Theodor Litt: Sinn – Kultur – Bildung Versuch einer Annäherung27 min read

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HEINZ-WERNER WOLLERSHEIM
Theodor Litt: Sinn – Kultur – Bildung
Versuch einer Annäherung

Im Mittelpunkt dieses Vortrags steht die Frage nach der möglichen Aktualität des pädagogisch-kulturphilosophischen Ansatzes bei Theodor Litt. Der “Rückkehrer”, als den das Tagungsthema Litt heute anspricht, ist in Leipzig gewiß kein Unbekannter. Neben seinen Schriften und Vorträgen, neben den Erinnerungen seiner noch lebenden Schüler und Freunde und neben den Veranstaltungen, die ihm in den 90er Jahren hier in Leipzig gewidmet waren, hat nicht zuletzt die Polemik der frühen DDR dazu beigetragen, seinen Namen in Leipzig bekannt zu halten. In Erinnerung ist Litt als faszinierender Redner, als couragierter Hochschullehrer und, vor allem natürlich, als widerständiger Bürger unter zwei deutschen Diktaturen. Wäre dies alles, so wäre es sicherlich bereits mehr Grund als genug, Theodor Litt in der Geschichte der Universität Leipzig ein besonders ehrendes Andenken zu bewahren. Allerdings bliebe dann unverständlich, warum wir uns in Leipzig künftig mit aktivem wissenschaftlichen Interesse mit Litt auseinandersetzen und seinen Nachlaß erforschen möchten. Trotz des seit Jahren durchweg steigenden Interesses an kulturphilosophischem Denken, das bei Autoren wie Georg Simmel, Ernst Cassirer und Max Weber zu ebenso nachhaltigen wie vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten geführt hat, ist der Kulturphilosoph Theodor Litt beinahe vergessen. Das hat sicherlich unter anderem den Grund, daß Litts kulturtheoretische Hauptschriften seit der Weimarer Zeit nicht mehr aufgelegt worden sind. Im Unterschied zu den genannten Weber, Simmel und Cassirer spielt die Frage der Vermittlung für den Pädagogen Litt eine bedeutende Rolle. In pointierter Formulierung:
Bildung dient der aktiven Aneignung von Kultur. Sie schließt das Individuum für die objektive Kultur auf. In der Kultur objektiviert sich Sinn. Objektivierter Sinn ist die verbindende Plattform, an der alle Individuuen teilhaben können. Durch Bildung vermittelter, kulturell objektivierter Sinn stiftet Gemeinschaft.

Ich werde versuchen, einen Zugang zu Litts Kulturphilosophie, die sich nach eigener Aussage einer eingängigen Darstellung entzieht, dadurch zu schaffen, daß ich seinen Ansatz einer zeitgenössischen Theorie gegenüberstelle, die Sinnstiftung als Medium der Vergemeinschaftung ansieht und von daher ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Dieses Verfahren wird den gemeinsamen Interessenhorizont der Schütz-Schüler Berger und Luckmann einerseits wie Litt andererseits ebenso aufzeigen wie die Unterschiede. Eine eingehende Diskussion der Differenzen beider Ansätze kann an dieser Stelle natürlich nicht geleistet werden — bin ich mir doch bewußt, bereits jetzt “harten Tobak” für einen Festvortrag zu bieten, der ja auch intellektuell unterhaltsam sein möchte. Aber in den Grundzügen sollten sich die Argumentationen skizzieren lassen.

  1. Pluralismus und Sinnkrise: Ein aktuelles Problem

Wir haben uns daran gewöhnt, daß die Szenarien der Gegenwart in den Farben der Krise gemalt sind. Hinter zahlreichen Einzelsymptomen vermuten die Interpreten des Zeitgeistes eine umfassende Orientierungskrise, die auf das Zerbersten traditioneller, sinnstiftender Wertsysteme zurückzuführen sei. Geblieben seien nur Relikte, intersubjektiv, ja sogar intrasubjektiv fragmentierte Sinn-Domänen als dürre Überbleibsel einer ehemals allumfassenden Ordnung, zersprengte Versatzstücke moderner Moral-Rhetorik. Wo aber Orientierung an Gemeinsamem fehle, drohe zwangsläufig fast der Verlust von Gemeinschaft.
Mitte der neunziger Jahre hat die Bertelsmann-Stiftung den angedeuteten Problemstand zum Anlaß genommen, stiftungsintern einen Projektbereich »Geistige Orientierung« einzurichten. Eine der ersten Aktivitäten bestand darin, die beiden Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann mit der Erarbeitung einer Expertise zu beauftragen, die den Titel trägt: “Modernität, Pluralismus und Sinnkrise — Welcher Grundbedarf an Orientierung ist für den Menschen zu befriedigen?”2 Die Stoßrichtung der Untersuchung zielt im Kern auf die Fragen, wie sich Sinn unter den Bedingungen des Pluralismus realisieren läßt und welche Bedeutung Sinn für Gemeinschaftsbildung und gesamtgesellschaftliche Kohäsion hat.
Zum Gang der Argumentation: Sinn, so führen die Autoren in die Tradition von Edmund Husserl und Alfred Schütz aus, konstituiere sich auf der Grundlage von Erlebnissen und Erfahrungen.3 Indem der Erfahrung; kern sich vom ursprünglichen Erlebnisgrund abhebe, erfasse das Bewußtsein die Beziehung dieses Kerns zu anderen Erfahrungen. Sinn wird darrt zu einer komplexen Form von Bewußtsein, nämlich zu dem Bewußtsein daß zwischen der aktuellen und anderen Erfahrungen eine Beziehung besteht. Umgekehrt bedeute dies, so folgern die Autoren, daß Sinn nicht h absolutem Sinne existiere, sondern durch das Bewußtsein erst hergestellt erst konstruiert werde. Zumeist werde die jeweils aktuelle Erfahrung dabe nicht zu einer einzelnen früheren in Beziehung gesetzt, sondern zu einen aus vielen Erfahrungen abgeleiteten und im subjektiven Wissen abgelagerten oder aus einem gesellschaftlichen Wissensvorrat übernommenen Erfahrungstyp, einem Handlungsschema oder einer moralischen Legitimation.
Der Sinn einer Erfahrung oder einer Handlung entstehe subjektiv aus dem problemlösenden Umgang eines Individuums mit seiner natürlichen oder sozialen Umwelt. Da sich viele solcher Probleme nicht nur singulär, sondern typisch in der Lebenslage anderer Menschen auch stellten, seien die gefundenen Problemlösungen und der in ihnen konstruierte Sinn nicht nur subjektiv, sondern zumeist auch intersubjektiv relevant. Diese intersubjektive Relevanz ermögliche und erfordere, daß der Sinn von Problemlösungen unter bestimmten Umständen objektiviert werde: beispielsweise in Werkzeugen, in Gebäuden oder vor allem in sprachlicher Form als Mitteilung und Bericht. Durch diese Objektivierung wird es möglich, den ursprünglich subjektiven Handlungs- und Erfahrungssinn (in einer Art von »ideierenden Abstraktion«) von seiner Ursprungssituation abzuziehen und für eine mögliche Aufnahme in den gesellschaftlichen Wissensvorrat bereitzustellen.
Die Übernahme subjektiv konstituierten und intersubjektiv objektivierten Sinns in den gesellschaftlichen Wissensvorrat erfolgt nicht automatisch. Vielmehr wird nach Berger und Luckmann Sinn in verschachtelten Prozessen weiter bearbeitet, geprüft und bewertet. Subjektive Problemlösungen und ihre intersubjektiven Objektivationen können im gesamtgesellschaftlichen Kontext beispielsweise als unbedeutend beiseite gelegt, als gefährlich abgelehnt, als bewahrenswert anerkannt oder als vorbildlich herausgestellt werden. Durch den gesellschaftlichen Bearbeitungsprozeß entstehen schließlich Systeme von Wissen und Hierarchien von Werten, die insgesamt die jeweilige historische Struktur des gesellschaftlichen Sinn-reservoirs ausmachen.
Gesellschaftlich objektivierte und bearbeitete Sinnbestände werden in historischen Sinnreservoirs bewahrt und von Institutionen verwaltet. Objektiver Sinn, bereitgestellt in gesellschaftlichen Wissensvorräten und vermittelt durch den Verbindlichkeitsdruck von Institutionen, bestimmt das Handeln des einzelnen und der Lebensgemeinschaften, in die der einzelne schicksalhaft oder freiwillig-aktiv hinein verflochten ist.6 Besonderes Kennzeichen dieser Lebensgemeinschaften sei, daß sich hier auch in Abwesenheit eines einzigen, geschlossenen Wertesystems Sinngemeinsam-keiten entwickeln. Umgekehrt könne man sagen, daß Lebensgemeinschaften ein gewisses Maß an Sinngemeinsamkeit voraussetzen? Entscheidend sei nun, wie stark die gesellschaftlich erwartete Übereinstimmung zwischen Lebensgemeinschaft und Sinngemeinschaft ist. Es hänge nämlich selbst wieder vom Wertsystem einer Gesellschaft ab, ob eine Identität von Lebensgemeinschaft und Sinngemeinschaft gefordert sei.
Als strukturelle Bedingungen für das Auftreten subjektiver und — vor allem — intersubjektiver Sinnkrisen machen die Autoren zwei Hauptfaktoren verantwortlich: Die Bildung persönlicher Identität als individueller Bezugspunkt von Handlungs- und Lebenssinn werde erschwert, wo eine gewisse Gleichsinnigkeit im Handeln anderer fehle und dadurch die Möglichkeit konsistenter Erfahrungen reduziert sei. Zweitens sei der Grad an Übereinstimmung zwischen der gesellschaftlich erwarteten und der tatsächlich vorhandenen oder zustande gekommenen Sinngemeinsamkeit in Lebensgemeinschaften zu beachten: Je geringer diese Übereinstimmung sei, desto wahrscheinlicher sei das Auftreten intersubjektiver Sinnkrisen. Unter beiden Gesichtspunkten erwiesen sich moderne pluralistische Gesellschaften als strukturell anfällig für Sinnkrisen.
Zwei Strukturmerkmale moderner Gesellschaften werden von Berger und Luckmann vor allem hervorgehoben: zum einen die strukturelle Differenzierung der Funktionen und ihre zweckrationale Organisation in Wirtschaft, Verwaltung und Recht, zum anderen der moderne Pluralismus. Die Differenzierung von Handlungen in eigene Institutionenbereiche ziehe ein dort angestrebtes und großenteils auch verwirklichtes Maß an Norm-Autonomie nach sich. Die von den Institutionen bestimmten Handlungsschemata haben einen objektiven Sinn, der auf ihre Hauptfunktion bezogen ist. Da im allgemeinen dieser Sinn zweckrational orientiert ist, müsse er von den subjektiven Lebensdeutungsschemata abgezogen werden: Der einzelne müsse sich den Organisationszielen unterordnen, anstatt umgekehrt die institutionellen Vorgaben seinem subjektiven Handlungssinn anzupassen. Berger und Luckmann folgern daraus, daß die strukturelle Differenzierung moderner Gesellschaften mit dem Fortbestand übergreifender und allgemein verbindlicher Sinn- und Wertordnungen nicht verträglich ist. Damit wirke diese strukturelle Differenzierung sowohl dem Aufbau persönlicher Identität als auch der Ausbildung von Sinngemeinsamkeit in Lebensgemeinschaften tendenziell entgegen.° Allerdings setze dieser Prozeß neben vielfältigen Belastungen auch Chancen frei. Sofern es eine allgemeine Akzeptanz der Tatsache gebe, daß in den Privatreservaten des Einzeldaseins und der Lebensgemeinschaften je eigener Lebenssinn verfolgt wird, könne sich aus dieser Situation heraus eine Dialektik von Sinnverlust und Sinn-stiftung to entwickeln: Einerseits sind die Fragmentierungen in Sinnreser-vate Ausdruck des Verlustes an gesamtgesellschaftlichem Sinn, andererseits sind gerade die sich bildenden Sinngemeinschaften in der Lage, dem weiteren Ausgreifen intersubjektiver Sinnkrisen entgegenzuwirken. Allerdings werde die Situation dadurch weiter kompliziert, daß durch den modernen Pluralismus die geistigen Zäune11, mit denen Sinngemeinschaften ihren eigenen Fortbestand zu schützen suchen, niedriger und löchrig werden. Durch Löcher im Zaun wird der Blick frei auf das andere, ebenfalls Mögliche. Dies führt zum Verlust der Selbstverständlichkeit in bestimmten Schichten der Handlungs- und Lebensorientierung, wodurch wiederum die Lebenskraft der Institutionen angegriffen wird, wenn die darin oder damit lebenden Menschen beginnen, über die institutionsrelevanten Rollen, Identitäten, Deutungsschemata und Werte nachzudenken.
Die Belastung, die für den einzelnen aus dieser Situation erwächst, wirkt desorientierend. Die philosophische und literarische Darstellung des Themas ist umfangreich: Erinnert sei nur an die Eindringlichkeit, mit der die Existentialphilosophie von Kierkegaard bis Sartre die Unbehaustheit des modernen Menschen vor Augen führt und mit der Franz Kafka die Protagonisten seiner Werke durch die skurrilen Labyrinthe des modernen Lebens irren läßt. Aber Berger und Luckmann weisen darauf hin, daß das Kafkaeske nicht typisch für die meisten Menschen in modernen Gesellschaften ist, und werfen die Frage auf, wie sie das fertigbringen.12 Als Lösung des Problems erkennen sie einen bestimmten Typus von Institutionen, den sie »intermediäre«, also vermittelnde Institutionen nennen, weil sie „es dem einzelnen möglich machen, seine persönlichen Werte aus dem Privatleben in verschiedene Bereiche der Gesellschaft zu tragen und sie so zur Geltung zu bringen, daß sie doch noch zu einer die Gesamtgesellschaft mitformenden Kraft werden”I3. Mit Hilfe dieser intermediären Institutionen trägt die Person selbst zur Erstellung und Bearbeitung des gesellschaftlichen Sinnvorrats bei. Deshalb werde der vorhandene Sinnbestand nicht als Vorgabe, sondern als Angebot erfahren, das von den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft mitentwickelt wurde und weiteren Veränderungen zugänglich sei.
Die Unterscheidung zwischen intermediären und nicht-intermediären In-stutionen könne nicht abstrakt, sondern nur in Ansehung der konkreten Wirkungsweise eines Handlungsbereichs getroffen werden. Entscheidend sei, ob die Institution als aufgestülpt und seiner Lebenswelt fremde Macht oder aber als vermittelnd erlebt werde. Da sich die gesellschaftliche Grundstruktur der funktionalen Differenzierung einerseits und des modernen Pluralismus andererseits aber weder durch Rückzug in den Fundamentalismus noch durch resignativen Relativismus dauerhaft und befriedigend überwunden werden können, sehen Berger und Luckmann in einer Stärkung der intermediären Institutionen die einzige Chance, weil sie den Bestand von Sinngemeinschaften in pluralismus-kompatibler Weise fördern und zugleich die Angehörigen dieser Sinngemeinschaften zu Trägern einer „civil society” heranbilden.

  1. Zur Position Theodor Litts

Der Darstellung des Gedankengangs bei Berger und Luckmann habe ich im Rahmen dieses Vortrags so viel Platz eingeräumt, weil mir dies gleichermaßen geeignet schien, in eine für Theodor Litt zentral wichtige Thematik einzuführen und dabei gleichzeitig augenfällig zu machen, von welch unvermindert hoher Aktualität seine Ausführungen sind.
Litt, 1880 in Düsseldorf geboren, wächst in der behüteten Atmosphäre des gebildeten Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg auf. Die relative Er-eignislosigkeit der westdeutschen Provinz umschließt seine Kindheit und Jugend. Hinweise auf eine Nähe zur Jugendbewegung und ihrem Gedankengut fehlen. Kaum überraschend einerseits, da er für eine aktive Teilnahme ein wenig zu alt ist. Und doch bemerkenswert, weil die geistigen Führer wie Natorp und vor allem Wyneken ja durchaus älter bis gleichaltrig sind. Die Fanfare der Schul- und Kulturkritik — Frank Wedekinds “Frühlings Erwachen” — erscheint 1891, Gerhard Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt” folgt 1892, Max Halbes “Jugend” 1895, Lou Andreas-Salomes „Ruth” 1897, Marie v. Ebner-Eschenbachs „Vorzugsschüler” 1901, im gleichen Jahr wie Thomas Manns „Buddenbrooks”, und Hermann Hesses „Unterm Rad” folgt 1905. All dies hat in Litts Vita keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Litts Erziehung im eigenen Elternhaus, die Einflüsse in Schule und Universität weisen jene Homogenität in der Summe ihrer sozialisatorischen Einflüsse auf, die seine frühen Jahre für uns heute so bemerkenswert unspektakulär erscheinen lassen. Die Lebenseinstellung, die hier gefestigt wird, betont den Wert einer vielseitigen Persönlichkeitsbildung, einer durch Bildung erreichbaren inneren Freiheit und einer individuellen Aneignung eines als verbindlich angesehenen kulturellen Erbes.14 Nach seiner Gymnasialzeit 1890-1899 in Düsseldorf studiert er in Bonn Altphilologie, Geschichte und Philosophie. Mit einer lateinisch abgefaßten Dissertation zu einer altphilologischen Thematik schließt er das Studium ab und verschwindet für mehr als zehn Jahre aus der Öffentlichkeit. Er wird Gymnasiallehrer, erst in Bonn, später bis 1918 in Köln.
Erst während des Ersten Weltkrieges, im Jahr 1916, tritt er durch Aufsätze und Vorträge hervor. Damit werden wichtige Motive seines Schaffens, über die er sich selbst nur selten schriftlich geäußert hat, bereits deutlich: Es sind „seine” Primaner, die in Langemarck von den Maschinengewehren niedergemäht werden. Wer nicht bereit ist, die Sinnlosigkeit des Krieges durch einen flugs gewebten heldischen Mythos zu bemänteln, wer gar den Mut aufbringt, bisherige Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, der ist wie Litt gezwungen, sich Fragen vorzulegen, die in theoretischer Form bereits in der Vorkriegsära gestellt waren, nun aber durch die scharfe Zäsur des Ersten Weltkrieges eine neue Aktualität und Dringlichkeit gewinnen. Wir haben es mit einer Art von Erweckung zu tun, freilich ohne jene dramatisierende Selbstdarstellung, die man bei anderen „Erweckten” häufiger findet. Bei Litt bemerkt man „nur” die neue Wachheit, die sich in seinen Publikationen und Vorträgen äußert. Das 1917 entstandene und 1918 veröffentlichte Buch »Geschichte und Leben« macht den Auftakt: Was bewegt die Geschichte, ein beharrlicher, vielleicht störrischer Einzelwille oder der Gesamtwille eines Volkes? Und während der Ausgangspunkt in »Geschichte und Leben« die Frage nach dem geschichtlichen Sein und dem Verstehen dieses Seins ist, greift er bereits ein Jahr später in der ersten Auflage von »Individuum und Gemeinschaft« diese Fragestellung wieder auf15 und ergänzt sie um die weiterführende, ob der Mensch in geschichtliches Handeln eingreifen kann oder an einen verborgenen Gang der Geschichte gebunden bleibt.
Der Thematik von »Individuum und Gemeinschaft« nimmt Litt sich in der aktuellen Situation von Kriegsniederlage und radikaler gesellschaftlicher Transformation in der ausdrücklichen Absicht an, dem “herrschenden Unvermögen zu sozialer Selbsterkenntnis und Selbstleitung”16 entgegenzuwirken. Ungeachtet der Aktualität greift er indessen einen Argumentationsstrang auf, der weit vor dem Ersten Weltkrieg beginnt und vielfältige Bearbeitung erfahren hat: Zwischen der ersten Auflage von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft« im Jahre 1887 und Litts dritter Auflage von »Individuum und Gemeinschaft« liegen fast vier Jahrzehnte intensiver theoretischer Diskussion um das Problemfeld “Individuum und Gemeinschaft”, als deren Bilanz sich Litts Werk ebenfalls lesen läßt. Ein fleißiger Doktorand hat nicht weniger als 34 philosophische, psychologische und soziologische Theorien gezählt, mit denen Litt sich auseinander setzt. 1-1
Diesem Hinweis auf die ideengeschichtliche Tradition ist einer auf seine Methode anzuschließen: Typisch für Litt ist die umfangreiche, akribisch zu nennende methodische Selbstvergewisserung des eigenen Denkens. Wie soll man sich dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft denkend nähern? Das Problem, das mit dieser Frage markiert ist, hat zumindest zwei Dimensionen. Zum einen betrifft es die Geschichtlichkeit des Menschen, die für Litt so sehr den Charakter einer Grundgegebenheit hat, daß er gelegentlich in Vorträgen formuliert, der Mensch habe nicht bloß Geschichte, er sei direkt Geschichte.18 Wenn das zutrifft und der Strom der Geschichte alle Kulturgebiete umgreift und verändert, dann ist zu klären, ob und gegebenenfalls wie dann wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis überhaupt möglich ist. Die Lösung, die hier nur benannt werden kann, liegt für Litt im Rückgriff auf Diltheys Idee einer Strukturtheorie als Theorie von den Aufbauformen der geschichtlich-kulturellen Wirklichkeit19, die er mit der Phänomenologie und einer dialektischen Gedankenführung verbindet. Das zweite Problem betrifft die Entscheidung über die Wahl der Forschungsmethode: Litt ist sich sehr wohl bewußt, daß mit der Entscheidung über die Referenztheorie Aussagen über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft mitgegeben sind und das Forschungsdesign so prägen, daß hernach zwar Ergebnisse vorliegen, von denen aber nicht klar ist, welchen Aussage- und Wahrheitswert sie beanspruchen können. Bei Litt führt diese Methodendiskussion erstmals in der zweiten Auflage von Individuum und Gemeinschaft, später ausführlicher in der dritten Auflage, zu einer wissenschaftstheoretischen Reflexion auf die Geltung und die Reichweite der eigenen Aussagen. Im Ergebnis stellt er der Gruppe der Naturwissenschaften scharf die der Geisteswissenschaften gegenüber. Bei diesen hat die Erkenntnis einen zyklischen Charakter, während bei den Naturwissenschaften das Subjekt im Erkennen dem Objekt streng entgegengesetzt ist. Es ist für Litt eine Eigentümlichkeit der Geisteswissenschaften, daß „in ihre eigenen Fundamente … bestimmte weltanschauliche Setzungen eingebaut [sind, d.V1, mit denen sie selbst stehen und fallen”. Litt geht es auch um die Aufdeckung dieser Grundlagen, um die Formulierung einer Art von “Metaphysik der Geisteswissenschaften”, die das “Fundament” für eine “Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften” abgeben soll. „Als Name für diese mithin die Geisteswissenschaften … begründende Disziplin bietet sich derjenige der Kulturphilosophie dar.”
Halten wir also fest: Ausgehend von der kantischen Trennung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt mit der bekannten Restriktion, daß wir über die “Dinge an sich” nichts wissen, kommt Litt unter dem Einfluß Husserls zu einer Theorie — eben zu seiner spezifischen Form von Kulturphilosophie — in der die Frage nach dem Ich ebenso wie die nach der Gemeinschaft nicht isoliert betrachtet werden können, weil sich beide als unlösbar aufeinander bezogen erweisen. Litt steht damit modernen konstruktivistischen Tendenzen einerseits sehr nahe, insofern er die Relevanz der „erlebten” Welt gegenüber einem vermeintlichen Primat der objektiven Welt verteidigt. Andererseits hält er aber an der objektiven Existenz von Sinn fest, an deren Erhellung und Erforschung typischerweise Geisteswissenschaftler arbeiten.
Ich möchte versuchen, Ihnen diesen Gedankengang in der gebotenen Kürze zu skizzieren. Dabei stütze ich mich bewußt auf die zweite Auflage von „Individuum und Gemeinschaft”, wofür ich mehrere Gründe habe. Erstens den pragmatischen, daß die dritte Auflage dieses Werks die am meisten Rezipierte ist, so daß die Analyse der zweiten ein Quentchen Innovation für sich beanspruchen darf. Zweitens den didaktischen, daß wir in der zweiten Auflage Litt als Kulturphilosophen gewissermaßen in statu nascendi erleben. Und drittens den ästhetischen, daß uns Litt in der zweiten Auflage in einer zwar der neuen Kulturphilosophie bereits zugewandten, aber noch knappen und darin sprachlich sehr kräftigen und prägnanten Form gegenüber tritt.

  1. Individuum und Gemeinschaft

Das Ich individualisiert sich durch seinen Leib und findet in seiner Umwelt in der Vielheit auftauchender Objekte auch solche, die sich ihm als beseelte, ihm gleiche menschlich beseelte Wesen zu erkennen geben. Wohlgemerkt: Es handelt sich nach Litts Auffassung nicht darum, daß hier ein Erkenntnisvorgang im Subjekt stattfindet, sondern daß dem Ich als Subjekt die Existenz menschlich beseelter Wesen evident wird, die ebenfalls Subjektcharakter haben.24 Das zeigt sich auch im Phänomen der reziproken Perspektiven: An das Ich ist eine bestimmte Perspektive gebunden, unter der sich ihm die Umwelt erschließt und sein Weltbild konstituiert. Damit ist diese Perspektivität zugleich der sinnfällige Beweis der Individualität des Ich: „Im Erleben meines Ich bin ich in undurchdringlicher Einsam-keit.”25 Niemand vermag meine Perspektive einzunehmen. Aber Perspektivität eignet aber auch dem fremden Ich: Und so, wie das fremde Ich in meine Perspektive eingeordnet ist, muß das Ich mit Gewißheit davon ausgehen, daß es in die Perspektive des fremden Ich einbezogen ist. „Vom Zentrum meines Ich her eröffnet sich eine Perspektive, innerhalb derer sich Objekte finden, deren Wesen es ist, Perspektiven zu haben, die u.a. mich einschließen.”26 Dieses in der Geistigkeit des Menschen beschlossene Prinzip der „Reziprozität der Perspektiven” ist konstitutiv für elementare Sozialität. Litt verwendet viel Mühe auf den Nachweis, daß diese Selbstrelativierung des Ich, die in der Reziprozität der Perspektiven beschlossen liegt, nicht durch nachträgliche Reflexion entsteht, sondern erlebnisursprünglich ist, „… ist doch, sobald ich das Du in den Kreis meines Ich gleichsam hineinziehe, gleichzeitig der Kreis dieses Ich durchbrochen, …” Es ist daran zu erinnern, daß Litt hier streng strukturtheoretisch denkt. Sein Gedanke von der ursprünglichen „Koordination des Ich und des Du” läßt alle Abstufungen beispielsweise der Macht offen. „Das Ich entfaltet sich unter den Augen des Du, in grundsätzlicher Preisgabe der Selbstherrlichkeit und Exklusivität”.
In der wechselseitigen Zuwendung zweier erlebender und sich ausdrückender Personen ist elementare Sozialität gegeben. Erlebnis und Ausdruck sind an Sinn gebunden, doch anders als bei Berger und Luckmann konstituiert sich der Sinn nicht im Erlebnis, sondern Litt zeigt am Beispiel der Mitteilung auf, daß etwas Außerpsychisches, Ideelles, Überschießendes existieren muß, wenn das Verstehen einer Mitteilung möglich sein soll. Die Mitteilung bedeutet etwas, sie (!) hat einen Sinn. Überhaupt beruht die Verstehbarkeit von Mitteilungen für Litt darauf, daß „der Sinn unabhängig von der realen Bewegtheit derjenigen Seele, die ihn gerade produzierend oder aufnehmend erlebt, seinen eigenen Bestand hat”. Und Litt hält fest: Der Sinn „gehört einem ideellen Reich von Bedeutungen an, die vom seelischen Leben ergriffen, reproduziert, verwandt werden können, nicht aber durch das seelische Leben als reale Bestandteile seiner selbst erst erzeugt werden:”29
Halten wir also fest: Die Sozialität des Menschen ist ihm unmittelbar dadurch gegeben, daß ihm als Geistwesen seinesgleichen — wir nannten es das „fremde Ich” — unmittelbar evident ist. Individualität, die in der Per-spektivität gründet, ist damit gleich-ursprünglich zur Sozialität zu denken. Über das Erlebnis, das zum Ausdruck drängt, und das seinen Konterpart im Verstehen hat, sind Ich und Du über die Sphäre des Sinns vermittelt.
Als Sinn charakterisiert Litt dasjenige, was aus dem Ausdruck ohne Einbuße des Bedeutungsgehalts aus dem Erlebnisverband des Subjekts herausgelöst werden kann, und weist ihm damit eine spezifische Form von Objektivität, nämlich eine ideelle Objektivität zu. Allerdings entsteht hier kein Dualismus: Da das Ich des Du nur über das sinnliche Erlebnis gewahr werden kann, ist die Vermittlungsebene der ideellen Objektivität unlösbar mit der Sphäre der realen Objektivität verbunden. „Wäre das Ich nicht mit seinem Leib in die Objektivität des Realen eingespannt, so würde es auch um keine Objektivität des Ideellen wissen.” Der Bereich des Sinns ist die universelle Vermittlungsplattform, die zu einer “Einigung im Sinn” auffordert: Gemeinsam ist den Individuen nicht nur die Erlebniswelt, sondern „auch dies Reich des Sinnhaften selbst”. Eben weil sein Gehalt objektiviert und ideell ist, darum fordert der Sinn kraft dieser ideellen Gemeinsamkeit zu einer gemeinsamen Arbeit am Sinn nachdrücklich auf. Es entsteht nach Litt die „Werkgemeinschaft der Kultur”. Durch und in der Objektivierung von Sinn entsteht Kultur. Kultur meint dabei die „Totalität der Formen und Produktionen des menschlichen Zusammenlebens”, all das also, was Menschen durch Denken, durch Herstellen und Handeln geschaffen haben.
Aber wir haben der Litt’schen Argumentation weit vorgegriffen. Kehren wir noch einmal zum Gedankengang zurück: Elementare Sozialität ist mit der wechselseitigen Zuwendung zweier erlebender und sich ausdrückender Personen gegeben. Treten nun eine Dritte oder mehr Personen hinzu, wird eine neue Qualität erreicht: Das Ich erlebt das Du neben seiner Wechselbeziehung zu sich selbst in einer ähnlichen Verbundenheit zu einem Dritten. Für das Ich ist dies von großer Bedeutung: Jede Beziehung wird nun doppelt erfahrbar: Von innen von den Parteien erlebt und von außen als Verhältnis unter den anderen Parteien miterlebt, betrachtet, verstanden. Zum Auffassen des einzelnen kommt nun das Erleben des Ganzen hinzu. Dieses neue Ganze bezeichnet Litt als den „geschlossenen Kreis” und sieht in ihm „das elementarste Strukturverhältnis, welches innerhalb jener verfließenden Unendlichkeit gesellschaftlicher Gebilde … abgegrenzt wird”. Der geschlossene Kreis ist die Voraussetzung dafür, „daß es zu irgendeiner Art von gegenständlicher Auffassung gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge kommen kann.” Wichtig ist, daß der geschlossene Kreis die Per-spektivität der jeweiligen Ich nicht aufhebt. Zwar kommt es zu einem „Gesamterlebnis,„ das aber die Individualität nicht antastet. Und dies bedeutet. Es gibt zwar ein Gesamterlebnis, aber es gibt kein „Kollektivich” Die Reziprozität der Perspektiven bleibt gewahrt. Statt in einem Kunstgriff ein „überpersonales Zentrum” als Subjekt des Gesamterlebnisses aus dem Hut zu zaubern, setzt Litt auf ein Netzwerk von Perspektivität, für dessen strukturelle Bezogenheit er den Begriff der „sozialen Verschränkung” prägt. Der geschlossene Kreis kann seinen Erlebniszusammenhang ausdehnen, indem er sich als Surrogat des unmittelbar Erlebten des Berichts bedient, der „zur methodischen Klarheit und Bewußtheit entwickelt”, nichts anderes ist als die Wissenschaft von der Geschichte. Die sukzessive Ausdehnung des Erlebniszusammenhangs wird durch die simultane ergänzt. Sobald die Ausdehnung des geschlossenen Kreises die intensive Ich-Du-Verflochtenheit unmöglich macht, werden Prozesse der sozialen Vermittlung erforderlich. Bedingung der Möglichkeit einer solchen simultanen Verknüpfung ist, daß prinzipiell jedes Subjekt zum Träger einer nach vielen Richtungen verlaufenden sozialen Vermittlung werden kann. Auch hierfür ist die Berichterstattung von herausragender Bedeutung, die nun allerdings nach scharfen Auswahlprinzipien zu einer Struktur verdichtet werden muß, so daß aus dem Totalgehalt des Berichtbaren die „in repräsentativem Sinne bedeutsamen Bestände herausgehoben werden”.
Dies ist die Stelle, an der von Bildung zu sprechen ist. Liegt es auch nahe, im Kontext der hier vorgetragenen Argumentation nun auf Bildung als zentrales Medium sozialer Vermittlung abzuheben, so wäre dies doch falsch. Bildung dient nicht primär der Wahrung gesellschaftlicher Kontinuität, sondern Bildung ist Stiftung von Weltbezug. Bereitwillig räumt er jedoch ein, daß zumeist nur die streng funktionale Seite des Vorgangs erfaßt werde. Alle bewußt gestaltete Erziehung, jeder Bildungsprozeß ruht vor aller Theoriebildung auf einer unreflektierten Weise der Menschenformung. Es gibt nach Litt keinen „Punkt Null” der pädagogischen Theoriebildung — stets geht ihr eine gesellschaftliche Praxis von Erziehung voraus, die ihre eigene Dignität besitzt. Bildung ist Stiftung von Weltbezug, wobei man „Welt” zu verstehen hat als Beziehungsgefüge von Individuum, Gemeinschaft und objektivem Geist. Litt formuliert: „So dürfen wir als ‘Bildung’ jene Verfassung des Menschen bestimmen, die ihn in den Stand versetzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt `in Ordnung zu bringen´”.
Die Rede von der Objektivität des Sinns erfordert, daß der Zugang zu dieser universellen Vermittlungsplattform nicht dadurch verstellt werden darf, daß man einzelne Sinnbereiche als besonders wichtig herausstellt. Erhält ein Faktor im Geistigen in irgendeiner Form Priorität, ist es um die Freiheit im Bildungsprozeß geschehen: Dieser Faktor wird zwangsläufig zur Norm, die es zu erfüllen gilt. Bezieht man dies auf das zuvor dargestellte, muß man erkennen, daß eine solche Bildungsnorm dem Prinzip der Reziprozität der Perspektiven widerspricht: Ein “Bildungsideal” ist jetzt zu verwirklichen. Vor dieser Forderung wird der Mensch zum Objekt, verliert damit zumindest einen Teil seines Selbstwertes und degeneriert zu einem Durchgangspunkt eines Geschehens, das an ihm verläuft. Dies ist der Grund, warum Litt in »Führen oder Wachsenlassen« so vehement gegen das von Spranger favorisierte Bildungsideal argumentiert. Für Litt gibt es kein Bildungsideal im Sinne des Entwurfs eines durch Erziehung zu verwirklichenden Menschentums, sondern nur Formprinzipien der Bildung, die einen unangreifbaren Selbstwert tragen als Bildunsgkategorien. Damit weist Litt zugleich auf eine zweite Möglichkeit hin, das Wesen der Bildung zu verfehlen: Unrecht geschehe ihr auch, wenn Kulturgüter zu bloßen Bildungsmitteln herabgewürdigt werden. Litts ceterum censeo seit Mitte der zwanziger Jahre lautet: Kennzeichen von Kultur ist die Betrachtung und Handhabung von etwas um seiner selbst willen. Die technische Einstellung zu den Erscheinungen als bloße Mittel verfehlt ihre Kulturbedeutung. Bilden zum Selbst, zum sich seiner selbst bewußten Ich ist immer an die strenge geistige Durcharbeitung von Kultur durch den einzelnen gebunden.

  1. Unterschiede und Konvergenzen

Vergleicht man nun die beiden hier nur grob skizzierten Ansätze miteinander, fällt als erste gravierende Diskrepanz die unterschiedliche Verortung von Sinn ins Auge: Nach Berger und Luckmann ist Sinn eine Form von Bewußtsein, die sich im Erleben und Handeln konstituiert. Sie verlegen damit den Sinn ins Innere des Individuums. Litt hätte sich mit dieser Position nicht einverstanden zeigen können: Der Sinn existiert unabhängig vom individuellen Erlebnis. Das hat, wie wir gesehen haben, weitreichende Folgen, denn Sinn wird bei Litt zur universalen Vermittlungsplattform, die gemeinsames Handeln möglich macht. Die Objektivität des Sinns steht für Litt völlig außer Frage: Wenn das Erlebnis zum Ausdruck und weiter zum Verstehen drängt, wenn man also sagt, daß man etwas erlebt hat, dann muß es dieses etwas geben. Das Ich drückt etwas aus, und das Du kann sich darauf beschränken, etwas zu verstehen, ohne sein Du in seiner Totalität verstehen zu müssen und damit die Perspektivität des Ich aufzuheben. Dieses etwas muß also existieren, wie wäre sonst auch Verstehen möglich, wenn es nicht ein für Ich und Du gleichermaßen existierendes etwas gäbe.
Doch läßt sich die Position von Berger und Luckmann nicht einfach negieren: Sie hatten betont, daß sich Sinn im Erlebnis und in der Handlung konstituiere. Sie denken damit vom Individuum aus, weisen aber den sozialen Handlungen einen besonders herausgehobenen Platz zu. Problemlösendes Verhalten besitze in der Regel intersubjektive Relevanz, lautete ihre Wendung zur Sozialität des Sinns. Litt hätte auch dieses Position nicht geteilt, eben weil sie in seinen Augen den Fehler macht, ausschließlich vom Individuum her zu denken, wohingegen Individuum und Gemeinschaft immer nur zugleich denkbar sind. Sinn wird im sozialen Miteinander gefunden. Die Situation des problemlösenden Umgangs eines Individuums mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt, von dem Berger und Luckmann ausgehen, scheint bei Litt nicht vorzukommen. Die Sinn-objektivierung beispielsweise im Werkzeug bleibt so lange außerhalb der Betrachtung, bis seine Erfindung den Erfinder zum Ausdruck drängt. Aber heißt das nicht, daß sich Sinn in sozialen Bezügen — und nur dort — konstitutiert oder zumindest, daß er nur dort erfahrbar wird? Trifft dies zu, dann wäre Litts Formulierung des Sachverhaltes die methodisch exaktere Variante, während Berger und Luckmann sich um einige grundsätzliche Klippen herummogeln, denen sie keine Bedeutung beilegen, weil sie sich ausschließlich für soziale Sinnstrukturen interessieren.
Einen entscheidenden Punkt in der Argumentation von Berger und Luckmann nimmt die Differenzierung von Lebens- und Sinngemeinschaft dar. Der radikale Anspruch einer umfassenden Identität von Lebens- und Sinngemeinschaft führt nur in Abwesenheit von Pluralismus zu einem krisenfreien Verlauf sozialer Prozesse. Hinter dieser Denkfigur verbirgt sich die berechtigte Forderung nach einer Reduktion des normativ-ideellen Sinnpotentials mit seiner zwingenden Konsequenz eines Primates von Kollektivsinn vor dem Individualsinn. Litt konnte in diese Schwierigkeit nicht kommen, weil Gemeinschaft nicht gestiftet wird, sondern von Anfang an bereits gegeben ist. Seine Reziprozität der Perspektiven schreibt das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft als wechselseitiges Bezogensein fest und weist bereits damit alle Ansprüche eines Primats des Kollektiven vor dem Individuellen ab. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Litts Kritik an der individualistischen und der (volks-) organischen Gesellschaftsauffassung in »Individuum und Gemeinschaft«.
Ein Schwachpunkt scheint Litts Konstruktion des in Kultur verobjektivierten Sinns unter dem Gesichtspunkt zu sein, daß die überaus sinnfällig scheinende Unterscheidung von Berger und Luckmann zwischen Sinn- und Lebensgemeinschaft in seiner Theorie nicht abbildbar wäre. Alles ist aufsteigend von der sozialen Verschränkung der geschlossenen Kreise hin auf das utopische Ziel einer Kulturmenschheit angeordnet. Widerspricht dies nicht eklatant unserer Lebenserfahrung, daß Sinn- und Lebensgemeinschaft nicht kongruent sein müssen? Der Hinweis auf den strukturtheoretischen Charakter von Litts Denken kann diesen Einwand zwar formal abwehren, doch müßte dann die Anmerkung gestattet sein, daß eben diese Strukturtheorie viele Fragen notwendig offenläßt, die für die alltägliche Lebensgestaltung wie für die Modellierung sozialer Prozesse von hohem Interesse sind: Erinnert sei beispielhaft nochmals an die Littsche Begrifflichkeit der „sozialen Vermittlung”. Wir erfahren, daß es sie gibt und welche Funktion sie hat. Wir erfahren aber nichts über den Reichtum ihrer Differenzierungen und ebensowenig erhalten wir Antwort auf die Frage, warum und in welchen Situationen sie funktionieren.
Dennoch bleibt festzuhalten, daß Litt mit seiner Kultur- und Sozialphilosophie eine Gesellschaftstheorie formuliert, die in der Gegenwart durchaus Beachtung verdient. Inwieweit sie heutige Forschung bereichern kann, müssen die Kolleginnen und Kollegen in den einschlägigen Disziplinen beurteilen. Mir bleibt als Beobachter die Feststellung, daß Litts strukturelle Verschränkung von Individuum und Gemeinschaft und die damit verbundene Abwehr unberechtigter kollektivistischer oder individualistischer Hegemonieansprüche über den Bereich des Sozialen heute auch unter Soziologen auf Zustimmung stößt: Karl Otto Hondrich41 wies unlängst in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diesen Weg, daß eine Reflexion über die »Grenzen der Gemeinschaft« angezeigt sei. Diesen alten Titel des damals jungen Privatdozenten Helmut Plessner aus dem Jahre 1924 hat vor wenigen Wochen die eingangs erwähnte Bertelsmann-Stiftung für ihren Bericht an den Club of Rome gewählt, der im übrigen herausgeberisch verantwortet wurde von Peter Berger.

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Theodor-Litt-Jahrbuch 1999/1
Leipziger Universitätsverlag 1999