Theodor Litt — Eduard Spranger.
Philosophie und Pädagogik
in der geisteswissenschaftlichen Tradition
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2009
MIROSLAW S. SZYMANSKI
Die Rezeption Eduard Sprangers und Theodor Litts in Polen
Als ich erfahren habe, was das Thema meines Vortrags bei dem immerhin schon XII. Theodor Litt Symposion sein sollte, geriet ich in Bedenken. Über welche Rezeption sollte von Spranger und Litt in der polnischen Pädagogik —oder eher in der polnischen Geisteswissenschaft — die Rede sein? Beide waren ja nicht nur bedeutende Pädagogen, sondern auch hervorragende Geisteswissenschaftler, deren Denken in ganz Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt war. Heute sind sie in den polnischen Geisteswissenschaften nahezu total vergessen. Ihre Namen sind nur sehr selten in den Lehrbüchern aus dem Bereich der Pädagogik, Psychologie, Philosophie oder Theorie der Kultur etc. zu finden. Auch werden sie in akademischen Vorlesungen oder Diplomseminaren nicht erwähnt. Es ist leicht zu erfahren, dass ihre Namen den gegenwärtigen Studenten der zahlreichen Jahrgänge oder —noch schlimmer — den jüngeren Professoren absolut nichts mehr sagen. Ihre Biographien sind nur sehr knapp und ebenso allgemein.
Und so können wir die Biographie von Litt in keinem Lexikon aus dem Bereich der Humanwissenschaften finden. Es wurde lediglich in der 35-bändigen „Grossen Enzyklopädie” veröffentlicht, die in den Jahren 20012005 herausgegeben wurde. Im Band Nr. 16 können wir lesen: „[…]geb. am 27. XII 1880 in Düsseldorf gest. am I6.VL 1962 in Bonn, deutscher Philosoph, Pädagoge, Ethiker und Kulturphilosoph, Neohegelianer, Professor der Universitäten in Bonn (1919) und Leipzig (1920-37); seit 1947 vereinigte er die Grundsätze der Philosophie von Hegel mit der Methode von Dilthey; Der Gründer der Selbststeigerungs-Idee vom Denken […].”1 Und das wäre alles, vielleicht noch der Hinweis auf 7 Titel von Litts wichtigsten Werken.
Die Biografie von Spranger ist in der Großen Enzyklopädie jedoch nicht zu finden (wer weiß, warum), was man wohl für ein großes Versehen halten kann. Zum Glück können wir es in einigen pädagogischen Lexika finden. Hier ein Beispiel aus dem mehrmals veröffentlichten Nowy Slownik Pedago-giczny (Neues Pädagogisches Wörterbuch), dessen Autor mein Doktorvater, Wincenty Okoti, ist (man kann es auch als die polnische Entsprechung des Wörterbuchs der Pädagogik von Winfried Böhm bezeichnen): „[…] geb. 27 VI 1882, Berlin, gest. 171X 1963, Tübingen, deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge; 1911-20 Professor an der Universität in Leipzig, 1921-46 in Berlin, seit 1946 in Tübingen. Unter dem Einfluss der deutschen idealistischen Philosophie entwickelte S. die sog. Verstehende Psychologie, die ein besseres Kennen Lernen und ein tieferes Verständnis des Menschen ermöglichen sollte. Indem er jeden Menschen als ein Objekt erfasste, in welchem die Kulturwerte eine spezifische Widerspiegelung finden, führte S. die Typen-Klassifizierung der Persönlichkeit ein […].” Die biografischen Hinweise werden durch die Aufzählung von lediglich vier Hauptwerken von Spranger ergänzt.
Warum sind Litt und Spranger eigentlich in der polnischen Geisteswissenschaft nicht präsent?
Die erste Antwort ergibt sich aus der Überzeugung, dass ihre Konzepte nun mehr oder weniger einen antiquarischen Wert hätten und nur für eine Handvoll von geisteswissenschaftlichen Historikern, genauer gesagt für die Bildungshistoriker, interessant sein könnten. Diese Überzeugung ist grundsätzlich falsch, denn die Geisteswissenschaftliche Pädagogik in Deutschland (in Polen „Kulturpädagogik” genannt) ist nicht nur immer öfter der Gegenstand von historischen Untersuchungen, sondern genießt auch eine deutliche Renaissance und eine nachhaltige kreative Entwicklung. Einer der namhaftesten polnischen Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, Bogdan Naw-roczytiski, schrieb einst hinsichtlich der pädagogischen Strömungen: „In Polen wehen die Winde grundsätzlich vom Westen, im 20. Jahrhundert hauptsächlich von Deutschland.” Vielleicht wird es auch im 21. Jahrhundert ähnlich sein und wir werden zum Anfang die polnische Übersetzung des (für jeden Adepten der Geisteswissenschaften) außerordentlich wichtigen Werkes: Hermeneutik und Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Ein Studienbuch erleben dürfen.
Die zweite Antwort ist schon eher nüchtern und es ist schwer zu glauben: aber weder die Arbeiten von Spranger noch die von Litt sind in der polnischen Sprache zu finden. Vielleicht mit einer einzigen Ausnahme: ein kleines Fragment aus dem Jugendwerk von Spranger Wilhelm von Humboldt und Humanitätsideen von 1909, veröffentlicht 19886 auf die Initiative von Bogdan Suchodolski hin, dem wohl bedeutendsten Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Polen.
Wenn wir schon bei Suchodolski sind, so gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung: 1978 hatte ich die Ehre an dem von ihm geführten Seminar und Translatorium teilzunehmen. Das Thema war selbstverständlich die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und ihre herausragenden Vertreter, mit Eduard Spranger an der Spitze. Wir besprachen ziemlich detailliert sein wohl berühmtestes Werk Lebensformen von 1914 (später mehrmals neu publiziert). Suchodolski hatte vor, es in der polnischen Sprache herauszugeben. In späteren Jahren entstand sogar die Übersetzung des Textes. Suchodolski war jedoch damit absolut unzufrieden und versuchte die Übersetzung immer wieder zu vervollkommnen. Das Buch sollte in der 1988 gegründeten und renommierten „Bibliothek der Psychologie-Klassiker” erscheinen, und zwar neben den Werken von Alfred Adler, Charlotte Bühler, Ernst Kretschmer und anderen. Leider ist die Übersetzung nach dem Tode von Suchodolski in den Auseinandersetzungen um seinen Nachlass und den Bücherbestand verloren gegangen. Ich bemühe mich seit Jahren, dass die Lebensformen auf Polnisch erscheinen können. Bisher leider erfolglos.
Zum Glück ist die Theorie von Lebensformen den polnischen Pädagogen und Psychologen nicht komplett unbekannt. Sie wurde vor allem in dem Hauptwerk von Bogdan Nawroczytiski, Grundlagen des Unterrichtens, umfangreich besprochen, das 1932 veröffentlicht, später mehrmals neu gedruckt wurde (letzte Ausgabe 1987). In der Einleitung schrieb der Autor „[ ] der Begriff der geistigen Struktur, wie sie erst Dilthey und nun E. Spranger und G. Kerschensteiner verstanden hatten, wurde zum Rückgrat dieses Buches”: und etwas weiter stellte er fest, dass er bei der Gründung seiner Theorie u.a. vieles Spranger zu verdanken habe, auf den er in diesem Buch sehr oft verweist, seine Anschauungen zugleich mehr oder weniger umfangreich besprechend.
Kommen wir aber noch einmal zu der Theorie zurück, wie sie in den Lebensformen dargelegt ist. Spranger legt dort die idealen Grundtypen der Individualität fest. Er unterscheidet den theoretischen Menschen, den ökonomischen Menschen, den ästhetischen Menschen, den sozialen Menschen, den Machtmenschen und den religiösen Menschen. Das Kriterium für diese Typologie ist die dominierende geistige Einstellung des Menschen; der Leitwert, der ihn in seinem Leben führt, um den herum sich seine Bildung, Charakter und Persönlichkeit kristallisieren.
Jede „Lebensform” besitzt eine geistige oder psychische Struktur — bezogen auf einen bestimmten Oberwert, der einem Kulturgebiet entspricht. Spranger selbst fasst das in sehr einfache Worte: „Das innere Aufbaugesetz dieser Struktur erfassten wir in den Werten, die für ihr Leben in erster Linie entscheidend sind. Von der Wertstruktur oder Wertverfassung aus näherten wir uns, zunächst rein beschreibend, dem Geheimnis der Persönlichkeit. ,Sage mir, was dir wertvoll ist, und ich will dir sagen, wer Du bist’ — so könnten wir eine alte sprichwörtliche Wahrheit umformen bzw. in ihrer Aussagequalität in Anspruch nehmen.”
Nawroczyliski betont zurecht, dass die meisten Typologien von Persönlichkeit, Temperament, Charakter oder Geist (vorwiegend von deutschen Wissenschaftlern geschaffen) sich auf eine oder mehrere Dichotomien stützten, also auf die Unterscheidung von zwei oder mehreren gegensätzlichen Grundtypen ausgerichtet sind. Für das Kriterium der Bildung von Typen oder den Grundsatz für ihre Unterscheidung nahm man meistens psychische, behavio-rale oder neurologische Indikatoren, weil diese ja hauptsächlich von Psychologen und Psychiatern geschaffen wurden. Die klare Typologie von Lebensformen zeichnet sich jedoch durch die Vielheit von Typen aus, die schon bei ihren Grundlagen angenommen und nicht erst durch diverse Kombinationen von dichotomen Typen erzeugt wurden. In dieser werden keine Mischtypen zugelassen, da sich im Falle eines Konflikts zwischen den Werten der höchste und strengste Wert verwirklichen muss. Sie stützt sich weder auf experimentelle Untersuchungen noch auf klinische Erfahrungen, dagegen aber auf das Verständnis der psychischen Strukturen des gegebenen Menschen vom Gesichtspunkt der Kulturwerte her. Und hierin ruht — laut Nawroczyliski — ihr großer pädagogischer Wert.
Wie ich bereits sagte, ist Spranger und insbesondere Litt — wenn überhaupt — nur in einem sehr geringen Ausmaß im theoretischen und methodologischen Bewusstsein der gegenwärtigen polnischen Humanisten anzutreffen. Sie hatten aufgehört, sich der deutschen Sprache — dominierend in Europa im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts — als Sprache der Wissenschaft zu bedienen. Ihre Stellung nahm nun das weltweit benutzte Englisch ein. Aber es war nicht immer so. Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Name von Spranger den Akademikern im pädagogischen Bereich grundsätzlich bekannt. Auch den reformpädagogisch orientierten Lehrern und Beamten im Bildungsministerium war er nicht fremd — und das dank bedeutender Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die fast alle unter dem großen Einfluss von diversen deutschen Erziehungswissenschaften standen: Lebensphilosophie (selbstverständlich), Neokantianismus. Neohegelis-mus, Neohumanismus, Neoidealismus etc. Erwähnenswert sind hier solche Geisteswissenschaftler wie Ludwik Chmaj, Sergiusz Hessen, Jan Andrzej Kuchta, Zbigniew Karol Myslakowski, Bogdan Nawroczytiski, Henryk Ro-wid, Kazimierz Sognicki und Bogdan Suchodolski.
Die namhaftesten von ihnen sind zweifelsohne Nawroczyhski und Suchodol-ski. Und auf diese möchte ich mich im Folgenden beschränken.
Sie alle, wie auch viele andere, wiesen sehr oft und gern auf Spranger hin; wesentlich seltener auf Litt. Sie diskutierten und kritisierten seine Anschauungen, schöpften Anregungen für eigene wissenschaftliche Konzeptionen und Bildungsinnovationen. Mit einem Wort: Spranger war für polnische Kulturpädagogen ein Wegweiser und ein wichtiger Ansatzpunkt; sein Name war „in aller Munde”.
Eine eigenständige Sanktionierung seiner Stellung in polnischen Geisteswissenschaften ist der erste Satz des Vorwortes zu der polnischen Ausgabe der 1936 (gekürzt und unter einem anderen Titel) herausgegebenen Broschüre im Rahmen der damals populären Reihe Glöwne Kierunki Wspölczesnej Peda-gogiki (Hauptrichtungen der Gegenwartspädagogik). Else Croner schrieb dort in einem Artikel unter dem deutschen Titel Eduard Spranger — Persönlichkeit und Werk (Berlin 1933): “Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik wird bei uns oft ,Kulturpädagogik’ genannt — sie ist eine der tieferen und wertvolleren Strömungen der gegenwärtigen Pädagogik. Ihr Hauptvertreter ist der namhafte deutsche Pädagoge, Prof. Dr. Edward Spranger. “
Keiner der polnischen Pädagogen hat je eine ähnliche Meinung über Litt geäußert. Dies geschah auch zweifelsohne aus dem Grunde, weil die Rezeption seiner Werke viel schwieriger war und sich außerdem nur ein Kulturpädagoge — Bogdan Nawroczytiski (1882-1974) — tiefer für dessen Arbeit interessiert hatte. (Anmerkung: Er war übrigens auch Gründer meiner heimischen Fakultät an der Warschauer Universität.) In den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts studierte Nawroczytiski u.a. Polonistik (mit historisch-literarischem Bezug) in Berlin und Lemberg und zuvor Philosophie und Soziologie. Dies erfolgte selbstverständlich auch in Deutschland: in Berlin u.a bei Georg Simmel und in Leipzig u.a. bei Paul Barth. Er übersetzte auch die wichtigsten Werke von J.F. Herbart und Georg Kerschensteiner ins Polnische. Nawroczytiski pflegte bis zum Ausbruch des Krieges eine lebhafte Korrespondenz mit Peter Petersen.
1929 erschien eines seiner besonders bedeutenden Werke Swoboda i przymus w wychowaniu (Freiheit und Zwang in der Erziehung (1932 erneut aufgelegt), in dem er die Stellung zu dem damals von Vertretern der Neuen Erziehung viel diskutierten Topos genommen hat. Hiernach sollte die alte Erziehung eine Pädagogik des Zwanges sein. Die neue Erziehung bezeichnete er dagegen als die Pädagogik der Freiheit. Indem der Autor die pädagogischen Anschauungen u.a. von Rousseau, Maria Montessori, John Dewey analysierte, versuchte er, das Dilemma zu lösen: Ist es wirklich so, dass sich die traditionelle Erziehung eher nur auf Zwang stützt? Und kann sich die neue wirklich lediglich auf Freiheit stützen? Haben wir es hier tatsächlich mit der Antithese zu tun: hier Zwang, dort — Freiheit? Indem er sehr tiefe Analysen der diversen Arten von Zwang und Freiheit durchführte und in diesem Zusammenhang eingehend verschiedene Bedeutungen dieser Termini erklärte, kam er mehrmals zu einer verschiedenartig formulierten Feststellung: in jeder Erziehung gibt es Momente der Freiheit und des Zwanges. In der Erziehung kann der Zwang nicht ohne Freiheit existieren und die Freiheit nicht ohne Zwang. Wichtig ist hier, dass man die Arten von Freiheit und Zwang mit dem möglicherweise höchsten erzieherischen Wert verwendet.
Es bestehen keine Zweifel, dass u.a. die Anschauungen von radikalen Befürwortern der Neuen Erziehung Nawroczyriski zu der Reflexion des berüchtigten Topos jener Zeit verleitet hatten. Unmittelbar war es jedoch — was er selbst zugibt — das berühmte Werk von Theodor Litt “Führen” oder „Wachs-enlassen”, Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems” — 1927 veröffentlicht und mehrmals neu gedruckt (auch nach dem Kriege). Dieses Werk entstand unter dem Einfluss der Auseinandersetzung während des Pädagogischen Kongresses, der 1926 in Weimar stattgefunden hatte. Nawroc-zyriski hat der Darlegung und hiterpretation der Anschauungen Lifts viel Platz gewidmet, wobei er sich aber — wie er selbst sagte — auf das beschränkt hatte, was darin eine wirkliche Neuheit war. Hier ging es vor allem um die Tatsache, dass die bisher miteinander kämpfenden pädagogischen Lager —der alten und der neuen Erziehung — sich in ihrer Einstellung wesentlich näher gekommen sind: die Befürworter des ,Führen’ lassen nun das freie Wachsen der Jugendlichen zu und umgekehrt — die Anhänger des freien „Wachsenlassens” lassen wiederum das „Führen” zu.
In Bezug auf die wichtigste „Aufgabe des Erziehers”, die Einführung des Zöglings in die Welt der Kultur, werden die Grenzen zwischen diesen Prozessen diffus. Beide sind notwendig: die Einschränkung ausschließlich auf die Einführung der Jugendlichen in die das geistige Leben der jungen Generation formende Tradition (Sprache. Sitten, Moral, Religion, die Werke der Kunst und Wissenschaft, Formen des sozialen Lebens usw. ) würde zur Nachahmung, Stagnation oder sogar Regress in der Entwicklung der Kultur führen. Dagegen müsste das lediglich freie Wachsen lassen der Jugendlichen eine Rückkehr zur Barbarei zur Folge haben. Nicht immer jedoch lassen sich diese zwei Prozesse harmonisch vereinigen. Und so sollte es sein, wenn es um das Ideal des künftigen Lebens, der künftigen Gesellschaft geht — von Litt kurz „Bildungsideal” genannt. Das Bildungsideal kann nicht durch den Erzieher aufgezwungen werden, weil es etwas ist, was ja immer der Vergangenheit und der Gegenwart entspringt und somit für die junge Generation beschränkend wirkt; Das Bildungsideal muss selbständig, d.h. von den Jugendlichen selbst als etwas ganz neues, früher unbekanntes und kreatives, als etwas befreiendes erarbeitet werden. Und hier stieß Litt auf eine relativ scharfe Kritik von Nawroczytiski, der keineswegs mit der Anschauung einverstanden sein wollte, dass das bisher von dem Erzieher aufgezwungene Bildungsideal in der Erziehung überflüssig sei und zu einer spontanen Erfindung der Zöglinge selbst werden sollte.
Nawroczynski hat sich nicht nur mit Litt beschäftigt. Von den früher lebenden deutschen Denkern interessierte er sich besonders für Johann Friedrich Herbart (1776-1841) und Wilhelm von Humboldt (1767-1835), dessen Schaffen er vor allem durch die Darlegungen und Meinungen von Spranger betrachtet hatte. In einer der hervorragenden, dem W. von Humboldt gewidmeten, synthetischen Abhandlung vom Jahre 1935 schrieb er „Edward Spranger wurde zum eigentlichen Mittelglied zwischen W. von Humboldt und der Generation, die ihr Schaffen im ersten Viertel des laufenden Jahrhunderts entwickelt hatte.”
Eine ähnliche Meinung vertrat auch der andere, hier bereits erwähnte Hauptvertreter der polnischen Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, Bogdan Suchodolski (1902-1993). „Von früh auf hat mir der Gedanke eines deutschen humanistischen Bildungsideals als das vorgeschwebt, was wir gewinnen —oder richtiger — wiedergewinnen müßten. Der ganze Gang meiner Selbstbildung ist von hier aus bestimmt gewesen; in diesem Sinne bedeutete mir der deutsche Idealismus und die klassische Literatur eine unversiegbare Quelle frischen Lebens.” — schrieb Spranger im Vorwort zu seinem Jugendwerk über Wilhelm von Humboldt.
Fast dasselbe hätte über sich auch Suchodolski sagen können, der in seinem gesamten Schaffen nach dem polnischen humanistischen Bildungsideal suchte, indem er vor allem die Literatur und Philosophie der polnischen Aufklärung und die des Jungen Polens — einer Kulturbewegung in den Jahren 18901918 — untersuchte. Wenn aber Spranger sein Leben lang seinen Jugendidealen eigentlich treu geblieben war, so machte Suchodolski eine spezifische Evolution durch: von der Idee der Philosophie und der nationalen Erziehung, gefärbt von der Lebensphilosophie Nietzsches und Bergsons und auch dem Pragmatismus von James Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts an, zu der Idee des sozialistischen Humanismus hin, der in kommunistischen Polen nach dem Kriege auf den Marxismus gestützt war.
Suchodolski ist wohl der polnische Kulturpädagoge, der Spranger am meisten zu verdanken hat. Und das hinsichtlich des Stipendiums, das ihm vom Fond der Nationalen Kultur zuerkannt wurde, was ein Wendeereignis in seiner intellektuellen Entwicklung war und der Anfang des Abschieds mit seinen bisherigen Anschauungen über die Erziehung. Dieses Stipendium nahm er u.a. in Berlin in Anspruch, wo er im Studienjahr 1926/1927 hauptsächlich bei Spranger studiert hatte.
Er war damals schon nach seinem Studium der Polonistik (mit philosophisch-pädagogischer Prägung) in Warschau, wie auch der Autor von zahlreichen Rezensionen in der Alltagspresse, die sein redliches Wissen von westeuropäischen Denkern bewiesen (aus Deutschland waren dies: Rudolf Eucken, Oswald Spengler, Ernst Troeltsch oder Georg Simmel). Mehr, er war auch der Verfasser von Rezensionen der neuesten Werke deutscher Humanisten, wie etwa Max Scheler oder Heinrich Rickert, um nur die berühmtesten zu nennen. Angesichts der vor 1926- publizierten Veröffentlichungen könnte die Problematik der deutschen Geisteswissenschaftlichen Pädagogik — oder allgemeiner — der Geisteswissenschaft Bogdan Suchodolski gut bekannt sein, und zwar schon vor seiner Reise nach Berlin. Somit bleibt die Frage offen: ließ ihm das Studium unter der Leitung von Spranger das schon vorhandene Wissen vertiefen, oder ihn eher zur Erarbeitung seiner eigenen Stellung verleiten? Wie dem auch sei, das Resultat seiner Berliner Studien bestand immerhin aus zwei bedeutenden Abhandlungen. Diese bestanden neben einer Reihe von Artikeln, die abgedruckt wurden in: Reforma szkolnictwa srednigo w Niemczechu (Oberschulbildungsreform in Deutschland) im Jahre 1927 und Stan badari nad metodologiq humanistyki w Niemczech (Stand der Forschung über die Methodologie der Geisteswissenschaft in Deutschland) im Jahre 1928. Die Einflüsse Sprangers sind sehr deutlich spürbar. Diese Abhandlungen eröffneten zugleich eine neue Periode im Schaffen von Sucho-dolski und markierten bis zur kommunistischen Zeit die Richtung seiner wissenschaftlichen Interessen.
Dank den vor 1928 publizierten Abhandlungen (gesammelt im zweiten Teil des Bandes Kultur und Erziehung15 — dessen erste Ausgabe 1922 erfolgte) interessierte er sich für philosophische Grundlagen der Pädagogik, für die Pädagogik der „Neuen Erziehung” (die ihn aber schnell enttäuscht hat), die Bildungsreform in Polen (die er auf das Weimarer Bildungsmuster stützen wollte), Unterrichtslehrpläne für humanistische Fächer in den Schulen (hier an den Neohumanismus anknüpfend) und die Didaktik der Grundschule. Ihr stellte er neue Aufgaben, denn ihm ging es nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern auch um die Entwicklung der Persönlichkeit, die Bildung des Individuums, das Vermitteln von Kooperation, die Bürgererziehung (die nicht nur den Untertan, sondern einen Bürger des demokratischen Staates ausbilden und somit zur Vergesellschaftung des Staates führen sollte), die Mädchenerziehung (er publizierte in liberalen Frauenschriften), die Ausbildung von Lehrern und Erziehern (die jedoch angeborene Gaben und Berufung zu ihrem Beruf haben müssten), die Beziehung zwischen Allgemein-und Berufsbildung (er hat hier keinen Konflikt gesehen) usw. und so fort.
Anfang der 30-ger Jahre nahm der Einfluss der deutschen Geisteswissenschaft, darunter Spranger, auf Suchodolski wesentlich nach. Er wandte sich an die Vergangenheit, die Inspirationen bei polnischen Denkern der vergangenen Epochen suchend. 1936 entsteht die bis 1939 von Suchodolski redigierte Vierteljahresschrift „Kultura i Wychowanie” (Kultur und Erziehung), die als die wichtigste „Tribüne der polnischen Geisteswissenschaftlichen Pädagogik” gilt. Es publizierten darin beinahe ausschließlich polnische Humanisten. Im Inhaltsverzeichnis ist der Name von Spranger nicht zu finden. In diesen vier Jahren wurde lediglich ein Text von Peter Petersen und ein von Wilhelm Flitner veröffentlicht.
Nach dem Krieg, schon Ende der 40-ger Jahre, wurde Suchodolski zum führenden Pädagogen des sog, sozialistischen Humanismus. Er blieb an seiner Spitze bis zum Ende der Volksrepublik Polen im Jahre 1989, wofür er mit dem Ostrazismus der pädagogischen akademischen Kreise belegt wurde.
Zu guter Letzt noch eine Bemerkung: unter den Mängeln der polnischen Pädagogik ist das Fehlen von kritischen Rekonstruktionen der Konzepte der gegenwärtigen Humanistik für mich äußerst beunruhigend. Diese Feststellung betrifft auch die Tradition des pädagogischen Denkens, die man einerseits als etwas Belangloses oder sogar Überflüssiges betrachtet, andererseits sind diese — zusammen mit fremden Entlehnungen — eine wesentliche Ergänzung für die gegenwärtige Humanistik. Das trifft besonders für die polnische Geisteswissenschaftliche Pädagogik zu.