für einen Zeitraum von 26 Monaten, liegen keine Brief- oder Postkartendokumente vor. Auch für diesen besonders umfangreichen Verlust der mit höchster Wahrscheinlichkeit erfolgten, postalischen Kontakt-Dokumente gibt es bislang keine Erklärungen.

Briefwechsel 1958-1960

1958
Die erste erhaltene Briefkarte Litts aus dem Jahre 1958, vom 6.3., beginnt mit einem Rückbezug auf eine kritische oder ergänzende Bemerkung Nohls, in der dieser an einen Text Litts, in dem wahrscheinlich anthropologische bzw. ethische oder Beziehungsprobleme zwischen Menschen erörtert worden waren, die Berücksichtigung der “Liebe” vermisste. Litt erwidert auf diesen Einwand: „In Bezug auf die ‚Liebe’ bin ich völlig Ihrer Meinung. Ich habe Sie nur deshalb nicht erwähnt, weil sie im Unterschiede von der Trias mehr Sache der ,Gnade’ ist und sozusagen nicht verlangt werden kann.” (Nohl muss also im Zuge seiner Kritik auf einen eigenen Beitrag zum Thema verwiesen haben, den Litt nicht erwähnt hatte.) Im nächsten Briefabsatz wünschte Litt baldige Ausheilung einer eitrigen Mandelentzündung, die Nohl sich zugezogen hatte, und er schließt mit „allen guten Wünschen … Ihres herzlich verbundenen Th. Litt”.
Einen Monat später, am 3.4.1958, charakterisiert Litt, auf den ersten Blick für den Leser unvermittelt, in drei Sätzen einen generellen Unterschied zwischen seinen Fragestellungen und Sichtweisen hinsichtlich philosophischer und pädagogischer Probleme und, auf der anderen Seite, der Herange-hensweise Nohls. Litt spricht in seinem Brief von „unseren Altersschriften”. Ich meine, dass sein Vergleich für die Mehrzahl aller Veröffentlichungen beider Autoren, nicht nur für die „Altersschriften” gilt. Dass Litt dabei seine Einstellung leicht karikierend kennzeichnet, ist m. E. als rhetorische Höflichkeitsgeste zu verstehen: „Unsere Alterschriften lassen den Unterschied unserer Betrachtungsweisen lehrreich hervortreten. Sie begeben sich in die Welt der konkreten Gestalten, und ich verliere mich immer mehr in das Gewölk der Ideen. Wie gerne lasse ich mich von Ihnen auf die feste Erde zurückführen!” Litt schließt mit „herzlichem Dank und schönen Osterwünschen”.
Mir liegt noch an folgender Anmerkung zu Litts Redeweise „Altersschriften”. Litts Buch- und Zeitschriften-Publikationen aus seinen letzten 10 bis 15 Lebensjahren über Naturwissenschaft, Technik und Menschenbildung, politische Bildung, generelle Probleme der Demokratie-Entwicklung und zur Berufsbildung — um nur einige der Fragenkreise seines Spätwerkes anzusprechen — zeigen keinerlei typische „Alterserscheinungen”, mag man manche seiner Positionen auch kritisch beurteilen. Im Vergleich zu etlichen seiner Kritiker war er im beträchtlichem Maße gerade in seiner Spätzeit ein “Modernisierer”.
Der folgende Brief Litts vom 15.9.1958 ist eine Antwort auf ein nicht erhalten gebliebenes Schreiben Nohls, in dem er sein Bedauern über einen schweren Unfall Litts ausgedrückt und gute Besserung gewünscht hatte. Litts Antwort informiert über das Geschehene, eine durch einen anderen Verkehrsteilnehmer verursachte gravierende Verletzung. Litt schreibt: „Es ist sehr freundlich, daß Sie meiner so teilnahmevoll gedenken. Es ist in der Tat eine recht langwierige Sache. Knochentransplantation und sehr zögernde Callusbildung. Ich bin im Hinblick auf solche Affären ein ausgemachter Pechvogel. Die Automanieren bei uns — der Unfall geschah in Bonn — sind einfach miserabel. Ich wurde auf der Mitte des Zebrastreifens überrannt [wahrscheinlich im Sinne von ,angefahren’ gemeint; W. Kl.]. In 10 Jahren wird der Fußgänger nur eine geduldete Existenz sein.”
Nohl muss in seinem Brief nach Litts zwischenzeitlichen Vortragsaktivitäten gefragt haben. Litt schrieb dazu: „Zur Erklärung meiner Vortragstätigkeit! Für mich sind die Vorträge, zumal wenn eine passable Diskussion nachfolgt, eine ausgesprochene Anregung. Und dann vergessen Sie nicht: ich muß meinem häuslichen Leid von Zeit zu Zeit entrinnen. Ich würde sonst von dem Trübsinn meiner armen Frau angesteckt werden. Die Reisen reißen mich auf Zeit heraus. Offenbar wissen aber auch Sie Ihr Alter ganz erfreulich zu gestalten!” Litt grüßt abschließend “Herzlich dankend”.
Der nächste Brief Litts an Nohl vom 20.9.1958 spiegelt seine gelegentliche Neigung zu Sarkasmus und Ironie wider. Er schreibt nach der Anrede: „Ich betrachte die Autositten genau wie Sie volkscharakteristisch. Bei uns klappt nur das, was kommandiert wird; wo es auf freiwillige Selbstdisziplin ankommt, versagen wir aufs schmählichste. Kein Zufall, daß nach Ausweis der Statistik die Engländer den Gegenpol bilden. Diese Dinge, auf die ich erst in der Nazi-Zeit gebührend aufmerksam geworden bin, führen mich bis zu Entfremdungsgefühlen gegenüber dem eigenen Volk. Begabt, tüchtig — aber nicht liebenswert!”
Dem nächsten Abschnitt im Brief an Nohl schicke ich eine Zwischenbemerkung voraus. Nohl hat, ganz anders als Litt, in den letzten (etwa) fünf Jahren seines Lebens zwar unermüdlich weiter publiziert: Ergänzungen zu seinen Dilthey-Studien, Einleitungen zu Text-Editionen, Lexikon- und Handbuchar-tikel über Pestalozzi, Dilthey, Schleiermacher, Herbart, Kerschensteiner und Bondy, Vorworte für Neuauflagen einiger seiner eigenen Bücher, eine Broschüre über „Erziehergestalten” (1958) und zwanzig kurze, prägnante Rezensionen über pädagogische und philosophisch-anthropologische Veröffentlichungen; aber er legte in den letzten Lebensjahren keine größeren, systematischen Abhandlungen und Bücher mehr vor.
Was Litt nun in seinem Brief an Nohl vom 20.9.1958 mit seiner Bemerkung genau gemeint hat, er sei Nohls „kritischen Gängen […] gerne gefolgt”, lässt sich wohl kaum ermitteln. Ein konkretes Beispiel spricht Litt jedoch an: „Auf Ihren kritischen Gängen bin ich Ihnen gerne gefolgt. Sie erwähnen einmal Gottfried Benn. Ich gestehe, daß mir dieser Poet immer wieder durch seine Schnodrigkeit auf die Nerven fällt. Gelegentlich gibt er orakelnde Aussprüche von sich, die nichts weiter sind als tiefsinnig klingender Quatsch.” Litt grüßt abschließend mit dem Dank für Nohls Anteilnahme an seinem Missgeschick.
Nohl muss bald nach dem Empfang des Litt-Briefes vom 20. September mit Frau Blochmann zusammen an einen Ort am Comer See gereist sein. Möglicherweise hatten beide von dort eine Grußkarte an Litt gesandt und den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass Litts Heilungsprozess erfolgreich vorankomme und er mindestens wieder zu Hause sei. Litt antwortete jedoch auf einer Postkarte vom 24. Oktober:
„Lieber Herr Nohl!
Mit welchen Neidgefühlen bin ich Ihnen und Frau Blochmann [gemeint war zweifellos: in der Fantasie; W. Kl.] an den Comer See nachgereist. Denn entgegen Ihrer Annahme bin ich noch immer vergipst in der Klinik festgenagelt. Weiß der Himmel, wann ich wieder ins Leben entlassen werde!
Mit herzlichem Dank und Gruß Ihr Th. Litt”

Am 5.11. bedankt Litt sich brieflich bei Nohl, der ihm auf seine (Litts) Karte vom 27.10. geantwortet und ihm das kurz zuvor im Druck erschienene, von Nohl eingeleitete und posthum herausgegebene „System der Ethik” Diltheys zugesandt hatte.
„Lieber Herr Nohl!
Sie sind einer von den unermüdlichen Tröstern, die immer wieder durch Wort, Schrift und Druck ein freundliches Licht in die Trübe dieses langwierigen Genesungsprozesses werfen. Nun haben Sie mich durch Diltheys Ethik erfreut. Seien Sie herzlich bedankt! Ich freue mich sehr auf die Lektüre. Dil-theys ungeschwächte Fortwirkung gehört doch zu den erfreulichsten Erscheinungen der gegenwärtigen geistigen Bewegung.”
Litt leitet dann den abschließenden Gruß seines Dankesbriefes mit den Worten „in aufrichtiger Verbundenheit” ein.

1959
Dem ersten postalischen Dokument Litts aus dem Jahre 1959, vom 25.1., muss ein Brief oder eine Karte Nohls vorausgegangen sein. Litt bedankte sich dafür auf einer Postkarte:
“Lieber Herr Nohl!
Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie wohl es mir tut, daß Sie sowohl an meinem geistigen Bemühen als auch an meinem leiblichen Ergehen so freundlichen Anteil nehmen. Um uns Alte herum wird es immer leerer; um so fester wollen wir zusammenhalten.
Ich bin in der Tat aus dem Panzer heraus; (gemeint war mit Sicherheit das Gipskorsett; W. Kl.) aber von der Attacke fühle ich mich doch noch etwas angegriffen. Eine Knochentransplantation ist eben ein tiefer Eingriff.”
Dem folgenden, dokumentierten Brief Litts an Nohl vom 3.7.1959 muss (mindestens) ein Brief Nohls oder ein Briefwechsel vorausgegangen sein; das ist eindeutig dem folgenden Brief Litts an Nohl zu entnehmen. Dieser Brief —wie auch ein weiterer vom 6.10. d. J., der noch zur Sprache kommen wird —ist insofern von besonderer Aussagekraft, als Nohl hier zum erstenmal in der mehr als drei Jahrzehnte umfassenden Korrespondenz-Beziehung die Anrede „Lieber Freund” verwendet:
Bonn, 3.7.59
„Lieber Freund Nohl!
Der freundliche Ausdruck Ihrer Teilnahme hat mir sehr wohlgetan. Ich befinde mich in der Tat in einer Verfassung, die für solche Tröstungen sehr empfänglich macht. Plötzlich hat mich eine Thrombose befallen, die sich anfänglich so übel anließ, daß eine Amputation des Beins als möglich erwogen wurde. Durch eine sehr intensive Behandlung ist diese Gefahr gebannt. Jetzt geht der Kampf wesentlich um die Zehen. Das Allgemeinbefinden ist ziemlich kläglich.
Ja, das Vorlesung-Halten macht mir immer noch Freude. Man verliert nicht ganz den Kontakt mit dem jungen Volk.
In herzlicher Dankbarkeit grüßt Sie
Th. Litt”
Der folgende Brief vom 6.10. trägt erneut die Anrede „Lieber Freund!”: „Ich kann Ihnen nicht mit einer literarischen Festgabe nahen, denn ich bin noch immer Patient der Klinik und in meiner Fähigkeit, Gedanken zu produzieren, noch angemessen auszudrücken, entsprechend herabgesetzt. Sie werden mir aber glauben, daß ich darum Ihrer an Ihrem Ehrentage [gemeint war Nohls 80. Geburtstag am 7.10.; W. Kl.] nicht weniger herzlich gedenke. Es sind ja fast vier Jahrzehnte, daß wir, jeder in seiner Weise, die pädagogische Provinz unsicher machten (im wörtlichen Sinne). Über das Verhältnis von Bemühung und Erfolg werden Sie sicherlich zuversichtlicher denken als ich. Was mich am meisten enttäuscht, daß ist die Tatsache, daß Niveau und Tonart der Auseinandersetzungen sich so wenig gehoben haben. Aber das nimmt unserem redlichen Bestreben nichts von seiner anregenden und stimulierenden Bedeutung. Weniger hat jüngst mit Recht auf die Variationen des pädagogischen Themas hingewiesen, die bei uns drei pädagogischen Urgreisen begegnen. Wir sind aneinander und miteinander zu den Standbildern geworden, zu denen die Wolken des Weihrauchs emporsteigen. Sie werden ihn morgen in dichten Schwaden einzuatmen haben. Seien Sie gewiß, daß in der Schar der Ihnen Huldigenden im Geiste zugegen sein wird auch der Ihnen herzlich zugetane Th. Litt”
Am 23.12.59, schrieb Litt an Nohl: „Sie haben mit Ihrem ‘freundlichen Brief und der Beilage ein Jahrzehnt heraufbeschworen, an das ich besonders oft und gerne zurückdenke. Damals war bei uns doch wirklich allerhand los, und in unseren Debatten ging es doch um Wesentliches. Und wie viel Hoffnungen lebten noch in uns! (Heute ist man doch ziemlich müde, und das Thema Schulreform steht mir bis zum Halse). Von Pallats Enthusiasmus hatten wir alle etwas in uns. Mein Sohn, der im Düsseldorfer Kultusministerium arbeitet, erzählte mir auch von dem, was hinter den Kulissen vor sich geht, und das wirkt auch stark desillusionierend. Oder spricht aus mir nur der senex morosus [der mürrische Greis; W. Kl.]? Der außerdem mit seiner baufälligen Leiblichkeit seine Not hat!
Nun, wie dem auch sei: suchen wir aus den Weihnachtstagen das Beste herauszuholen! Meine beste Erquickung ist der Anblick der Treue, mit der mein Sohn meiner armen Frau das Leben ein wenig zu erhellen sich bemüht.
In alter Freundschaft grüßt Sie Ihr Th. Litt!”
Im letzten, erhalten gebliebenen Dokument des Briefwechsel-Torsos der Litt-Nohl-Korrespondenz spricht Litt unter dem Datum des 23.l.1960 auf einer Postkarte noch einmal jenes Thema an, das im Briefwechsel zwischen ihm und Nohl seit 1925 immer wieder auftauchte, Diltheys Philosophie. Er, Litt, wolle sich, sobald es ihm angesichts aufgelaufener Postschulden möglich sei, wieder einmal in Dilthey „vertiefen”. Ob es darüber zwischen den beiden Philosophen und Pädagogen noch einmal brieflichen Gedankenaustausch gegeben hat, muss offen bleiben.
Elisabeth Blochmann schreibt in ihrer Nohl-Biografie: „Erspart blieb ihm eine lange, zerstörende Krankheit. Bis zuletzt war er geistig wach und bewegt und den Menschen liebevoll zugewandt. Er starb nach kurzer Krankheit am 27. September 1960 in seinem Haus am Hohen Weg” (wie Anm. 1, S. 211). Dieser Aussage entsprechend ist wohl die Vermutung berechtigt, dass es zwischen Litt und Nohl auch in der Zeitspanne bis in den Frühherbst 1960 hinein noch postalische Kontakte gegeben hat. Belegbar ist diese Vermutung jedoch nicht.

  1. Abschluss

Die hier vorgelegte Untersuchung hat, so hoffe ich, Folgendes zeigen können: In einem dreieinhalb Jahrzehnte langen Prozess zwischen 1925 und 1960 haben Theodor Litt und Herman Nohl, von ersten Begegnungen als Mitgründer und Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Erziehung” ausgehend und fast gleichzeitig als Kontrahenten hinsichtlich der Deutung der “Lebensphilosophie” Diltheys, einen Prozess zunehmend intensiveren wechselseitigen Interesses und Verstehens sowie gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung vollzogen. Dieser Prozess führte spätestens nach 1933 — trotz mancher Irritationen sowie scheinbarer Entfremdung in den ersten Nachkriegsjahren — seit 1948 endgültig zu einem intensiven Freundschaftsverhältnis, das fast ausschließlich in Form der Korrespondenz und der Übersendung ihrer Publikationen verwirklicht wurde. Dieses blieb bis zum Tode Nohls 1960 stabil, trotz der Unterschiedlichkeiten ihrer Lebenseinstellungen: Bei Nohl seine letztlich — gerade auch in pädagogischer Hinsicht — positive und handlungsorientierte Sichtweise, bei Litt eine wohl unüberwindliche Tendenz zu skeptischer Einschätzung der pädagogischen Möglichkeiten, obwohl er in seinem letzten Lebensjahrzehnt hinsichtlich der Fragen demokratischer Politik und politischer Bildung sowie einer generellen, kritischen Neubestimmung der Bedeutung naturwissenschaftlicher und technischer Bildung der im Vergleich mit Nohl „modernere” philosophische und pädagogische Denker und Anreger wurde. Litt starb am 16. Juli 1962.

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