Theodor Litt — Carl Friedrich Goerdeler. Eine ergänzende Quellensicherung19 min read

Leipziger offene Stadtgesellschaft
und Widerstand 1933 bis 1944
Carl Friedrich Goerdeler
Theodor Litt
Levin Ludwig Schücking
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2015

JAN GÜLZAU
Theodor Litt — Carl Friedrich Goerdeler.
Eine ergänzende Quellensicherung

Kaum dass sich der Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig Theodor Litt am 28.10.1936 schriftlich mit dem Ministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung in Verbindung gesetzt hatte mit der Bitte, seinem Wunsch nach vorzeitiger Emeritierung zu entsprechen, da folgte auch schon der nächste Rücktritt. Am 25.11.1936, also ziemlich genau zwei Wochen, nachdem die nationalsozialistische Stadtverwaltung die Abwesenheit ihres obersten Dienstherrn dazu genutzt hatte, das Denkmal des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy vor dem Neuen Gewandhaus zu entfernen, stellte auch Leipzigs Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler sein Amt zur Verfügung. Damit verlor die Messestadt im Herbst 1936 binnen eines Monats gleich zwei bedeutende oppositionelle Köpfe, die den nationalsozialistischen Umwälzungen in Staat und Gesellschaft seit 1933 getrotzt hatten. Gleichwohl sind der Zeitpunkt als auch die demonstrative Art und Weise ihres Rückzugs keineswegs die einzigen Gemeinsamkeiten, welche die beiden miteinander teilten.

Zum Forschungsstand

Tatsächlich waren Goerdeler und Litt auch privat in enger Freundschaft miteinander verbunden. Soviel ist aus der Sekundärliteratur bekannt — viel mehr aber auch nicht. Trotz der zahlreichen Publikationen, die in den zurückliegenden 70 Jahren zur Person Goerdelers erschienen sind und sich insbesondere mit seiner Rolle als einer der führenden zivilen Köpfe des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus beschäftigt haben, ist keine davon näher auf dessen Verhältnis zum früheren Rektor (19311932) der Universität Leipzig eingegangen. Ein Befund, der nicht zuletzt die biographischen Werke umfasst, welche Goerdeler seither gewidmet wurden.’ Von den insgesamt drei Biographen Goerdelers erwähnen lediglich zwei den Namen Litts und dies auch jeweils nur am Rande.
So führt der Freiburger Historiker Gerhard Ritter — bezeichnenderweise in einer Fußnote — aus, dass sich Goerdeler und Litt freundschaftlich „nah” gestanden hätten und das letzterer als akademischer Berater des ersteren in nicht näher spezifizierter Angelegenheit fungiert habe.2 Darüber hinaus zitiert Ritter noch eine Charakteristik Goerdelers aus der Feder Litts, welche den Pädagogen zwar als guten Kenner der Persönlichkeit Goerdelers ausweist, die freundschaftliche Natur ihrer Beziehungen jedoch mit keinem Wort erwähnt.’
Weitere Details zur Freundschaft Goerdelers mit Litt sind alsdann den autobiographischen Erinnerungen seiner ältesten Tochter Marianne Meyer-Krahmer zu entnehmen. Darin berichtet die Autorin u.a. von „Privatvorlesungen”, welche Litt im Anschluss an seine Emeritierung im Hause Goerdeler gehalten habe. Ferner lobt sie die Freundschaft Litts zur Familie als eine, die sich auch „in der Not bewährt” habe. So hätte der Pädagoge ihrer Familie auch nach dem Kriege — mithin also nach der Hinrichtung Goerdelers — noch beigestanden.
Mehr aber gibt die Goerdeler-Forschung nicht her; Ines Reich etwa nennt Litts Namen nicht ein einziges Mal und das, obwohl sie sich in ihrer Dissertation sogar schwerpunktmäßig mit Goerdelers Zeit als Leipziger Oberbürgermeister beschäftigt” einer Phase also, in der Berührungspunkte zwischen den beiden schon von Amts wegen quasi unumgänglich waren.
Etwas besser gestaltet sich die Situation auf Seiten der Litt-Forschung — ein Umstand, der zuvorderst Wolfgang Matthias Schwiedrzik zu verdanken ist, welcher in seiner Abhandlung über die politische Haltung Litts in den Jahren 1933 bis 1947 immerhin auch fünf Seiten auf die Beziehungen Goerdeler-Litt verwendet. Schwiedrzik zufolge habe Litt „zum engeren Freundeskreis der Familie Goerdeler” gehört, ferner konstatiert er eine „charakterliche Verwandtschaft als auch eine weitgehende politische Übereinstimmung” der beiden Männer.’ Was die bei Ritter erwähnte akademische Beratertätigkeit Litts betrifft, so spezifiziert Schwiedrzik: Litt habe als Berater Goerdelers in allen Fragen einer künftigen Gestaltung deutscher Hochschulen agiert (gemeint ist: in einem zukünftigen Deutschland nach der Absetzung Hitlers). Aus diesem Anlass heraus sei es auch zu einem — nicht näher datierten — Treffen mit den Goerdeler gleichfalls befreundeten Professoren Constantin von Dietze und Gerhard Albrecht gekommen. Zudem sei Litt mit Goerdelers politischen Überzeugungen gut vertraut gewesen, ohne dass ihn dieser en détail in die Umsturzplanungen mit eingeweiht hätte. Bestätigt wird von Schwiedrzik darüber hinaus — wobei er sich gleichfalls auf Meyer-Krahmer als Quelle stützt —, dass Litt auch im Anschluss an Goerdelers Verhaftung dessen Familie die Treue gehalten habe. Damit aber erschöpft sich auch die Litt-Forschung.
In Vorbereitung auf das zurückliegende XVIII. Theodor-Litt Symposium, welches unter dem Motto „Leipziger offene Stadtgesellschaft und Widerstand 1933-1944. Carl Friedrich Goerdeler, Theodor Litt, Levin Ludwig Schücking” stand, galt es nun, angesichts der vorgestellten, insgesamt alles andere als befriedigenden Forschungslage, eine ergänzende Quellensicherung zu konzipieren, welche sich auf die archivalische Überlieferung konzentrierte. Immerhin bestand die Hoffnung, dass die Verbindung der zwei Männer noch Weitere, bis dato unentdeckt gebliebene schriftliche Zeugnisse hervorgebracht hatte, welche die zurückliegenden 70 Jahre überdauert hatten. Hierzu wurden die folgenden Archivbestände gesichtet:
— im Bundesarchiv Koblenz
• die Nachlässe Carl Friedrich Goerdelers und
• Gerhard Ritters;
— im Stadtarchiv Leipzig
• die Personalakte Carl Friedrich Goerdelers” sowie
— im Universitätsarchiv Leipzig
• das Privatarchiv Theodor Litts.

Ergebnis der Archivrecherchen
Ohne zu weit vorzugreifen, eine erste, relativ ernüchternde Erkenntnis gleich vorweg: Leider haben die Beziehungen Goerdeler-Litt, zumindest was die eingesehenen vorgenannten Archivbestände betrifft, kaum schriftliche Spuren, zumindest keine zeitgenössischen, hinterlassen. Ein Umstand, der, soweit es den im Bundesarchiv in Koblenz überlieferten Nachlass Goerdelers betrifft, v.a. mit dessen Überlieferungsgeschichte zusammenhängt. 12 Hatte Goerdeler doch am Ende seines Lebens, nach überstürzter Flucht und anschließender, knapp sechsmonatiger Inhaftierung in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße bis zu seiner Hinrichtung Anfang Februar 1945 in Plötzensee gar keine Gelegenheit mehr, noch ein geordnetes Konvolut für die Nachwelt anzulegen. Was dennoch erhalten geblieben ist und in Koblenz verwahrt wird, ist zum größten Teil sowohl von Goerdelers Witwe als auch seinem ersten Biographen Gerhard Ritter zusammengetragen worden. Beide konzentrierten sich dabei jedoch primär auf Goerdelers politisch-literarisches Schaffen in der Opposition — was umgekehrt dazu geführt hat, dass der Koblenzer Bestand so gut wie keine Privatkorrespondenz enthält.
Unabhängig von der spezifischen Überlieferungsgeschichte des Goerdeler-Nachlasses existieren aber auch noch ganz praktische Gründe, welche die weitgehende Abwesenheit schriftlicher Quellen zu erklären vermögen. So lag es in der Natur der Sache, dass beide, gerade was den konspirativen Teil ihrer Beziehungen betraf — also Litts Beratertätigkeit in Hochschulfragen, der gegenseitige politische Meinungsaustausch —, schon aus Sicherheitsgründen keine schriftlichen Spuren hinterlassen wollten, welche ihre Urheber später einmal hätten belasten können. Ein Bestreben, welches zumindest im Falle Litts offensichtlich von Erfolg gekrönt war: Ist doch dieser, trotz seiner bekannten Oppositionshaltung, welche dem emeritierten Professor im November 1941 auch noch ein Vortragsverbot bescherte, von der Gestapo nie auch nur verhört worden? Offensichtlich befanden sich also schon am 20. Juli 1944, als Gestapo-Beamte Goerdelers Haus in Leipzig durchsuchten, unter den dortigen Unterlagen keine belastenden Hinweise mehr auf die wahre Natur seiner Beziehungen zu Litt.14
Schließlich sollte auch die Rolle, welche der gemeinsame Wohnort Leipzig gespielt hat, nicht unterschätzt werden: Vieles dürfte in mündlicher Absprache geregelt worden sein, die kurzen Wege machten etwaige Briefwechsel unnötig.
Das wenige, was erhalten geblieben ist, ist zwar einigermaßen zeitnah, aber eben doch nach Goerdelers Tod entstanden. Zu nennen sind hier insbesondere zwei Schreiben Litts, abgefasst in den Jahren 1945 und 1947, in denen dieser retrospektiv auf Goerdeler und seine Beziehungen zu selbigem zu sprechen kommt. Beide dienten Schwiedrzik als Vorlage und sind im Leipziger Universitätsarchiv überliefert. Darüber hinaus sind v.a. Litts Beziehungen zur Familie Goerdeler unmittelbar nach Kriegsende gut belegt. Sein intensives Eintreten für Goerdelers Witwe und deren Angehörige in einer Zeit, als ein solches Engagement gewiss nicht überall auf Verständnis stieß — während vielen Deutschen Goerdeler unter dem Eindruck der einschlägigen NS-Propaganda noch als Landesverräter galt, mochten die neuen Machthaber in der SBZ dessen Widerstand ebenfalls nicht zu würdigen, da dieser aus der „falschen”, weil konservativ-bürgerlichen Ecke kam —, stellen ein eindrucksvolles Zeugnis der engen freundschaftlichen Bande zwischen Goerdeler und Litt dar, die selbst über den Tod des ersteren hinaus noch Bestand hatten.
Soviel zur insgesamt doch reichlich unbefriedigenden Quellenlage; selbiger ist es auch geschuldet, dass offen bleiben muss, an welchem Punkt die Beziehungen Goerdeler-Litt ihren Anfang nahmen. Entsprechende Bekenntnisse sind von keiner Seite überliefert. Dabei erscheint die Annahme, dass sich beide im Rahmen ihrer öffentlichen Ämter — Goerdeler war am 02.04.1930 zum Oberbürgermeister der Messestadt gewählt worden, Litt hatte am 31.10.1931 turnusgemäß für ein Jahr das Rektorat der Universität Leipzig übernommen — kennengelernt haben, einigermaßen plausibel. Eine Zeitungsausschnittsammlung der Lokalpresse, welche im Litt-Nachlass erhalten geblieben ist, liefert hierfür gleich ein knappes Dutzend verschiedener Anlässe:
— 31.10.1931 — feierlicher Rektoratswechsel in der Aula der Universität am Reformationstag. Litt wird neuer Rektor der Universität Leipzig, unter den Gästen befindet sich auch Goerdeler;
— 25.11.1931 — 150 Jahre Leipziger Gewandhaus, Festakt im großen Ge-wandhaussaal. Unter den Anwesenden Litt und Goerdeler, beide mit Ansprachen ;

  • März 1932, undatiert – Goethefeier der „Leipziger Bibliophilen”. Unter den Anwesenden Litt und Goerdeler, letzterer mit Ansprache;
  • 20.03.1932 – offizielle Goethefeier zum 100. Todestag des Dichters im Neuen Theater. Goerdeler mit Begrüßungsansprache, Litt verleiht die neu geschaffene Goethe-Plakette durch die Universität an Bischof Friedrich Teutsch;
  • 22.03.1932 – Reichsgedächtnisfeier in Weimar zu Ehren Goethes. Litt und Goerdeler unter den anwesenden Gästen;
  • 28.05.1932 – Eröffnungsfeier der Goethe-Ausstellung im Museum der bildenden Künste am Augustusplatz. Litt und Goerdeler halten Reden, letzterer spricht das Schlusswort;
  • 16.07.1932 – 125. Stiftungsfest des Korps „Lusatia”. Litt und Goerdeler unter den Ehrengästen, Litt spricht Glückwünsche der Universität aus;
  • 19.09.1932 – Jahrhundertfeier des Gustav-Adolf-Vereins. Begrüßung in der Aula der Universität durch Litt, Goerdeler unter den Ehrengästen;
  • 28.10.1932 – feierliche Eröffnung des Großrundfunksenders Leipzig im Kammermusiksaal des Gewandhauses. Unter den Gästen Litt und Goerdeler, beide mit Ansprachen;
  • 31.10.1932 – feierlicher Rektoratswechsel an der Universität Leipzig. Litt
    scheidet aus seinem Amt aus, Goerdeler unter den anwesenden Gästen;
  • 25.02.1933 – Einweihung des neuen Japanischen Instituts der Universität Leipzig. Unter den Ehrengästen Litt und Goerdeler, ersterer dankt als Prorektor im Namen der Universität den japanischen Stiftern?’

Da Goerdeler freilich seinen Wohnsitz bereits im Jahre 1930 von Königsberg nach Leipzig verlegt hatte,” käme auch ein früheres Datum eines ersten Kontaktes durchaus in Betracht.
Die bereits bei Ritter erwähnte und bei Schwiedrzik näher ausgeführte akademische Beratertätigkeit Litts bleibt ebenfalls praktisch ohne zeitgenössischen Niederschlag; wiederholt taucht sie nur in den Erinnerungen Litts auf.29 Lediglich ein einziger, indirekter Hinweis auf Litts Beratertätigkeit — und eine mögliche Zusammenarbeit mit den Professoren von Dietze und Albrecht — ist im Bundesarchiv Koblenz dann doch überliefert: in einer handschriftlichen Randnotiz eines Goerdeler-Manuskripts.30 Bei dem Text handelt es sich um einen Entwurf zur „Wirtschaftsfibel”, ein von Goerdeler konzipiertes Lehrbuch über wirtschaftliche Zusammenhänge, welches jedoch nicht veröffentlicht wurde, da es zuvor der NS-Zensur zum Opfer fiel. In besagter Randnotiz, welche aller Wahrscheinlichkeit nach Albrecht zuzuordnen sein dürfte,” wird Goerdeler dazu geraten, Teile seines Manuskripts Theodor Litt zum Gegenlesen vorzulegen.” Inwieweit Goerdeler diesem Rat tatsächlich auch gefolgt ist, konnte jedoch nicht geklärt werden. Wohl ist noch eine spätere Fassung der „Wirtschaftsfibel” im Goerdeler-Nachlass überliefert,” eine Synopse der fraglichen Textpassagen ergab allerdings, dass nahezu sämtliche darin vorgenommene Korrekturen auf den Anmerkungen von Dietzes und Albrechts fußen. Ein weiteres Manuskript aber, welches idealerweise auch noch die Anmerkungen Litts enthalten würde, ist im Nachlass leider nicht überliefert.
Darüber hinaus ist man, was den Charakter der Beziehungen Goerdeler-Litt betrifft, auf Litts — in Teilen bereits bei Schwiedrzik zitierten — Selbstbeschreibungen angewiesen. Zwei Dokumente sind hier von zentraler Bedeutung: Zunächst ein auf den 28.05.1945 datiertes, aber ansonsten unadressiert gebliebenes Schreiben Litts, in welchem dieser einer unbekannten — mutmaßlich alliierten — Kommission oder Behörde über Goerdelers Person im Allgemeinen und seine Beziehungen zu selbigem im Besonderen berichtet.
Darin beschreibt sich Litt als mit den politischen Überzeugungen Goerdelers genau vertraut; Kenntnisse, welche er „aus sehr vielen Gesprächen” mit diesem gewonnen habe.” Gleichwohl habe ihn Goerdeler, was die genauen Details seiner Umsturzpläne betraf, im Unklaren gelassen. Angesichts des Zeitpunkts dieser Aussage dürfte es sich hier kaum um eine Schutzbehauptung Litts gehandelt haben, schließlich existierte da der nationalsozialistische Machtapparat schon nicht mehr. Außerdem charakterisiert sich Litt als regelmäßiger Berater Goerdelers in Hochschulfragen, deren künftige Gestaltung betreffend. In diesem Zusammenhang fällt auch der Hinweis auf das bereits erwähnte Treffen mit den Professoren von Dietze und Albrecht in gleicher Angelegenheit.
Dass er und Goerdeler durchaus nicht immer einer Meinung waren, lässt Litt ebenfalls erkennen — erhebliche Meinungsverschiedenheiten scheint es etwa in Hinblick auf Goerdelers eher optimistisch geprägtes Menschenbild gegeben zu haben. Wo dieser davon ausging, dass die meisten Menschen für rationale Argumente durchaus empfänglich seien, gab sich Litt wesentlich pessimistischer.
Nahezu identisch — und ohne weitere Details seiner Beziehungen zu Goerdeler preiszugeben — äußert sich Litt noch einmal knapp zwei Jahre später, in einem Schreiben an Ricarda Huch vom 23.02.1947, welches er ihr zur Vorbereitung auf ihr geplantes, aber nie vollendetes Gedenkbuch „Bilder deutscher Widerstandskämpfer” zukommen ließ.” Wiederum berichtet Litt von „vielen vertraulichen Gesprächen”, welche er mit Goerdeler geführt habe, deren Inhalt er freilich allenfalls andeutet.38 Anhand zweier Beispiele lässt sich immerhin der Grad der Vertraulichkeit, der zwischen beiden vorherrschte, einigermaßen ermessen. So scheint Goerdeler seinem Freund gegenüber keinerlei Zurückhaltung geübt zu haben, wenn er diesem von seinen — oftmals vergeblichen — Versuchen berichtete, Mitstreiter im Kampf gegen Hitler zu gewinnen: „Ich vergesse nie den Ausdruck innerer Qual”, schreibt Litt, „der auf seinem Gesicht hervortrat, wenn er von der Erfolglosigkeit seiner einschlägigen Bemühungen berichtete. Er meinte seine Mitmenschen auf klar zu Tage liegende Befunde hinzuweisen, und mußte erleben, daß sie nicht sehen wollten oder konnten, was er ihnen sonnenklar zu machen bemüht war.” Zugleich bringt Litt zum Ausdruck, dass er nicht in alle Pläne Goerdelers — etwa hinsichtlich der Details einer möglichen Absetzung Hitlers — eingeweiht war: „Wie er das im Einzelnen hat möglich machen wollen, ist mir unbekannt.” Ein Umstand, der v.a. zu Litts eigenem Schutz geschehen sein dürfte und nicht Ausdruck fehlenden Vertrauens war. Sonst hätte sich Goerdeler wohl auch in anderen Dingen kaum so frei geäußert, wie von Litt geschildert.
Abseits jedweder Selbstdarstellung sind es Litts konkrete Handlungen — in Wort und Tat — während der Nachkriegszeit, welche Einblicke in die Natur seines Verhältnisses zu Goerdeler ermöglichen. So ist Litt zunächst sehr darum bemüht, den Überlebenden posthum die historische Bedeutung Goerdelers vor Augen zu führen und ihn gegen Fehldeutungen und ungerechtfertigte Vorwürfe in Schutz zu nehmen. In diesem Sinn äußert sich Litt auf einer privaten Zusammenkunft im Hause Goerdeler am 20.07.1945, also exakt ein Jahr nach dem gescheiterten Hitler-Attentat, wie folgt:
„Wenn wir an das denken, was Männer wie Karl Goerdeler und der ihm bis in den Tod verbundene Freund Walter Cramer gewesen sind, was sie gewagt haben und was sie gelitten haben, dann sehen wir mit schneidender Klarheit: es hat nicht an den Männern gefehlt, die bereit und im stande gewesen wären, unser Volk vor dem Unheil, durch das es jetzt zu Boden gedrückt wird, zu bewahren. Gefehlt hat es an der Gefolgschaft, die ihrem Wollen zur Verwirklichung verholfen hätte. […] Wie wir heute sprechen, so wird dereinst die Geschichte sprechen, wenn erst einmal durch allen Qualm der Lüge, der Mißgunst und der parteiischen Entstellung die wahre Gestalt der Ereignisse und der Menschen durchzudringen vermag. “
Damit nicht genug: Enttäuscht von seinen Mitmenschen, die den Nationalsozialisten in ihrer großen Mehrzahl so bereitwillig gefolgt waren, erscheint Goerdeler bei Litt als überlebensgroßes Vorbild, in das der Pädagoge all seinen Hoffnungen auf ein künftiges, ein besseres Deutschland hineinprojiziert:
„Wenn wir uns fragen: Wo war damals Deutschland?, dann werden wir antworten dürfen: Es war bei diesen Männern, es lebte in ihren glühenden Herzen und rastlos planenden Köpfen und nicht in den Verworfenen, die sich vor der Welt als berufene Vertreter deutschen Wesens und Vorkämpfer deutscher Zukunft aufspielten. […] Deshalb suchen wir uns an ihnen aufzurichten, wenn uns die Frage quält, ob unser Volk es noch zu der inneren Gesundung bringen kann, ohne die alles Ringen mit den äußeren Schwierigkeiten auf die Dauer keinen Erfolg haben kann. Sagen wir es uns, daß ein Volk, welches in der dunkelsten Stunde seiner Geschichte immer noch so viel an Treue, Heldenmut und Wahrhaftigkeit in seinem Schoße trug, wohl auch in der Bedrängnis des gegenwärtigen Augenblicks die Gegenkräfte hervorbringen wird, durch die es nicht nur die äußere Not, sondern auch und vor allem den Widersacher im eigenen Herzen niederzuzwingen vermag!’
Mögen diese Zitate auch in privater Runde unter Gleichgesinnten gefallen sein — selbst in der Öffentlichkeit äußerte sich Litt kaum anders. So fällt in einer Rede, die er am 29.09.1945 auf dem Leipziger Augustusplatz auf einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus hielt, als einziger Name derjenige Goerdelers:
„Reichen wir uns die Hand, um gemeinsam an einer deutschen Zukunft zu bauen, in der die Greuel der Despotie eine Unmöglichkeit sind! Dieses Bild eines zur Freiheit erlösten, in Einigkeit zusammenstehenden Volkes war es, das wie eine leuchtende Vision einem Karl Goerdeler vor Augen stand, wenn er mit seinen Planungen in eine fernere Zukunft hinausgriff. Wenn wir uns fest machen in dem Entschluß, uns mit ganzem Herzen in den Dienst einer solchen Zukunft zu stellen, dann wird die Hinopferung derer, um die wir heute klagen, doch noch einen höheren Sinn erhalten haben. Es steht bei uns, nur bei uns, ihr diesen Sinn zu verleihen! “41
Überflüssig zu erwähnen, dass Litts Appell keinerlei Erfolg beschieden war — die neue, nunmehr kommunistische Führung in der SBZ hatte schlicht kein Interesse daran, das Andenken Goerdelers in Ehren zu halten, geschweige denn, einen künftigen deutschen Staat in dessen Traditionen aufzubauen. Dafür war Goerdelers Widerstand zu sehr im falschen politischen Lager verankert.
Dabei hat sich Litt nicht nur verbal für Goerdeler und dessen Andenken in der Öffentlichkeit eingesetzt, er hat sich auch ganz konkret dessen überlebenden Familienangehörigen angenommen, kaum dass diese von den Amerikanern befreit worden waren. Ein im Leipziger Stadtarchiv erhalten gebliebener Vorgang führt dieses Engagement sehr eindrucksvoll vor Augen und macht deutlich, woran Marianne Meyer-Krahmer zuvorderst gedacht hat, als sie in ihren Erinnerungen Litts Beistand nach dem Krieg lobend hervorhob.42 So interveniert Litt zwischen Juni 1945 und Januar 1946 wiederholt bei den Leipziger Stadtoberen, um für eine Wiederaufnahme der Unterhaltszahlungen an die Witwe Goerdelers zu werben. Etwaige Pensionszahlungen, welche den Goerdelers eigentlich zustanden — immerhin war der frühere Leipziger Oberbürgermeister, beginnend 1911 in Solingen, über 25 Jahre in der städtischen Kommunalverwaltung tätig gewesen —, hatten die Nationalsozialisten nach der Verhaftung Goerdelers eingestellt, und auch nach der Hinrichtung ihres Mannes hatte dessen Witwe keinerlei finanzielle Zuwendungen erhalten, da sich die gesamte Familie in Sippenhaft befand.
Eine erste Petition Litts, datierend vom 10.06.1945, appelliert auch zunächst erfolgreich ans Gewissen der Stadt:
„Wenn die ganze Familie [Goerdeler] nach Leipzig zurückgekehrt sein wird, dann wird sie vor der Frage stehen, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll. Es scheint mir ja eine selbstverständliche Ehrenschuld zu sein, daß das Reich die Fürsorge für die Hinterbliebenen der Männer übernehmen wird, die ihr Leben haben hingeben müssen, als sie eine frühere Beendigung des deutschen Jammers zu bewirken versuchten. Aber das Reich existiert bis auf weiteres noch nicht. Da wird doch wohl die Stadt, deren Oberbürgermeister Goerdeler gewesen ist und in der er bis zuletzt gelebt hat, einspringen müssen. Und es wird bald geschehen müssen, damit die Familie nicht sofort nach ihrer Rückkehr in bittere Not gerät .”
Neben einer einmaligen Nachzahlung noch ausstehender Ruhestandsbezüge in Höhe von 10 701 RM erklärt sich die Stadt Leipzig bereit, Frau Goerdeler künftig Witwen- und Waisengeld zu zahlen.44 Zwei Monate lang hat die Zusage Bestand, doch schon im Herbst bleiben die Unterhaltszahlungen von neuem aus. Hintergrund ist ein Erlass der Landesverwaltung Sachsen vom 14.09.1945, welcher die Auszahlung der bisherigen Ruhestands- und Hinterbliebenenbezüge bis auf weiteres außer Kraft setzt.45 Zwar stehen die Goerdelers damit nicht völlig mittellos da — ein Mietshaus in Halle/ Saale sowie ein Hofgut bei Heilbronn bescheren geringe Einkünfte —, doch übersteigen die Ausgaben für den Unterhalt der mehrköpfigen Familie schon bald deren Einnahmen. Die prekäre finanzielle Situation der Goerdelers vor Augen, interveniert Litt am 13.10.1945 erneut bei Leipzigs Oberbürgermeister Zeigner: „Ich halte mich für verpflichtet, ihnen mitzuteilen, daß die gegenwärtige Lage von Familie Goerdeler mir ernste Sorgen bereitet”, schreibt Litt und plädiert eindringlich dafür, den Fall der Goerdelers „als Sonderfall” anzusehen und angesichts der Verdienste des früheren Oberbürgermeisters eine Ausnahme zu machen.
Und eine solche Härtefallregelung wäre in der Tat möglich; seit November 1945 erlaubt die Landesverwaltung Sachsen „in dringenden Notfällen” wieder die Auszahlung von Versorgungsbezügen, im Höchstfalle bis zu 150 RM aus den Verfügungsmitteln des Oberbürgermeisters. Eine derartige Zahlung wird hinter den Kulissen auch kurzfristig erwogen,49 schlussendlich aber verworfen. „Am [2]3.7.1945 wurden an Frau G[oer-deler] 10 701,— M gezahlt. In einer Zeit, da dem ärmsten Pensionär keine Rente gezahlt werden darf, kann auch aus den Verfügungsgeldern des Pers[onal-]Amtes nichts an Frau G[oerdeler] gezahlt werden”, heißt es zur Begründung lapidar in einer Aktennotiz.
Trotz weiterer Interventionen Litts, die letzte datierend vom 31.01. 1946,5′ erfolgen ausweislich der Personalakte Goerdelers bis Mai 1948 keine weiteren Unterhaltszahlungen der Stadt Leipzig. Mögliche Ersatzleistungen aus den Mitteln der Sozialversicherungsanstalt sowie später auch aus Haushaltsmitteln werden stets mit dem Hinweis auf Voraussetzungen verweigert, welche Frau Goerdeler nicht erfülle: Weder habe sie das entsprechende Alter, noch liege ihr Wohnsitz in der SBZ.
Tatsächlich hatten die Goerdelers in der Zwischenzeit Leipzig den Rücken gekehrt und in der Nähe von Heilbronn eine neue Heimstätte gefunden. Und auch die dortigen Behörden zeigten sich vergleichsweise kulant: Seit Anfang 1946 zahlte das Land Württemberg-Baden eine monatliche Notstandsbeihilfe,54 später kam die Stadt Solingen, in der Goerdeler seine kommunalpolitische Karriere begonnen hatte, für die Ausbildung seiner jüngsten Tochter Benigna auf.”
Litts Spuren in der Überlieferung verlieren sich schon vorher; seit Anfang 1946 tritt er in der Personalakte Goerdelers nicht mehr in Erscheinung. Bald schon wird er den Goerdelers in den Westen folgen — 1947 nimmt er einen Ruf der Universität Bonn an.

Ausblick

Weiterführende Erkenntnisse, die Natur der Beziehungen Goerdeler-Litt betreffend, sind angesichts der dargestellten Überlieferungsproblematik zumindest in den untersuchten Archiven nicht mehr zu erwarten. Hoffnung besteht dennoch, dass das ein oder andere Schriftstück nach wie vor der Entdeckung harrt. Noch immer befindet sich ein beträchtlicher Teil der Goerdeler’schen Privatkorrespondenz im Besitz seiner Enkel; hier könnte sich tatsächlich noch der ein oder andere Fund verbergen. Dafür müsste besagte Korrespondenz freilich erst erschlossen werden.
wenn ich nicht das Gefühl hätte, daß hier eine Ehrenpflicht der Allgemeinheit vorliegt.” — Schreiben Theodor Litts an Oberbürgermeister Erich Zeigner, 31.01.1946 (StA L Kap. 10 G Nr. 685, Fol. 98). Litts eigenen Angaben zufolge schrieb er den Brief in Eigeninitiative, seine Eingabe erfolge demnach ohne Wissen der Familie Goerdeler.

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