HARALD LÖNNECKER
„… den Kern dieses ganzen Wesens hochzuhalten und … zu lieben”.
Theodor Litt und die studentischen Verbindungen
In der Geschichte des Sondershäuser Verbandes (SV) akademisch-musikalischer Verbindungen heißt es unter der Überschrift „Bekannte Angehörige des SV” über einen der größten deutschen Pädagogen: „Dr. Theodor Litt, Professor der Philosophie und Pädagogik, Ritter der Friedensklasse des Ordens Pour le Merite, Bonn, 1880-1962, BN”. Die Abkürzung „BN” steht für „Alter Herr der Akademisch-musikalischen Verbindung Makaria Bonn im SV”. Die Angabe ist nicht ganz korrekt, denn Litt gehörte zeitweise auch einem weiteren SV-Mitglied an, der Akademischen Liedertafel (ALT) Berlin. Im Wintersemester 1900/01 war er Vizedirigent der ALT. Die „Kommers-mimik” zum 45. Stiftungsfest am 16. Februar 1901 begleitete er am Klavier. Als er Ende Oktober 1931 Leipziger Rektor wurde und in dieser Eigenschaft nach Möglichkeit jede Korporationsfeier besuchte, erinnerte er sich daran anläßlich seiner Festrede zum 125. Stiftungsfest des Corps Lusatia im Sommer 1932.Auch bei Gelegenheit seines Festvortrags zum 110. Stiftungsfest der Leipziger Universitäts-Sängerschaft zu St. Pauli im Juli 1932 kam er auf seine studentische Vergangenheit zu sprechen.
Mein besonderer Dank gilt Frau Karen Gaukel, Bearbeiterin des Nachlasses Theodor Litts in der Litt-Forschungsstelle der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, für ihre Anregungen, Kritik und die nimmermüde Bereitschaft zu Diskussionen zur Litt-Überlieferung, sowie Herrn Klaus Nötzel, Archivar Makaria Bonns, der mir das Archiv Makarias zugänglich machte.
Angesichts der „katastrophale[n] Entwicklung unserer Wirtschaftslage” gab es im Vorfeld des Stiftungsfestes Auseinandersetzungen, ob die Pauliner —mit 350 Studenten und 1.300 Alten Herren die mit Abstand mitgliederstärkste Leipziger Verbindung — überhaupt „Feste in unserer Zeit” feiern sollten. Die „Volksnot” und die „trübe[n] Aussichten” sprachen eher dagegen und für Abstriche an Veranstaltungen und Konzerten Dennoch war die überwiegende Meinung, eine Sängerschaft von der Größe und Bedeutung St. Paulis sei es sich und der Hochschule schuldig, ihr Stiftungsfest möglichst glanzvoll zu gestalten.’ Litt und sein Freund, der Leipziger Oberbürgermeister Carl Goer-deler — Alter Herr der Turnerschaft Eberhardina Tübingen8 — bestärkten St. Pauli in dieser Ansicht und übernahmen das Protektorat über das Fest. Bei dieser Gelegenheit wurde Prof. Dr. Hermann Grabners — Pauliner und Universitätsmusikdirektor, der bereits Litts Rektoratsübernahme musikalisch gestaltete — „Lichtwanderer” nach Worten von Hans Carossa uraufgeführt. Die „Leipziger Abendpost” und andere Zeitungen waren des Lobes voll. Bezeichnend für die Stellung St. Paulis im Leipziger Musikleben war, daß in den Semesterferien Litt für die Universität, Goerdeler für die Stadt und das Reichsgericht an die Sängerschaft mit der Bitte herantraten, eine musikalische Feier anläßlich des 100. Todestags des ehemaligen Leipziger Studenten Goethe zu veranstalten. Die Kosten werde die Universität tragen. Hermann Grabner komponierte „Goethes Prooemion” für die Feier, ein weiterer Alter Herr St. Paulis, Dr. Raymund Schmidt, Vorstand der Leipziger Großdruckerei Oscar Brandstetter, druckte die Noten. Die Kritik urteilte: „Im ganzen eine zurückhaltend herrliche Komposition der Form und Farben”, die „die Gedanken in die Welt dessen führt, der uns die Welt der harmonischen Gesetze mit allen Fasern der Seele verkündet hat.” Auch Litt war bei dieser Gelegenheit anwesend. Eingeladen hatten ihn die Brüder und Pauliner Rudolf, Richard und Hanns Kötzschke, die zu seinem Freundeskreis gehörten: Oberstudienrat Prof. Dr. Richard Kötzschke (1869-1945) war einer der bedeutendsten Historiographen und Funktionäre des deutschen Männerchorgesangs. „Der mehrstimmige Männergesang war neben einer schönen Kunst immer ein Politikum”. Seine „nationale Bedeutung” bestand darin, daß er „ein hervorragendes Einigungsmittel für die Deutschen aller Stämme, für die Deutschen im Inland und Ausland war, und so das große Werk der politischen Einigung wirksam vorbereiten half”. Das engmaschige Netz bürgerlicher Liedertafeln und Liederkränze, das sich nach 1815 über Deutschland — teilweise als Ersatz für die damals sich herausbildenden, noch nicht zugelassenen politischen Parteien — ausbreitete, war Anstoß und Ausdrucksform für eine neuartige Nationalbewegung, deren oberstes Ziel — die Einigung Deutschlands — mit dem Gesang als nationales Ausdrucksmedium erreicht werden sollte: „Deutscher Sang und deutsche Sänger haben einen Ehrenplatz in der Geschichte der Einheitsbewegung unseres Volkes.” Aus dem Bekenntnis zu Vaterlandsliebe, Mannhaftigkeit und Volkstum wuchsen dem Männergesang moralische Werte zu, die ihm den Charakter einer volksmusikalischen Breitenbewegung mit politischem Hintergrund verliehen. Mangels politischer Ausdrucksmittel avancierten Sprache und Lied „zum Markenzeichen echten Deutschtums und deutscher Nationalkultur”. Nach der Reichsgründung von 1871 wandten die Gesangvereine sich dem zu, worauf bis zum Zweiten Weltkrieg ihr Hauptaugenmerk gerichtet blieb: die Verwirklichung der „inneren Einigung” aller Deutschen.
Neben den unzähligen bürgerlichen Männergesangvereinen mit ihren um 1850 etwa 100.000 Sängern gab es auch Gesangvereine auf den Universitäten und Hochschulen. Innerhalb der bald über die Halbmillionengrenze anschwellenden bürgerlichen Sängerbewegung stellten die akademischen Sänger eine Wissen und Leistung kumulierende Elite dar, die „akademische Sängerschaft”. Was ist darunter zu verstehen? Vertraut sind wir zumeist mit dem Begriff der „Burschenschaft”, vielleicht auch noch dem Corpsstudenten, wie ihn vor allem der „Simplizissimus” um die Wende zum 20. Jahrhundert (über)zeichnete. Kaum jemand weiß aber von der Vielfältigkeit des Studen-tentums, der Verbindungen oder Korporationen und ihrer Geschichte, ihrem Leben und Umgang — dem Comment —, weiß, daß es auch im akademischen Raum eine Gruppe von studentischen Vereinigungen gab und gibt, die der Musik und dem Gesang satzungsgemäß huldigen. Diese Gruppe, zugleich studentische Korporation und Männerchor, fand ihre Ausprägung im „Akademischen Gesangverein”, im „Sängerverein”, in der „Sängerschaft”. Die akademischen Sänger verstehen sich jedoch nicht als Verein, sondern als Erziehungsgemeinschaften mit Lebensbundprinzip. Das heißt, der Beitritt — die „Aktivmeldung” — ist nur dem Studenten möglich, die Mitgliedschaft endet im Regelfall durch den Tod. Sie tragen als äußere Kennzeichen zum Teil Band und Mütze, pflegen die Mensur als Erziehungs- und Auslesekriterium, benutzen die spezifische Studentensprache und weisen eine einem bürgerlichen Gesangverein völlig fremde Struktur auf, indem sie in „Aktive” und “Alte Herren” (AH) — studierende und examinierte Mitglieder — zerfallen, wobei nur die Studenten den Chor bilden. Die Chöre wiesen immer eine hohe Fluktuation auf, da die Aktiven selten länger als acht bis zehn Semester zur Verfügung stehen. Trotzdem sind die Leistungen bedeutend. So stellten etwa die 1822 bzw. 1849 gegründeten Leipziger Sängerschaften zu St. Pauli und Arion bis 1935 den Chor des Gewandhauses und teilweise der Dresdner Staatsoper. Arion vertrat regelmäßig die Thomaner in den Schulferien.
Grundlage dieser Entwicklung sind die besonderen, den deutschen Studenten auszeichnenden Faktoren: Zunächst ist das Studententum ein zeitlich begrenzter Zustand junger Erwachsener, die ein ausgeprägtes, studentische Traditionen weitergebendes Gruppenbewußtsein aufweisen und daher wenig soziale Kontakte zu anderen Schichten pflegen. Studenten sind familiärer Sorgen weitgehend ledig, auf Grund des deutschen, wissenschaftlichen und nicht erzieherischen Studiensystems in ihrem Tun und Lassen ausgesprochen unabhängig und wegen ihrer vorrangig geistigen Beschäftigung wenig auf vorhandene Denkmodelle fixiert. Bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein begriffen sich Studenten als Elite, die als Akademiker die führenden Positionen des öffentlichen Lebens einnehmen würden. Damit ging eine anhaltende Überschätzung der eigenen Rolle einher, aber auch eine „Seismographenfunktion gesellschaftlicher Veränderungen”. Mehr noch, studentische Verbindungen hatten für die politische Kultur des bürgerlichen Deutschland von jeher eine Leitfunktion, spiegeln die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens und sind mit den Problemen der einzelnen politisch-gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen verzahnt.
Studenten haben immer musiziert und gesungen. Aber hochschulunabhängige studentische Vereinigungen, die der Musik und dem Gesang satzungsgemäß huldigten, haben in den Freiheitskriegen ihre Wurzeln, in der unter dem Einfluß von Friedrich Ludwig Jahns Volkstumslehre, christlicher Erweckung und patriotischer Freiheitsliebe stehenden antinapoleonischen Nationalbewegung deutscher Studenten.26 Als erster fest organisierter Studentenchor entstand innerhalb der im Juni 1815 gegründeten Jenaer Burschenschaft ein „Verein für Männergesang”. Ein Beteiligter, der spätere Lehrer Christian Eduard Leopold Dürre (1796-1879), schrieb: “Es war dieser Männergesangverein, wie ich fest glaube, der erste auf einer Universität eingerichtete.”27 Er trat erstmals Anfang 1816 auf und wurde von August Daniel von Binzer dirigiert. Sogar Goethe hörte Gesang und Musik gern zu, die mit der ersten Unterdrückung der Burschenschaft 1819 mehr und mehr in den Hintergrund traten und 1822 endgültig verschwanden. Trotzdem, an zahlreichen Universitäten gab es seither studentische Chöre und Musikvereine.
Die ältesten der insgesamt wohl kaum mehr als einhundert, sich nur dem „Sangesprinzip” verschreibenden und kaum oder nicht burschenschaftlich-politischen orientierten Verbindungen entstanden um 1820 in Leipzig und Breslau. Die ersten belegbaren Kontakte zwischen den Sängern gab es 1829 und 1836,doch setzten erst um 1860 Bestrebungen in Richtung auf einen Zusammenschluß in einem größeren Verband ein. Der älteste ist der 1867 aus einem Vertrag — einem „Kartell” — zwischen der ALT Berlin31 und dem Akademischen Gesangverein (AGV) München32 hervorgegangene „Kartellverband deutscher Universitäts- bzw. Studenten-Gesangvereine” (KVdUGV bzw. KVdStGV), der 1897 zum noch heute existierenden Sondershäuser Verband wurde. 1889 zählte der „schwarze”, zwar über Farben verfügende, sie aber nicht tragende Verband etwa 3.500 Mitglieder, 1914 um 5.500, 1931 8.700, davon etwa 1.700 Studenten. Darunter waren nicht nur Musiker und Komponisten wie der Frankenlied-Dichter — „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein” — Valentin Eduard Becker oder Armin Knab, Franz Lachner, Max Reger, Joseph von Rheinberger und Ludwig Wüllner, sondern auch Musikwissenschaftler wie Friedrich Behn, Emil Bohn, Franz Dorfmüller, Eduard August Grell, Karl Höller, Hermann Meinhard Poppen, Heinrich Sievers, Philipp Spitta und Fritz Volbach. Dazu kamen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Nationalökonom Lujo von Brentano, die bayerischen Ministerpräsidenten Gustav von Kahr und Hans Ehard, Reichswehrminister Otto Geßler, Reichsinnenminister Wilhelm Frick und ein Opfer des 20. Juli 1944, der ehemalige Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm, der hannoversche Landesbischof und Präsident des Lutherischen Weltkonvents August Marah-rens, der Pädagoge Georg Kerschensteiner, der Botaniker Otto Renner — gemeinsam mit ihm wurde Litt Mitte Oktober 1952 in den Orden Pour-le-mérite aufgenommen34 —, die Juristen Bernhard von Windscheid, Rudolf Schiedermair und Reinhart Maurach sowie Nobelpreisträger wie Rudolf Eu-cken, Werner Forßmann — ein Verbindungsbruder Litts — und Max Planck, dessen Vater bereits Protektor des 1842 gegründeten Akademischen Gesangvereins zu Greifswald war. Das gegenwärtig bekannteste SV-Mitglied ist wohl der bayerische Innenminister Günther Beckstein.
In diesem Kontext bewegte sich ein wesentlicher und kaum bekannter Teil des Lebens Theodor Litts, der während seines Studiums in Bonn und Berlin bei Makaria und in die ALT aufgenommen wurde. Die “Akademische Liedertafel zu Berlin” bildete sich im Sommersemester 1855. Meist nur kurz „A.L.T.” genannt, nahm der Chor diese Bezeichnung jedoch erst am 8. Januar 1857 an. Die Liedertafel hatte zudem keine Funktion im musiktheoretischen und -praktischen Lehrbetrieb der Universität wie noch ihre Vorläuferchöre seit 1832 und wie es in Halle und Breslau der Fall war. Sie führte rotweiße Farben und den an ein Gedicht Theodor Körners angelehnten Wahlspruch: “Im Liede verjüngt sich die Freude, im Liede verwehet der Schmerz!” Angeregt hatte die Gründung der Beethoven-Biograph Prof. Dr. Eduard August Grell, ein Schüler Karl Friedrich Zelters, der möglicherweise noch in dessen Studentenchor sang, Zelter in der Aufführungspraxis aber vor allem durch Klavier- und Orgelspiel unterstützte. Das Gründungsdatum – l. Februar 1856 — wurde 1857/58 willkürlich festgelegt, da man sich an das genaue Datum nicht erinnerte.
Unter der Leitung des ersten Dirigenten Rudolf Otto errang die ALT „eine hohe künstlerische Durchbildung und gewann die Gunst hervorragender Musiker”. Der erste öffentliche Auftritt fand am 14. März 1857 statt. In den nächsten Jahren trug die Liedertafel „Ödipus” und „Antigone” in der Ursprache vor, im März 1870 gab sie ein Konzert in Gegenwart König Wilhelm I. Nach der Reichsgründung war einer der „gefeiertsten Männerchor-Dirigenten” Deutschlands, Felix Schmidt, Dirigent der ALT, der besonders oft Werke des „Königlichen Oberhofkapellmeisters Taubert”, eines Ehrenmitglieds der Liedertafel, gab. Neben „der musikalischen Ausbildung wurde fleißig der Charakter der Verbindung ausgebaut”: Am 5. Juli 1861 erhielt die Liedertafel ihre erste Fahne, seit dem Sommersemester 1865 gab es Alte Herren, 1867 wurde der Wahlspruch, 1868/69 der Zirkel41 angenommen, 1870 das Wappen. Die ALT gründete am 31. Juli 1880 den KVdStGV mit.
Die „Pflege der Vokal- und Instrumentalmusik zu[r] […] Aufgabe” machte sich in Bonn der im November 1878 vom Theologiestudenten und späteren Pfarrer in Eckenhagen, Georg Ragoczy, gegründete „Akademisch-Musikalische Verein” (AMV). Er „trug ursprünglich den Charakter einer freien Vereinigung, der auch korporierte Studenten angehörten, bis sich 1880 der Übergang zu einer abgeschlossenen studentischen Korporation voll-zog”.43 In diesem Jahr gab der Verein ein Konzert für Clara Schumann, die anläßlich der Einweihung des Schumann-Denkmals in Bonn weilte.44 Am 5. August 1882 traten sämtliche Mitglieder bis auf eines aus und gründeten am gleichen Tag die nach wenigen Semestern vertagte Marchia, während der AMV am 24. Oktober 1882 bzw. 1883 als „Acad.-Musikal. Verein Makaria” rekonstituierte. Makaria führte hellblau-weiß-rote Farben und den Wahlspruch: „In musica solatium et refugium!” Dirigiert wurde Makaria von ihrem Ehrenmitglied Gustav Jensen (1843-1895), der seit 1872 als Lehrer für Kontrapunkt am Kölner Konservatorium wirkte. Die musikalischen Leistungen Makarias waren bedeutsam. So leitete etwa ein Kommilitone und Verbindungsbruder Litts, der später sehr bekannte Musikwissenschaftler Fritz Volbach, Proben und Konzerte Makarias. Volbachs opus Nr. 1 wurde von Makaria uraufgeführt. Der berühmteste Makare war jedoch der Historiker Karl Lamprecht, der auch Alter Herr des 1860 gegründeten Studenten-Gesangvereins Göttingen — der „Blauen Sänger” —, Ehrenmitglied St. Pauli
Leipzigs und der Leipziger Burschenschaft Roter Löwe im Allgemeinen Deutschen Burschenbund (ADB) war.
Mit Beginn des Sommersemesters 1899 kam Litt nach Bonn, am 21. April immatrikulierte er sich.” Gern wollte er einer Verbindung beitreten, wußte aber noch nicht welcher. Er besuchte zwischen Ende April und Mitte Mai die Burschenschaft Alemannia, den Bonner Wingolf, die Philologische Vereinigung — sie hatte keinen Verbindungscharakter — und einige andere Korpo-rationen, wobei ihn Makaria am meisten beeindruckte. „Samstag gedenke ich auf d. Kneipe d. akadem. Gesang-Vereins ,Makaria’ zu gehen: auf diese Weise sehe ich mir alles in Behaglichkeit an.” Den wenig erbauten Eltern schrieb er: „Doch braucht ihr nicht zu befürchten, daß ich mich dabei zum Säufling ausbilde, ich trinke gewöhnl. nur 2 Krüge und bin immer der erste, der aufbricht.” Makarias Mitglieder — sogar der Rektor des Jahres 1899, der Mediziner Prof. Dr. Karl Koester (1843-1904), ein Alter Herr des AGV München, beehrte die Kneipe seiner Verbandsbrüder56 — gefielen dem hervorragenden Klavierspieler Litt am besten, die gesanglich-musikalische Ausrichtung der von Musikdirektor Franz Stroemer dirigierten Verbindung schien ihm in größter Übereinstimmung mit seinen eigenen Interessen zu stehen, so daß er unmittelbar nach dem SV-Kartellfest in Sondershausen um seine Aufnahme nachsuchte: „Neu aufgenommen wurden: Theodor Litt, Düsseldorf, ph[il]., II. B[aß]., l. Sem[ester].” Litt war begeistert: „Gestern Abend hatte ich […] die erste Fuchsstunde: diese möchte ich der Schule zur Nachahmung empfehlen, indem während derselben fortwährend ein riesiger Pokal mit Bier die Runde macht. Heute Abend wird meine feierliche Aufnahme in die Makaria stattfinden. Mit ihren meisten Mitgliedern habe ich schon Schmollis getrunken. Beiläufig habe ich mir gestern nach der Fechtstunde zum ersten Male während meines Aufenthaltes in Bonn ein Glas Pilsener geleistet: sonst trinke ich immer Helles.” Voller Freude ergab sich Litt dem Studentenleben und der „Burschenherrlichkeit” und belegte wie angedeutet einen Kurs beim Universitätsfechtmeister: „Gestern hatte ich die erste Fechtstunde: meine Blutgier wächst infolgedessen stündlich. Jedenfalls wirkt d. Fechten auf d. Armmuskeln sehr stärkend, sie waren bei mir nach der Stunde sehr ermüdet.” Eine Mensur scheint Litt aber nie geschlagen zu haben, zumindest findet sich dazu kein Nachweis. Vielmehr betrachtete er das vollständige Aufgehen einiger seiner Kommilitonen im „Couleurleben” und die Anforderungen manch anderer Verbindung in dieser Hinsicht sehr kritisch, denn „dieselbe huldigt offenbar bedeutend mehr dem richtigen Cou-leurstudententum, als die Makaria”.
Mit Litt „aktiv” wurde der Jura-Student Carl (auch: Karl) Dücker, gestorben am 8. Dezember 1951 als ehemaliger Senatspräsident am Oberlandesgericht Düsseldorf.63 Dücker litt an Asthma und schloß sich eng an Litt an.64 Das Verhältnis war sehr freundschaftlich, Litt war derjenige, der Dückers Nachruf verfaßte. Zum „Leibburschen”, zu dem er ein besonders enges Verhältnis entwickelte, wählte Litt den nachmaligen Apotheker in St. Goar und Bonn August Meyer, der im Sommersemester 1899 Präside Makarias war. Litt beschreibt ihn in seinem Nachruf als eine imposante und prägende Persönlichkeit, die ihn vor allem durch Geradlinigkeit und Gerechtigkeit, „Lauterkeit der Gesinnung und eine Güte der menschlichen Haltung, die ihn zur Führung einer bunt zusammengewürfelten Schar wie geschaffen erscheinen ließ”, beeindruckte. Meyer war sehr wichtig für den jungen Fux Litt: „Schwerlich hat er gewußt, welche Wohltat es für einen noch nicht recht flügge gewordenen Neuling war, den Bund, dem er sich gelobt hatte, durch eine menschlich so gewinnende Persönlichkeit repräsentiert zu finden.” Meyer bestach auch durch eine großartige Rednergabe. Andererseits muß Litt sehr beeindruckend für seine Verbindungsbrüder gewesen sein, denn nicht weniger als vier wählten ihn zum Leibburschen. Der älteste „Leibfux” Litts war Willy Betzler, in den zwanziger und dreißiger Jahren Amtsgerichtsrat in Bonn, später dort Rechtsanwalt und lange Jahre Litts Rechtsbeistand. Betzler war der Gründer der „Makaren-Blätter”, der Bundeszeitung Makarias, Verwalter ihres Hauses und Mitglied im Vorstand des Altherrenverbands. Litt urteilte über ihn: „Ich habe wenige Menschen gekannt, deren lebendige Gegenwart so von den Bildern der vergegenwärtigten Vergangenheit erfüllt und verklärt war wie die seinige.” Treue sei ein „Grundzug seines Charakters” gewesen: „In aller Anspruchslosigkeit seines Auftretens war er ein Mensch von einer Sicherheit der inneren Selbstbehauptung, wie sie in dieser Epoche der alles ergreifenden Wandlung nur ausnahmsweise gefunden wird. Als junger Student der Jurisprudenz war er, was die Grundlinien seiner Lebensauffassung und Willensorientierung angeht, genau derjenige, der er noch in seinem achten Lebensjahrzehnt gewesen ist. Alle jene politischen Umwälzungen, durch die so beklagenswert viele charakterlich aus der Bahn geworfen sind, haben ihn nicht am Rande gestreift. Sein klares sittliches Urteil war ihm ein unbedingt zuverlässiger Kompaß. Nie hat er sich bereit gefunden, mit dem Zweideutigen zu paktieren.” Außerdem: „Für die kleinen Ergötzungen des Daseins — etwa für die Reize eines guten Tropfens — hatte er ein ausgeprägtes Verständnis.” Litt und Betzler trafen sich regelmäßig: „Situation: ein Weinnest an der Mosel, in dem Betzler mit salomonischer Weisheit Recht spricht. Ein lampenbeglänzter Tisch, darauf eine Flasche des örtlichen Gewächses und zwei leuchtende Kelche. Mit ihnen und munterem Gespräch beschäftigt: Betzler und ich.”
Zu Betzler kamen Friedrich genannt “Fritz” Mehl aus Koblenz, später Dr. phil., Oberlehrer in Barmen, Prorektor in Usingen am Taunus und Studienrat in Wesel,72 und Wilhelm genannt „Willy” Pfannenschmidt, Gerichtsassessor und Rechtsanwalt in Bad Oeynhausen, der 1915 im Ersten Weltkrieg fie1.73 Litts jüngster war auch sein bedeutendster Leibfux, Arnold Brecht (18841977), der noch in seinem Kondolenzschreiben an Litts Angehörige dessen “hinreissende Beredsamkeit” hervorhob, „die er schon als Student hatte”.74 Erstmals beschrieb er sie 1902 in seinem Bericht über die Antrittskneipe: „und als Litt gar eine seiner lieblichen und feinen Reden dahinplätschern liess, in der er von unmotivierter Schilderung idyllischer Wasserlachen im Allgemeinen auf Karl den Grossen im Besonderen, und von Karl dem Grossen auf den bewussten Ring durch die Nase kam, da waren noch vor Schluss die letzten entflohen, er selbst voran”.
Litt war ein Meister der Form, auch wenn der Gegenstand völlig unsinnig war. Dies war eine Art des Humors, die von den Makaren sehr geschätzt wurde, vor allem, weil Litt einige Bonner Professoren in unnachahmlicher Weise zu parodieren wußte. Derartige „unvorbereitet geistreiche Reden” wurden immer wieder eingefordert, so zur Weihnachtskneipe 1902: „In der Mitte ‚lallte’ Döres Litt und erzählte jedem, der es hören wollte, aber auch anderen die Geschichte von der Handsäge mit kolossaler Zungenfertigkeit.” Wenn Litt sich zu später Stunde erhob und eine Rede begann, erntete er in der Regel Begeisterungsstürme.
Der Litt porträtierende Brecht studierte die Rechte in Bonn, Berlin und 1904/05 in Göttingen — am Haus Untere Karspüle 5 befindet sich eine Gedenktafel —, promovierte 1910, ging in die Verwaltung und war 1918 Vortragender bzw. Geheimer Rat im Reichsjustizministerium. Er stieg zum Ministerialdirektor und einem der führenden Beamten der Weimarer Republik auf, der zwischen 1921 und 1927 die Abteilung I (Politik, Verfassung und Beamtentum) des Reichsinnenministeriums leitete. Ab 1928 war Brecht Vizepräsident der Reichsschuldenverwaltung, dann auch Mitglied des Verfassungsausschusses der Länderkonferenzen. Nach dem „Preußenschlag” vom 20. Juli 1932, der Absetzung der von der SPD geführten preußischen Regierung durch den Reichskanzler Franz von Papen, vertrat Brecht Preußen im vor dem Reichsgericht in Leipzig geführten Prozeß. 1933, als Staatssekretär und bevollmächtigter Vertreter der preußischen Staatsregierung, antwortete er Hitler auf dessen Antrittsrede im Reichsrat, indem er ihn zur Achtung von Recht und Gesetz aufforderte. Das hatte seine Entlassung und spätere Emigration in die USA zur Folge, wo sein wissenschaftliches Hauptwerk „Politi-cal Theory. The foundations of twentieth-century political thought” (Prince-ton 1959; deutsch: 1. Aufl. Tübingen 1966, 2. Aufl. 1976) entstand. 1953 wurde Brecht wiederum zum Staatssekretär ernannt, 1959 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz.”
Litt fühlte sich wohl im Kreise seiner Verbindungsbrüder, ließ sich ein Klavier auf seine „Bude” in der Bachstraße 53 schaffen und trieb mit ihnen Kammermusik. Zum 21. Stiftungsfest Makarias im Juli 1899 trat er erstmals öffentlich auf — „Klavier: Vbr. stud. phil. Litt”78 —, und zwar mit solchem Erfolg, daß das Klavier über Semester seine Domäne blieb, obwohl er eigentlich zweiten Baß sang. Über die Semesteraufführung des Wintersemesters 1899/1900 heißt es denn auch: „Dem lieben Vbr. Litt, der sich an dem schlichten Heldentume der Klavierbegleitung genügen liess, danken wir an dieser Stelle noch aufrichtig.”
Litt trank auch gern Bier — „Die Kneipen […] verließ er fast immer mit den letzten” — und genoß das Anakreontische einer Verbindung. Wegen „ruhestörenden Lärm[s]”, begangen auf dem Münsterplatz in der Nacht vom 21. auf den 22. April 1903, erhielt er ein über fünf Mark lautendes Strafmandat. Litt bekannte: „In der Makaria habe ich schon manche genußreiche Stunde erlebt. Die Antrittskneipe war äußerst stimmungsvoll.” Charakteristisch ist ein Brief wie dieser: „Das Essen im Rheingold” — das Kneiplokal Makarias am Bonner Markt, wo auch das gemeinsame Mittagessen eingenommen wurde — „ist, wie immer am Anfang vom Semester, recht gut und das ‚Kölsch’ mundet mir aus dem Stammkrug, den mir mein Leibfuchs verehrt hat, ganz vortrefflich. Der Schweinebraten hat mir bis zum letzten Stück vortrefflich gemundet”. Ihn hatten die Eltern gesandt und er wurde mit den Makaren „verbindungsbrüderlich” geteilt, wie auch Litt von Sendungen an seine Verbindungsbrüder profitierte.83 Besonders scheint dies gegen Monatsende bei sich neigendem Wechsel der Fall gewesen zu sein.
Litts bereits erwähnter Spitz- oder Biername lautete „Döres” (= rhein. für „Theodor”), der ihm bis ans Lebensende erhalten blieb. Sogar noch als Leipziger Rektor wurde er von seinen Verbindungsbrüdern so angeredet.84 Am Aktivenleben Makarias, an Kneipen und Conventen beteiligte sich Litt mit Enthusiasmus. Er nahm an Ausflügen nach Godesberg und Königswinter, nach Neuenahr und Ahrweiler teil, organisierte Konzerte im kleinen Rahmen, aber auch in der Stadthalle.85 In Godesberg gab es ein bekanntes Studentenlokal, geführt von der „Lindenwirtin” Aennchen Schumacher, die sogar ein eigenes Studenten-Liederbuch herausgab, in dem Litt „durch eigene Kompositionen verewigt” ist, etwa den „Philisterabend”. Die Lindenwirtin war eine Berühmtheit in studentischen Kreisen, alle Bonner Verbindungen waren mit ihr bekannt.
Litt fuhr gern nach Godesberg und spielte dort Klavier, sowohl „künstlerisch” als auch als „Biermusik” = Begleitung zum studentischen Kneipgesang. Auf jeden Fall muß er einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, denn Aennchen Schumacher ließ ihm noch Jahre später Grüße ausrichten.
Im Sommersemester 1900 bekleidete Litt seine erste „Charge”, sein erstes Amt in der Verbindung: er war stellvertretender Senior und Vizedirektor, gekennzeichnet durch „xx” hinter dem Namen. Hinter der Bezeichnung „Vizedirektor” verbarg sich der aus den Reihen der Studenten kommende Dirigent, ein Amt, das Litt sechsmal in Bonn — bis 1936 öfter, als jeder vor oder nach ihm — und zweimal bei der ALT Berlin bekleidete. Er führte sein Amt mit großem Ernst, zumal er verantwortlich für das Musikleben Makarias war. Den Kaiserkommers 1901 umrahmte Makaria unter Litts Leitung musikalisch. Da in diesen Semestern Kronprinz Wilhelm — wie sein Vater Wilhelm II. Mitglied des sich vor allem aus dem Adel und Hochadel rekrutierenden Corps Borussia — in Bonn studierte, besuchte der Kaiser öfter als gewöhnlich Stadt und Universität, doch gewöhnte man sich rasch an den „allerhöchsten Besuch” und empfand „die Anwesenheit des Thronfolgers […] nun als etwas alltägliches”. Trotzdem wurde die Bonner Universität dadurch zu einer Hochschule, die „den hochfeudalen Stempel einer Hochburg der Prinzenerziehung hoch an der Stirn trägt”.” Litt kümmerte das weniger, obwohl er am 24. April 1901 notierte, er habe Kaiser und Kronprinz vorbeifahren sehen. Die Stadt blieb ein Brennpunkt der Hohenzollern: „Hierbei machen wir darauf aufmerksam, dass das nächste S.-S. [1902, H. L.] hier ein hochinteressantes zu werden verspricht, da der Kaiser und die Kaiserin während einer Reihe größerer Festlichkeiten in Bonn anwesend sein werden (Immatrikulation von Prinz Eitel Friedrich, 75jähriges Stiftungsfest der Borussen, 50jähriges Garnisonsjubiläum) u. a.” Bonn galt als exklusiv, was sich bei Nahrungsmittelpreisen und Mieten niederschlug. Dazu schrieb Litt immer wieder von “Proben über Proben”, die er leiten müsse. Er unterzog sich ihnen gern, zumal die Leitung des Chors seinen pädagogischen Ambitionen entsprach. Besonders gefordert war er um die Jahreswende 1903/04, als Makaria ihm die Ausrichtung des Stiftungsfestes anvertraute. Musik und Böller mußten organisiert sein, der Ausflug nach Linz und die „Trioprobe, Commis-sionssitzung, Vorstandssitzung” usw. „Heute nachmittag geht es in ähnlichem Stil weiter.”
Er tat noch mehr. Ende April 1900 hatte er „auf allgemeines Drängen das Amt des Kassenwarts und das eines Vizedirigenten in der Makaria übernommen”. Gegen Jahresmitte wurde er auch noch „Präsiden-Stell-vertreter”, Schriftenempfänger und Schriftwart. Litt war überaus stolz, daß seine Verbindungsbrüder ausgerechnet ihm mit soviel Vertrauen begegneten und eine Ämterkumulation zuließen. Am 3. Mai unterschrieb er erstmals als Kassen- und Schriftwart: „xxx (!!!!)”. Die von ihm hinzugesetzten Ausrufezeichen sprechen für sich. Mehr Ämter zogen mehr Arbeit nach sich, unter der möglicherweise das Studium leiden konnte. Bedenken seiner Eltern suchte Litt von vornherein auszuräumen, denn er habe sich bei seiner Wahl „ausdrücklich die Niederlegung vorbehalten, falls meine Zeit dadurch zu sehr in Anspruch genommen wird”. Aber: „Ich kann dabei meine bekannten Fertigkeiten im Rechnen glücklich verwenden.”
Trotzdem scheint sich Litt bewußt gewesen zu sein, daß er sein Engagement im Interesse eines geregelten Studiums zurücknehmen mußte. Am Ende des Sommersemesters 1900 gab er daher seinen Entschluß bekannt, seine Studien ab dem Wintersemester 1900/01 in Berlin fortzusetzen. Makaria „annoncierte” Litt bei der ALT, die ihn mit offenen Armen aufnahm, wobei sein Ruf als Dirigent und Klavierspieler wohl eine entscheidende Rolle spielte: „In der A.L.T. gefällt es mir einstweilen sehr gut; der Dirigent [Felix Schmidt, H. L.] steht musikalisch bedeutend höher als unser Bonner, und es wird sehr exakt gesungen. Zu meiner größten Überraschung wurde ich, der ich doch fast allen völlig unbekannt war, von einem mir ebenfalls ganz unbekannten zum Vizedirigenten vorgeschlagen und gewählt. Ich habe jeden Samstag eine Probe zu leiten, was bei diesem Chor von etwa 80-96 Köpfen keine Kleinigkeit ist; hoffentlich geht die Sache.”
Sie ging. Zur „Aktivitas”, zu den studentischen Mitgliedern der ALT zählten neben über vierhundert Alten Herren zwischen 110 und 150 Studenten, so daß die Liedertafel im Vergleich mit Makaria und ihren etwa zwanzig bis dreißig Aktiven und 120 Alten Herren riesig war. Litt hatte in der Liedertafel, wie er sich ausdrückte, seine „erste Begegnung mit der Mannigfaltigkeit des deutschen Lebens”. Er kam mit Studenten verschiedenster Fächer, sozialer und geographischer Herkunft zusammen, wobei ihm besonders das pommersche und ostpreußische Idiom gefielen. Bei den Liedertäflern bestach besonders Litts Klavierspiel: „[D]er Bonner Litt, dessen heitere und ernste Klavierphantasien schon anderwärts berühmt waren, fand auch hier vielen Beifall und bewährte sich beim Stiftungsfest und beim Konzert als künstlerisch hochstehender Begleiter.” Das war die beste Voraussetzung für die Berufung zum Vizedirigenten — Dirigent war meist ein Alter Herr, auf jeden Fall aber ein Berufsmusiker — für das Wintersemester 1900/01, das Semester der 200-Jahr-Feier des Königreichs Preußen, die in dessen Hauptstadt auch von der Studentenschaft äußerst prunkvoll begangen wurde. Es spricht für Litts musikalische und didaktische Fähigkeiten, daß er in einer Verbindung, die von ihren Mitgliedern eine verhältnismäßig umfangreiche gesangliche und musikalische Vorbildung erwartete und eine entsprechende Auswahl hatte, mit diesem Amt betraut wurde. Dabei kamen ihm die Liedertäfler sehr entgegen. In Berlin besuchte Litt die Sehenswürdigkeiten, Museen, Konzerte, das Theater und den Reichstag, wobei ihm einer seiner Verbindungsbrüder als „Cicerone” diente. Einige Ausflüge und ein Tanzabend — „bis 4 Uhr” — folgten und man kam sich immer näher: „Der Verkehr in der akad. Liedertafel ist sehr nett, natürlich dauert es einige Zeit, bis man diese vielen Leute etwas gründlicher kennengelernt hat. Die Kneipen sind sehr fidel und das Bier ist besser und billiger als in Bonn. Als Vizedirigent habe ich ziemlich viel zu thun. Am nächsten Donnerstag findet ein Tanzabend statt, und mir ist die angenehme Aufgabe zugefallen, für denselben im Zeitraum einer Woche zwei Chöre einzuüben, was eben keine Kleinigkeit ist.” Doch sein pädagogischer Eros siegte: „In der A.L.T. fühle ich mich fortgesetzt sehr wohl und habe mich mit einer Auswahl von Vereinsbrüdern schon angefreundet; meine Thätigkeit als Vizedirigent ist nicht leicht, aber andererseits auch interessant und sehr übend.” Höhepunkt seiner Amtszeit war das Weihnachtsfest am 15. Dezember 1900, zu dem traditionell ein humoristischer Abend veranstaltet wurde. Die Studenten inszenierten „Waldeszauber”, ein Ballett. „Am Klavier: Theodor Litt”. Die Heiterkeitsausbrüche waren gewaltig.
Das galt auch für die studentische Oper „Lohengrün oder der Schwanenritter auf Besuch”, aufgeführt zum 45. Stiftungsfest am 16. Februar 1901: „Am Klavier: Herr cand. phil. Th. Litt (A.L.T.).” Außerdem wurde „Waldeszau-ber” wiederholt.’ 12 Litt teilte seinen Eltern mit, „das Stiftungsfest ist glücklich überstanden; obwohl es sehr glücklich verlaufen ist, habe ich mich dabei doch nicht so gut amüsiert wie bei den Bonner Festen; denn es wurde alles in derartigem Umfange gefeiert, daß darüber die richtige Gemütlichkeit verlorenging. Bei dem Ball wurde die Polonaise von über 100 Paaren getanzt, woraus sich die Zahl der Teilnehmer ersehen läßt. Um übrigens chronologisch vorzugehen: eröffnet wurde das Fest durch ein Concert, welches uns einen recht erfreulichen Erfolg brachte. Leider war der Solist, welcher den Frithjof sang und uns noch in letzter Stunde durch eine Concertagentur verschafft worden war, ein unglaublich frecher Judenbengel, bei dem Arroganz und gesangliche Minderwertigkeit sich die Waage hielten. — Darauf folgte ein ganz ausgezeichnetes Souper, Couvert M[ark]. 3,50! Ein alter Herr hatte mir glücklicherweise eine unterhaltende Tischdame verschafft, und da auch sonst ganz gutes Material da war, so habe ich auf dem Ball sehr viel getanzt und mich vortrefflich amüsiert. Schluß nach 3 Uhr. Am folgenden Tage Festkommers in einer der größten Säle Berlins” mit über eintausend Teilnehmern. „Die Aufführungen (u. a. auch das von mir zusammengestellte Ballet) klappten gut und fanden allgemeinen Beifall.” Sonntags folgte der Frühschoppen, das Mittagessen auf der Kneipe, schließlich ein „Bummel mit großer Schneeballschlacht.” Litt schließt: „Daß das ganze Fest recht kostspielig war, läßt sich denken.”
Wenige Tage später, am 25. Februar 1901, wurde Max Bruchs „Frithjof”, eines der beliebtesten Chorwerke des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in Anwesenheit des Komponisten von der Liedertafel in der Berliner Singakademie aufgeführt. Der Erlös kam dem Fonds zur Errichtung einer Bismarcksäule zu. Litt hatte „dabei die Ehre […], an den Berliner Anschlagsäulen namentlich zu erscheinen. Denn ich hatte die ehrenvolle Aufgabe, die Rolle des Orchesters am Flügel zu vertreten und mit mächtigen Hämmern den Vollklang von Posaunenhörnern und dergleichen vor den Ohren der Zuhörer emporzu-zaubern. Aber diese Genugtuung, an den Anschlagsäulen Berlins verewigt zu werden, trug doch einen Tropfen von Bitternis in sich. Denn es war geschehen, daß mein Name eine eigentümliche Diffamierung erlitt. Und so las ich denn immer wieder zu meiner tiefen Pein: Am Klavier cand. phil. Theodor Bitt. Also, daß mein Name in einer Verzerrung auftrat, die mir als eine Entstellung erschien. So bin ich damals also doch um den Vorzug, mich in den Ohren der Berliner vernehmlich zu machen, betrogen worden”. Litts Bonner Verbindungsbrüder machten sich ob Plakats und Druckfehler einen Spaß daraus, ihn als „e[hren]f[este]. Litfassäule” anzureden:
Der Convent der Liedertafel plante Litt bereits für die kommenden Semester ein: Zur Einweihung des Berliner Bismarck-Denkmals am 16. Juni 1901 sollte er mit dem Chor musikalisch tätig werden, ebenso am 2. November 1902 zur Einweihung der neuen Hochschule für Musik und möglicherweise auch zu den Maifahrten der ALT:17 Im Ergebnis war Litt in Berlin noch eingespannter als in Bonn. Das war neben der teuren Berliner Lebenshaltung einer der Gründe, weshalb er alle seine Ämter niederlegte und zum Sommersemester 1901 an den Rhein zurückkehrte.118 Sein erster Weg führte Litt „auf die Kneipe”, ins „Rheingold” zu Makaria, wo er sich in der gerade beginnenden „Keilzeit” für die Werbung neuer Mitglieder engagierte: Zwar nahm er sich in der Folge mehr und mehr zurück — im Februar 1902 wurde er „inaktiver Bursche”, der zwar alle Rechte eines Mitglieds, aber auf Grund der Examensnähe weniger Pflichten hatte — und erschien nur noch zu „offiziellen Gelegenheiten” im Kreise Makarias, ließ aber kaum einmal eine Probe aus und war ein gefragter Klavierspieler. In den Wintersemestern 1901/02 und 1902/03 war er wiederum Vizedirigent: die Weihnachtskneipe begleitete er wie immer am Klavier. Seine Verbindungsbrüder dankten es ihm, als er im
September 1903 krank wurde und das Bett nicht verlassen durfte. Sie kümmerten sich um ihn „mit rührendem Eifer”.
Litt war ihnen auch deshalb überaus dankbar, weil er zu dieser Zeit unmittelbar vor dem Staatsexamen stand. Noch zur Antrittskneipe Mitte Oktober erntete „Litt […] auch diesmal mächtigen Beifall durch seine Vorträge am Flügel”. Anfang November 1903 hatte er sämtliche Prüfungen bestanden: “Ein eigenartiger Tag für die Makaria war der 7. November; Litt machte da sein Staatsexamen. Selbstverständlich bestand er, und zwar mit gut.” Anschließend ließ er sich sofort „philistrieren”: Litt wurde “Alter Herr”. Examen und Philistrierung waren Anlaß für „eine feierliche Kneipe”, die Litt Makaria gab. “Zwar hätte man traurig sein sollen, dass er, dessen Fehlen man arg empfinden wird, aus dem Verein schied. Aber noch bleibt er unter uns, und darum war auch die Freude grösser. Das zeigte die Kneipe, die überaus fidel verlief. [Fritz] Trebes und Aly feierten den neuen ‚Schulmann’, und mehr als ein Salamander wurde auf sein Wohl gerieben. In längerer trefflicher Rede dankte er für die Ehrungen. Für die Erheiterung der Korona sorgte der Fuchsmajor […] Mit seiner vorzüglichen, wenn auch für manchen Vbr. etwas gesalzenen Bierzeitung, besonders aber durch das curriculum vitae von Litt mit Bildern verstand er es, die Stimmung auf den Höhepunkt zu steigern. Erst spät dachte man daran, vom Biere sich zu trennen.” Makaria verabschiedete Litt ins „Altherrenleben”: „Ich war an dem Abend etwas nachdenklich gestimmt; es ist immer traurig, so den letzten Rest von Fuchsenhaftigkeit abstreifen zu müssen.” Nach seinem Verständnis war seine Jugend nun zu Ende, hub der Ernst des Lebens an. Zugleich begann er die Arbeit an seiner Dissertation. In seinen wenigen Mußestunden übernahm er weiterhin die Klavierbegleitung — so zur Weihnachtskneipe am 19. Dezember 1903 —, sang im Chor Makarias und in dem des Bonner Männergesangvereins, so daß es immer noch eine Verbindung zu seiner Korporation gab.129 Am 30. April 1904 bestritt Litt ein eigenes Konzert mit der „4. Sinfonie von Tschaikowski”, am 13. Dezember eine „musikalische Abendunterhaltung”.
Litts Kontakt zu Makaria und den Makaren blieb zeitlebens sehr eng. Er zahlte nicht nur seinen Altherrenbeitrag, sondern wollte stets wissen, was in Bonn vor sich ging, wer welche Ämter bekleidete und welche Aktivitäten es gab. Man gedachte seiner: „Theodor, dem braven Jungen, sei ein heisser Gruß gesungen!” Schon als cand. phil. und Berliner Student wurde er ob seiner profunden Kenntnisse und seines Arbeitseifers als „Tüchtiger Theo” tituliert. Gegen Ende seines Studiums richtete man Schreiben an „Theo Litt, […] der da ist ein ,werdender Jugendbildner”. Auch nach Studienabschluß, als Alter Herr, blieb Litt interessiert, hielt Kontakt und wurde informiert. Ob in Kreuznach oder Düsseldorf, Michelstadt im Odenwald oder Köln, Berlin, Bonn oder Leipzig: durch seinen ganzen Nachlaß ziehen sich Karten und Briefe seiner Verbindungsbrüder. Andererseits engagierte er sich auch, gehörte immer den jeweiligen Ortszirkeln Alter Herren des SV an seinem Wohnort an und suchte Kontakt zu ihnen. In Berlin wohnte Litt zunächst bei Arnold Brecht, der ihn nicht nur in den mehrere hundert Mitglieder zählenden Ortszirkel einführte, sondern ihm – neben dem Makaren Kammergerichtsrat Dr. Otto Hagen – auch die Wege in den Reichs- und preußischen Ministerien wie auf dem gesellschaftlichen Parkett der Reichshauptstadt geebnet zu haben scheint. Zudem gehörten zahlreiche, in Behörden und Politik, Wirtschaft und Kultur einflußreiche SVer dem Ortszirkel an, vor allem Alte Herren der Berliner ALT waren überproportional stark vertreten. Mindestens acht weitere SVer wirkten wie Litt im preußischen Unterrichtsministerium. Schon in Köln war er nach Ausweis des Gästebuchs des dortigen Ortszirkels zwischen 1906 und 1909 ein regelmäßiger Besucher der gemeinsamen Treffen, hielt Kontakt nicht nur zu Beamten des höheren Lehramts und im Regierungspräsidium, sondern auch zu Ärzten, Richtern, Staats- und Rechtsanwälten an verschiedenen Gerichten bis hin zum Oberlandesgericht, Akademikern aus der Wirtschaft, im Kölner Magistrat und von der Reichsbahn.'” Besuchte Litt eine ihm fremde Stadt, galt eine seiner ersten Fragen stets den dortigen Alten Herren.138 Wann immer es seine Zeit erlaubte, besuchte er die Stiftungsfeste Makarias in Bonn.139 Charakteristisch sein Bericht von 1906, als Makaria nicht nur Stiftungsfest feierte, sondern auch ihr eigenes Haus einweihte, das für rund 80.000 Mark gekauft worden war: „Was das neue Haus der Makaria angeht, so behagt mir seine Front nicht sonderlich, dagegen ist es im Inneren sehr geräumig, praktisch und gleichzeitig sehr geschmackvoll eingerichtet. Das Mobiliar bedarf noch der Vervollständigung, die man natürlich von den lieben Alten Herren erwartet [also auch Litt, H. L.]. Die Beteiligung am Feste war sehr groß, so daß ich zu meiner Freude viele lange nicht mehr erblickte Bekannte [Anmerkung Litt: daß Karl Dücker fehlte, zeugt von tiefer Gewissenlosigkeit] begrüßen konnte. Der Festkommers am Samstag —über 150 Personen — dauerte bis etwa 4 Uhr; leider wurde mehr geredet als Freunden der Gemütlichkeit lieb war. Sonntag Festessen in der Kaiserhalle, wobei sich das beklommene Gemüt allmählich wieder aufrichtete; nachmittags Kaffee im neuen Hause mit Damen — über 200 Personen —, von letztgenannten geliefert: zahllose Bataillone der köstlichsten Torten, dazu ungezählte Schüsseln mit Häringssalat, Hummer — Fisch — May[onnaise]. usw. usw. waren im Lauf des Tages aufmarschiert und wurden nicht völlig bewältigt; von 6 Uhr an Bowle und Tanz, bei dem es so fidel herging, daß es eines heroischen Willensaktes meinerseits bedurfte, um mich 11 Uhr von den Jungfrauen […] loszueisen und wehmutsvoll in mein Philisternest zurückzukehren, wo ich gegen 2 anlangte.”
Nach dem Weggang aus Bonn beschränkten sich Litts Beziehungen zum SV, zur ALT und vor allem zu Makaria auf den Besuch zu Kneipen und Kommersen und den Briefverkehr.141 Über die laufenden Angelegenheiten informierten ihn die seit 1880 erscheinende „SV-Zeitung” und die Bundesnachrichten Makarias, deren Bezieher er war. Sie meldeten seine Heirat und die Geburt eines Sohnes. Während des Ersten Weltkrieges ruhte der Betrieb des SV und seiner Verbindungen weitgehend — am 6. Oktober 1917 fand eine „A.H.-Zusammenkunft” Makarias in Bonn statt, an der Litt teilnahm144 lebte aber nach 1918 sofort wieder auf. So besuchte Litt 1920 den Göttinger Studententag der im Vorjahr als Organisation aller deutschen Studenten gegründeten Deutschen Studentenschaft (DSt). Er begrüßte „die große gemeinstudentische Bewegung” ausdrücklich: “Darum heißt die Losung: Heraus aus der studentischen Kleinstaaterei, vorwärts zum akademischen Bundesstaat!” Der Höhepunkt seiner Aktivitäten war das 3. Verbandsfest, gefeiert Pfingsten 1929 in Sondershausen, an dem auch Litt teilnahm. Er hatte 1919 seinen ersten Ruf an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn erhalten, wo er nur ein Jahr verblieb: „Dr. Th. Litt wurde als a. o. Professor der Pädagogik an die Universität Bonn berufen, ist gleichzeitig Oberlehrer am staatl. Gymnasium daselbst; wohnt Bonn, Niebuhrstr. 49.” In diesem Jahr besuchte er als “Alter Herr am Ort” fast alle Veranstaltungen Makarias und scheint innerhalb der Korporation nicht ohne Einfluß gewesen zu sein.149 Der Leipziger Ruf reduzierte diesen etwas, doch brach er keineswegs ab: „Nach seiner Berufung nach Leipzig blieb er mit den Freunden, die er gewonnen hatte, in regem Briefwechsel.” Keiner seiner Briefe ist erhalten. Am 31. Oktober 1924 schrieb er aber dem Bonner Frauenarzt Dr. Fritz Trebes, Vorsitzender des Altherrenverbandes Makarias: „Wir in der Ferne hausenden Philister, die wir die Stabilisierung der Makaria […] nicht aus der Nähe beobachten können, hören natürlich außerordentlich gerne, daß die Entwicklung der Makaria [nach den durch Hunger, Inflation, Putsche und französisch-belgische Ruhrbesetzung verursachten Schwierigkeiten, H. L.] wieder einen ideellen Kern bekommen hat. Ohne einen solchen kann keine schwarze Verbindung bestehen; sie muß sonst die besten Leute an die Cou-leurkorporationen abgeben. Offenbar haben wir wenig geschätzten Nörgler doch nicht so ganz Unrecht gehabt, wenn wir uns mit dem eine Zeitlang eingeschlagenen Kurs [hinsichtlich der Lockerung der Aufnahmekriterien und der Verpflichtungen der Aktiven, H. L.] nicht einverstanden erklären konnten. Ich denke mir übrigens, daß auch die Portemonnaies der Conphilister dann am ehesten locker werden, wenn sie aus den Berichten merken, daß ‚Zug’ im Leben der Makaria ist. Also gut Glück zu Euren Unternehmungen im einzelnen wie im ganzen! Dein Th. L.” Zu dieser Zeit war Litt bereits eine bekannte Persönlichkeit, was besonders einige Jahre später sichtbar wurde, „als eines Tages, es war der 15. August 1931, die Nachricht in Bonns Umgebung laut wurde, daß der [nächste, H. L.] rector magnificus der Leipziger Universität, das warst Du, lieber Litt, inzwischen geworden, am Abend in Bonn sein würde, da strömten die alten Makaren in solcher Menge zum Hähnchen, daß der kluge Wirt Deinen Namen im Lexikon suchte und uns alle mit seinem Bescheidwissen über Deutschlands bekanntesten Pädagogen überraschte”. Als völlig normal wurde angesehen, daß Litt einen Abend im Kreise seiner Verbindungsbrüder in einem Studentenlokal verbrachte.
Als Litt nach Leipzig berufen wurde, stand eigentlich Georg Kerschenstei-ner (1854-1932) primo loco auf der Berufungsliste. Er war wie sein Sohn Anton Alter Herr des AGV München, der größten SV-Verbindung mit über zweitausend Alten Herren und gegen vierhundert Aktiven. Auf Grund seines fortgeschrittenen Alters kam er nicht in Frage und am 1. April 1920 wurde Litt berufen. Kerschensteiner war deswegen nicht verstimmt, kannten er und sein Sohn Litt doch seit dessen Studentenzeit aus dem Verkehr im SV. Im Sommer 1928 besuchten alle gemeinsam Makarias pompös gefeiertes 50. Stiftungsfest und genossen die „schönen Festtage”. Litt hielt einige Reden und ihm schien „Kerschensteiner sen.” nur „etwas gealtert, aber doch nach wie vor sehr fidel”.
Mit den Leipziger Verbindungen kam Litt sofort in Kontakt. Der SV wurde an der Universität durch die Sängerverbindung Wettina vertreten. Dirigiert wurde sie vom Leipziger Komponisten Paul Umlauft, mit dem Litt sofort in „freundliche Beziehung” trat. Regelmäßig besuchte Litt die Veranstaltungen Wettinas, ihr 40. Stiftungsfest, gefeiert vom 14.-16. Februar 1925, zu dem 235 Personen erschienen, und die Einweihung des Wettinerheims am 22. Oktober 1925. Litt scheint 1929/30 sogar die Übernahme des ihm angetragenen Amts eines Ehrenvorstehers erwogen zu haben, das es bei vielen Leipziger Verbindungen gab. Das Ansinnen war eine Auszeichnung, die nicht jedem Professor widerfuhr. Karl Lamprecht etwa war über Jahre Ehrenvorsteher des Roten Löwen.'” Die Funktion des Ehrenvorstehers war, das Verhältnis der Korporation zur Universität möglichst eng zu gestalten. Er hatte die Stellung eines „väterlichen Leiters” oder „väterlichen Mentors”, der „gleichsam die personifizierte schützende Hand der Universität” über ihren Studenten symbolisierte. Ungewiß ist, warum Litt letztlich ablehnte. Vielleicht mochte er das Amt nicht in einer eher dahinsiechenden, in Sachsen wenig verankerten Verbindung übernehmen.
Wettina konnte sich kaum gegen die beiden großen Sängerschaften Arion und St. Pauli in der Deutschen Sängerschaft (DS) behaupten, die mehr oder weniger alle sing- und musikbegeisterten Leipziger Studenten in sich vereinten.’ Den Kontakt zu diesen angebahnt hatte Litts Kollege, der Psychologe Felix Krueger (1874-1948), Alter Herr der Sängerschaft Germania Berlin sowie Ehrenvorsteher und Ehrenmitglied Arions, mit 250 Aktiven und etwa achthundert Alten Herren die zweitgrößte Verbindung Leipzigs und eine der größten deutschen überhaupt. Krueger war Professor in Buenos Aires, Halle und New York gewesen. Trotz fortgeschrittenen Alters meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, machte die Kämpfe um Verdun, Cambrai und an der Somme mit sowie den Rumänienfeldzug. Seit 1917 lehrte er als Wilhelm Wundts Nachfolger — bei dem er 1903 habilitierte und dessen Sohn, der in Marburg, Jena und Tübingen lehrende Philosoph Max Wundt, Alter Herr der Sängerschaft zu St. Pauli in Jena war, die nicht mit der gleichnamigen Leipziger verwechselt werden darf — in Leipzig und war in der „geistigen Kriegführung” überaus aktiv. 1918 galt sein Institut als „völkische Zelle”. Von hier ging die Gründung der Leipziger Sektion von Wilhelm Stapels Fichte-Gesellschaft aus. 1919/20 diente Krueger im Leipziger Zeitfreiwilligen-Regiment, war Ehrenvorsteher und Ehrenmitglied Arions geworden, zudem der mit Abstand häufigste Vortragsredner. 1917 war Krueger neben Max Wundt – obwohl er als „entschieden weniger völkisch” galt – Gründer der “Deutschen Philosophischen Gesellschaft” (DPG), eine „rechte’ Abspaltung der Kant-Gesellschaft” – hier war Litt Mitglied -, als deren Vorsitzender er zwischen 1927 und 1933 amtierte. Er galt als Hauptvertreter der „Leipziger Richtung” in der deutschen Philosophie, die die „Verbindungen zur ,Konservativen Revolution’ herstellte”. Mitte 1921 zählte die jährlich in Weimar tagende DPG etwa siebenhundert, im Herbst 1923 bereits 1.200, um 1930 sechshundert Mitglieder vor allem in Thüringen und Sachsen, darunter zahlreiche Sängerschafter. Die mit Abstand stärkste Ortsgruppe war die in Jena, ihr Tagungsort oft das Paulinerhaus. Der ab 1929 entstehenden, überaus aktiven Leipziger Ortsgruppe stand Krueger vor, die Mitgliedschaft war zu einem großen Teil identisch mit der örtlichen Altherrenvereinigung Arions. Die DPG bot ausdrücklich „tragende Grundlagen für gefestigte Lebensgestaltung” an und löste damit „nach dem desorientierenden Zusammenbruch des Kaiserreichs lebhafte Reaktionen aus”. Auch Vorträge Litts scheinen dazu beigetragen zu haben. Ein Höhepunkt der Tätigkeit war im April 1932 ein Vortrag des Schriftstellers Erwin Guido Kolbenheyer – Alter Herr des Corps Symposion Wien und DS-Ehrenmitglied – über „Lebenswerte der Dichtung im Kampf des Deutschen Volkes um seine und Europas Befreiung”. Eingeladen hatte Krueger Kolbenheyer auf Vermittlung des Leipziger Pfarrers Erich Kröning, Alter Herr Arions, der Sängerschaften Zollern Tübingen und Barden Prag sowie Schriftleiter der Verbandszeitschrift „Deutsche Sängerschaft”.
Über Kröning und Krueger lernte Litt weitere Sängerschafter kennen, die Arionen Johannes Hohlfeld — bedeutendster deutscher Genealoge des 20. Jahrhunderts, Mitglied des Altherrenvorstands Arions und Inhaber zahlreicher weiterer sängerschaftlicher Ämter — und seinen Dienstherrn, den sächsischen Volksbildungsminister Fritz Kaiser, dessen „vielleicht größtes Verdienst war, daß er im politisch bewegten Jahre 1923 den drohenden kommunistischen Umsturz in letzter Minute vereitelte”. Dazu kam Dr. Wilhelm Bünger, Alter Herr der Sängerschaft Fridericiana Halle, Nachfolger Kaisers, sächsischer Ministerpräsident und als Richter am Reichsgericht Präsident des Senats, der 1933 den Reichstagsbrandprozeß verhandelte.174 Hohlfeld vermittelte Litt wiederum die Bekanntschaft seines Freundes Walther Kühn, ein sängerschaftlicher Multifunktionär, späterer Regierungspräsident, FDP-Mitgründer und Bundestagsabgeordneter, der besonders nach 1949 stärker in Litts Gesichts- und Freundeskreis trat.
Obwohl Litt und Krueger in Berufungsfragen oft anderer Ansicht waren, scheint es auf der korporativen Ebene dennoch einen gewissen Gleichklang gegeben zu haben. Beide besuchten gern die Feiern — Kneipen, Kommerse, Konzerte usw. — der über sechzig Leipziger Korporationen und akademischen Vereine, allen voran die Arions. Hier trafen sie oft auf den Historiker Erich Brandenburg, Alter Herr und Ehrenmitglied der Burschenschaft Roter Löwe mit guten Beziehungen zu ihrem Verband, dem Allgemeinen Deutschen Burschenbund. Litt war ein gefragter Redner und ergriff oft das Wort, doch wissen wir nicht, was er im Einzelfall sagte. Während seines Rektorats von Oktober 1931 bis Oktober 1932 war er besonders aktiv und besuchte jede größere Feierlichkeit.179 Zum 61. Jahrestag der Reichsgründung hielt er am 18. Januar 1932 vor der Studentenschaft die Festrede.
Die Studenten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre waren aber andere als Litt sie aus seiner Studienzeit kannte. Vor 1914 waren sie in der großen Mehrzahl national. National zu sein galt nicht als politisch, sondern als selbstverständlich. Auf Grund außen- und innenpolitischer Umbrüche seit den achtziger Jahren hatte das nationale Element liberale und konstitutionelle Tendenzen verdrängt, so daß sich die Studentenschaft seither selbstbewußt antiliberal gab. Es war jedoch kein ererbter Konservativismus, sondern ein auf der Reichseinigung von 1871 und der Industrialisierung aufbauender, vorwärtsschauender Nationalismus, der die Studentengenerationen bis 1914 begeisterte. Da er nicht konkret war, wirkte er ausgesprochen integrativ. Nach 1918 machten sich gegenüber der Vorkriegszeit Wandlungen bemerkbar, wurde das studentische Leben „politischer, unmittelbarer”, „der Stil […] einfacher”. Die Hochschüler der späten zwanziger und der dreißiger Jahre unterschieden sich deutlich von denen der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Die Kriegsstudentengeneration verließ bis 1923 die Hochschulen. Die nachfolgende übernahm den antibürgerlichen Geist der Jugendbewegung, politisierte, radikalisierte und militarisierte ihn aber. Diese Generation kannte nicht mehr die Front, hatte wohl aber die Entbehrungen der Nachkriegszeit, die Revolution, das Versagen des Staatsapparates, Putsche, Hunger und Inflation miterlebt. Sie verließ spätestens gegen Ende der zwanziger Jahre die Hochschulen und machte der nächsten Platz, die ihr Studium angesichts von Weltwirtschafts- und Überfüllungskrise sowie bedrückender beruflicher Aussichten begann. Allen Generationen waren Enttäuschung, Skeptizismus und Zynismus eigen, aber auch ein eng mit der Hoffnung auf einen Aufbruch, auf etwas Großes und Neues verbundener Idealismus, der „neues Volksleben” aus der „Zertrümmerung der Gegenwart” schaffen wollte, eng verzahnt mit einer besonderen „Anfälligkeit für das Grundrauschen der völkisch-antisemitischen Publizistik der Weimarer Jahre”, wie es sich in den Werken Arthur Moeller van den Brucks, Oswald Spenglers, Edgar Julius Jungs, Hans Grimms und Erwin Guido Kolbenheyers offenbarte.
Hier setzte Litt an. Er strebte eine neutrale Position der Universität im politischen Meinungsstreit an und warnte vor weitergehenden Radikalisierungen — herausragend seine Rektoratsrede über „Hochschule und Politik” am 31. Oktober 1931 —, die jede politische und ökonomische Krise mit sich brachten und vor allem vor dem immer mehr Anhang findenden Nationalsozialismus, der an den Hochschulen durch den 1926 in Leipzig gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) vertreten wurde.
Als die Leipziger Studentenschaft, deren Vorstand der Studentenbund stellte, für den 28. Juni 1932 eine Veranstaltung gegen den Versailler Vertrag in der Universität plante, verbot Litt diese. Nicht zu Unrecht befürchtete er eine Sympathiekundgebung für den Nationalsozialismus und eine Verletzung des akademischen Neutralitätsprinzips, wenn Studenten in SA-Uniform auftreten würden. In der Ablehnung des Versailler Vertrags stimmte der nationalliberale Litt durchaus mit der Studentenschaft überein — er selbst nahm öfter an den jährlichen Anti-Versailles-Demonstrationen teil —, doch erwartete er die Durchführung außerhalb der Hochschule, das Heraushalten der Politik aus dieser. Als er gar die Universität wenige Wochen später kurzzeitig schloß, weil es zu massiven Tumulten und Protesten der Studentenschaft für ein neues, das Führerprinzip beinhaltende Studentenrecht kam, das vom sächsischen Volksbildungsministerium abgelehnt worden war, avancierte er endgültig zum ausgemachten Gegner der nationalsozialistischen Studenten.186 Daß Litt Gesprächsbereitschaft auch mit der kleinen Gruppe der sozialdemokratischen oder der SPD nahestehenden Hochschüler — der Leipziger Vertretung des Leuchtenburgkreises — zeigte, wurde ihm hier zusätzlich verübelt.'” Im Gegenzug versuchte Litt im Oktober 1932 auf der Tagung des Verbands Deutscher Hochschulen (VDH) eine Resolution einzubringen, um die „nationalsozialistischen Rowdies relegieren zu können”. Eduard Spranger „lehnte dies —wahrscheinlich für die Mehrheit — ab, weil er die Bewegung der nationalen Studenten im Kern für echt, nur in der Form für undiszipliniert hielt”.
Auch in den Korporationen nahm die Zahl der Parteigänger der NSDAP zu, wobei allerdings ein deutlicher Unterschied zwischen den am Nationalismus des Kaiserreichs orientierten Alten Herren und den zuweilen offen nationalsozialistischen Aktiven zu erkennen ist. Diese aktionistische und aktivistische Gruppe wuchs nur langsam, da dem Zusammengehen von Korporationen und Studentenbund vor allem totalitäre, egalitäre und antibürgerliche Zielsetzungen des letzteren entgegenstanden. Andererseits gab es durchaus Konsens-elemente, denn in der Programmatik des NSDStB standen antisemitische, antimarxistische, antiparlamentarische und antirationalistische Tendenzen im Vordergrund, pflegte er den Führerglauben und die Sehnsucht nach einem „starken Staat”, der auch in den Korporationen deutliche Befürwortung fand, wenn dort darunter auch etwas anderes verstanden wurde. Litt ging häufig zu den Studenten und in die Verbindungen, weil er sie glaubte beeinflussen zu können, auch und gerade, als er immer mehr an Boden bei ihnen verlor. Nach dem 30. Januar 1933 wandte er sich gegen die Arisierung, wurde aber kaum mehr gehört. Litt, der in seinem Rektoratsjahr erstmals mit dem Studentenbund zusammenstieß und von ihm über Jahre als „Hauptvertreter des Liberalismus” angegriffen wurde, verlor seinen Lehrstuhl 1936/37 ebenso wie Krueger, der schon 1933 den Vorsitz der DPG aus „politischen Gründen” hatte aufgeben müssen. Zwar war er noch im April 1935 Rektor geworden, doch nützten Krueger weder seine Mitgliedschaft in Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur, noch das er seit 1930 Vorträge für den Studentenbund und den NS-Lehrerbund gehalten haue. Zum Verhängnis wurde ihm der Verdacht, jüdische Vorfahren verschwiegen zu haben […]. Zu dem war ausgerechnet der seit zwei Jahrzehnten im völkisch-deutschnationalen Umfeld agierende Krueger mit philosemitischen Äußerungen aufgefallen.” Er war kein Antisemit, trat nie mit antisemitischen Wortmeldungen hervor und wurde nun wie Litt zur Gruppe der „politisch Unzuverlässigen” gezählt. Den Ausschlag für diese Etikettierung gab Litts Weigerung, dem NS-Dozentenbund beizutreten, da er „nach seiner Auffassung eine Kampforganisation sei, die sich das Ziel gestellt habe, den traditionellen Geist der Universität zu zerstören”. Nach der Emeritierung Lins im November 1937 wurde sein Institut aufgelöst. seine Professur für Philosophie und Pädagogik wurde in eine solche für Vorgeschichte umgewandelt.
Das Leben der Korporationen in Deutschland veränderte sich nach 1933 nachhaltig. Sie wurden in Kameradschaften zusammengefaßt und der Kontrolle von staatlicher Deutscher Studentenschaft (DSt) und parteiamtlichem Studentenbund unterstellt. Dabei ging es vor allem um die Macht in der Studentenschaft, teilweise auch um weltanschauliche Differenzen, die aus unterschiedlicher sozialer Herkunft resultierten und die Korporationen auf den wesentlich weniger elitären Studentenbund herabblicken ließ. Die NS-Führer lehnten die Verbände ab, weil sie in ihnen eine „konkurrierende, manchmal sogar gegnerische politische Macht sahen”, die sich ihrer Kontrolle weitgehend entzog. Der Kampf endete im Herbst 1935 mit der Zerschlagung der Verbände und — nachfolgend — etlicher Korporationen. Der SV trat am 27. Oktober 1935 in Göttingen zu seiner letzten Tagung zusammen. Sein 4. Verbandsfest hatte er in Sondershausen Pfingsten 1935 gefeiert, wobei der Besuch Litts wahrscheinlich, aber nicht gesichert ist. In den Deutschland-Berichten der Exil-SPD in Prag heißt es im Oktober 1936 zu den Auflösungen: „Die studentischen Verbindungen sind noch nicht aufgelöst. […J Die entschiedensten Gegner der Nazis sind die Korps und Burschenschaften. Denn gerade ihre alte Tradition will man treffen und beseitigen. Und in dem Kampf um die Erhaltung dieser Tradition sind sie derart fanatisch, daß sie, wenngleich auch reaktionär, es ablehnen, mit den Nazis irgend etwas zu tun zu haben.”
Eine Gestapo-Untersuchung zur Auflösung der Korporationen ergab, längst nicht alle hatten mit der „Auflösung” ihre Betätigung eingestellt, keinesfalls seien „die Bindungen zwischen den einzelnen Korporationsangehörigen gelöst”. Aufgelöst seien nur die Aktivitas’, nicht die Altherrenschaften und Hausvereine — sie hatten in der Regel die Rechtsform eines eingetragenen Vereins —, die ihre Bundeszeitungen weiter herausgaben, Zusammenkünfte abhielten und in deren Besitz die Häuser verblieben. Auch bei Makaria war das der Fall. Litt, Carl Dücker und Fritz Mehl waren allerdings wegen der 1933/34 im SV und bei Makaria geführten Arisierungsdebatte und dem Ausschluß “jüdisch versippter” Mitglieder ausgetreten, ebenso — etwas später — Willy Betzler und Arnold Brecht. Noch in der Rückschau schmerzten Litt Austritte und Ausschlüsse, als „man es den damaligen Machthabern schuldig zu sein glaubte, diejenigen Philister, deren Blutzusammensetzung nicht ganz den amtlichen Vorschriften entsprach, mit einem jähen Schwung vor die Tür zu setzen. Ich hoffe, ich bin nicht der einzige gewesen, der damals die bittere Empfindung hatte, daß, wenn eine Korporation so oft das Verbandslied gesungen hatte ,Und treu den Brüdern bis zum Tod`, sich daraus doch Verpflichtungen ergaben, die auch in diesem kritischen Augenblick hätten beachtet werden müssen.” Litt erwartete von Makaria eine Stellungnahme für die “jüdisch versippten” Verbindungsbrüder. Als sie nicht erfolgte und sie ausgeschlossen wurden, erklärte sich Litt mit ihnen solidarisch und trat aus. Er bekannte aber: „Im übrigen wird man an diese Tatsachen denken, ohne sittenrichterliche Miene aufzusetzen; denn soll und darf man von jungen Menschen ein höheres Maß von Charakterstärke und Widerstandskraft fordern, als die Älteren, diese gleichschaltungsbeflissene Generation, weithin entwickelt haben?”
Die verbliebenen Makaren hielten fest zusammen. Auch die Beziehungen zu Ausgeschlossenen und Ausgetretenen — in der Regel selbst sehr national eingestellt — rissen nicht ab, zumal diese oft den Austritt angeboten hatten, wenn es nur der Verbindung zum Nutzen gereiche. Die Stärke der inneren Verbundenheit grenzte teilweise an Selbstaufopferung. Außerdem hatte die Auflösung der Verbindungen eine Loyalitätskrise gegenüber dem Regime zur Folge. Der Studentenbund vermochte nicht in die von den Korporationen in der Studentenschaft hinterlassene Lücke einzurücken. Die neue Reichsstudenten-führung erkannte dies klar, steuerte ab 1936 einen Kurs der Annäherung an die Altherrenverbände und ließ die Betreuung von NSDStB-Kameradschaf-ten durch sie zu. Unter dem Einfluß der ehemaligen Korporationsangehörigen näherten sich die Kameradschaften bis 1945 nach innen vielfach immer mehr den alten Verbindungen an und wurden teilweise zu „verkappten Korporationen”, die sich selbst natürlich als „richtige” Verbindungen begriffen. Diese Renaissance wurde nach dem Krieg oft als Widerstand oder „Ausdrucksform der inneren Emigration” gesehen. Sicherlich war dies kein Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime, aber ebenso sicher „artikuliert sich in dieser Entwicklung ein gewisser Überdruß am traditionellen Kamerad-schaftsbetrieb, vielleicht auch die Freude am klandestinen Spiel mit dem Feuer, jedenfalls ein gewisser Oppositionsgeist” der „überreglementierten Kriegsstudenten”, die sich in einen privaten Raum zurückzogen, „der durch die Tradition des Brauchtums gegen die wachsenden Anforderungen des Staats abgeschirmt war”. Die Mehrzahl der Studenten leistete „Widerstand meist nur gegen korporationsfeindliche Akte, nicht gegen das nationalsozialistische System als solches”.
Auch Alte Herren Makarias — nicht jedoch der Altherrenverband in seiner Gesamtheit — unterstützten ab dem 1. Januar 1940 die „Kameradschaft ‚Moltke—, benannt nach dem preußischen Generalstabschef und Planer der Einigungskriege, Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke d. Ä.208 Die Kameradschaft ging 1936/37 aus dem Bonner Verein Deutscher Studenten (VDSt) hervor, mit dessen Altherrenverband es allerdings im Sommersemester 1939 zum Bruch gekommen war. Moltke tagte auf dem Makarenhaus und bestand bis zur Schließung der Universität im Herbst 1944. Allerdings waren längst nicht alle Alten Herren zur Unterstützung bereit. Mit der Besetzung Bonns durch die Alliierten verschwanden auch die letzten Mitglieder der Kameradschaft Moltke. Einige, sich den gesanglich-musikalischen Prinzipien Makarias besonders verpflichtet fühlende Mitglieder wurden später in deren Altherrenverband aufgenommen.
Die Alliierten verboten die Korporationen, weil sie in ihnen Wegbereiter des Nationalsozialismus sahen. Das Verbot betraf aber nicht die Altherrenver-bände, die sich ab Herbst 1945 sammelten und ab 1946/47 die ersten Kontakte zu studentischen Gruppen — oft Söhne und Verwandte Alter Herren — aufbauten?” Dazu kam die Wandlung der Studentengenerationen in den folgenden Jahren, wie sie etwa Heribert Adam beschrieb: „Während jedoch in der unmittelbaren Nachkriegszeit die auf einer im weiten Sinne politisch oder kirchlich orientierten Parteinahme basierenden Gruppen der Kriegsgeneration der Studenten entsprechen, ist eine Zeit, die weniger dazu auffordert, Stellung zu nehmen, Stellungnahmen zu erklären und solidarisch zu vertreten, über Gruppenbildungen dieser Art, die wesentlich aus dem Bedürfnis nach Reflexion, nach politischer, weltanschaulicher Befriedigung entstanden waren, zu einer nüchternen Tagesordnung übergegangen. Das Erbe dieser nach 1945 etablierten, dann aber im wesentlichen zerfallenen oder nur noch organisatorisch fortexistierenden Gruppen treten die Korporationen an.” Ihre Neu- bzw. Wiedergründung und vor allem die Gewinnung neuer studentischer Mitglieder bietet ein ausgesprochen buntes Bild. Teils kamen Alte Herren auf die Studenten zu, teils umgekehrt, teils bestanden Beziehungen aus der Zeit vor Kriegsende, teils familiäre Bande. In den 1950er Jahren gehörten wieder rund ein Fünftel bis ein Drittel aller bundesdeutschen Studenten einer Korporation an.
Zum Erfolg der Verbindungen in der Studentenschaft trug ein unterschwellig weiterwirkender Tugendkanon bei, der ab etwa 1947/48 „nicht so sehr aus der Zustimmung zur nationalsozialistischen Weltanschauung resultierte, sondern traditionell nationalkonservativ” war und das Normalverhalten weiter Bevölkerungskreise seit dem Kaiserreich kennzeichnete: „,Treuegegenüber dem ,Vaterland
, Gehorsamgegenüber dem Staat, Pflichterfüllung
gegenüber der Obrigkeit”. Dazu gehörten auch traditionelle Rollen- und Familienvorstellungen einschließlich der Ablehnung studierender Frauen, gesellschaftliche Umgangsformen, die Hierarchie in Denken und Status „sowie eine prinzipiell autoritäre Gesellschaft und kaum veränderte Sprachgewohnheiten. In diesem Zusammenhang verdient auch der stark ausgeprägte Antikommunismus Erwähnung.”214 Besonders hervorgehoben werden muß zudem die Besinnung auf die geistige Sicherheit und vermeintlich „moralische Kompetenz” verheißenden bildungsbürgerlichen Vorbilder und die bürgerliche Kultur — erinnert sei nur an Goethe als „Rettungsanker […] für das beschädigte und erniedrigte nationale Selbstbewußtsein der Deutschen” im Goethejahr 1949215 —, gepaart mit der Ablehnung von Parteipolitik und der Tendenz zur Selbstbegrenzung auf die jeweilige Fachwissenschaft. Man hielt sich für unpolitisch und über den Parteien stehend, nur der objektiven Wissenschaft und der deutschen Kultur verpflichtet. Das war nicht nur altbekannt, sondern zugleich ein Umstand, der der Notwendigkeit des Nachdenkens über die eigene Vergangenheit enthob und das Zurückziehen vom politischen Nachkriegsalltag ermöglichte.216 Alles dies waren „Konsenselemente” zwischen Studenten und Alten Herren, Übereinstimmungen, über die man ins Gespräch kommen konnte und meist auch kam.
Der Bonner Ruf im Jahre 1947 — zugleich ein Ausweichen vor den sowjetzonalen Machthabern217 — führte Litt in unmittelbare Nähe Makarias, deren Altherrenverband sich unmittelbar nach 1945 sammelte — Litt, Dücker, Mehl, Betzler und Brecht traten sofort bei — und die so etwas wie ein zweites Zuhause für ihn wurde: „Seine Rückberufung auf den Lehrstuhl in Bonn brachte die sofortige Aufnahme der alten Beziehungen […] und bald auch zur Aktivitas der Makaria.” Litt stand den Makaren, aber auch anderen Korporationen, wobei er eine besondere Nähe zum Musikwissenschaftler und Burschenschafter Kurt Stephenson entwickelt zu haben scheint, mit Rat und Tat zur Seite, nahm überaus regen Anteil und unterstützte sie nach Möglichkeit: „Im Wintersemester 1948/49 fand sich eine Gruppe von acht Studenten — unter ihnen einige Söhne von Alten Herren — zusammen und gründete im Keller eines zerstörten Bonner Hauses die AMV Makaria neu. Das Verbindungshaus war zu dieser Zeit noch von den Alliierten beschlagnahmt. Erst im folgenden Jahr konnte die Verbindung in das Souterrain des eigenen Hauses übersiedeln. Nach umfangreichen Umbau- und Renovierungsarbeiten konnte das Verbindungshaus im Frühjahr 1962 wieder ganz übernommen werden. Zur Feier der Einweihung hielt AH Prof. Litt die Festrede.” Das war schon 1953 der Fall, als Litt den Festvortrag zum am 4. und 5. Juli begangenen 75. Stiftungsfest Makarias hielt.221 Wenige Monate später, am 9. November 1953, trug er zum Thema „Form und Inhalt einer studentischen Verbindung in der heutigen Zeit” vor.222 1954 forderte er „Zurück zu Kant”, 1958 sprach er über Hochschulprobleme der Geenwart.224 Litts 75. Geburtstag war 1955 Gegenstand von Feierlichkeiten, ebenso der 80. im Jahr 1960.
Am Verbandsfest des wiedergegründeten SV Pfingsten 1957 in Landau nahm er teil, und als der Berliner ALT am 19. Juni 1960 vom Bundespräsidenten die Zelter-Plakette, die höchste Auszeichnung des deutschen Chorgesangs, verliehen wurde, hielt Litt die Festrede. Bis zu seinem Tode fehlte Litt auf kaum einer Veranstaltung Makarias.
Was verband Litt so eng mit den Korporationen? Was erwartete er von ihnen und was glaubte er ihnen geben zu können? Seiner Verlobten erklärte er 1909 das Verbindungswesen, wobei immer wieder seine tiefe Zuneigung durchscheint: „Aber plage dich doch nicht mit dem Krimskrams der komplizierten und zum Teil — im Vertrauen gesagt — recht lächerlich gedunsenen Terminologie der Studentenschaft. Diese besteht wirklich aus schnurrbärtigen — z. T. auch nicht schnurbärtigen — Kindsköpfen, die ohne etwas Wichtigthun nicht auskommen. Das hindert mich übrigens nicht, den Kern dieses ganzen Wesens hochzuhalten und, schon um meiner eigenen kostbaren Erinnerungen willen, zu lieben.” An dieser Liebe zur „alten Burschenherrlichkeit”, an jenen „seligen Tagen” hing Litt sein ganzes Leben lang. Er bekannte 54 Jahre nach Beginn seines Studiums: „Und fast möchte man ein Wort von Talleyrand variieren und erklären, daß der die Süßigkeit des Lebens nicht kennengelernt hat, der nicht vor 1914 in Bonn Student gewesen ist.” Und 1953 hieß es über ihn: „Alter Herr Prof. Litt hielt die Festansprache, in der er die alten Tage der Universität Bonn, als er selbst studierte, schilderte, zugleich aber die studierende Generation ermahnte, daß Traditionspflege nur ein Teil des Programms heutigen Verbindungslebens sein kann, daß die heutige Generation vor neuen Aufgaben und Entscheidungen stehe.” Hier glaubte Litt helfen zu können, hieß es doch über ihn, „der wiedererstehenden Makaria
Kopf steht. Der Geburtstag hat mich mit einer Lawine von Post überschüttet, die beantwortet werden muss. Dadurch ist Anderes, Dringenderes liegen geblieben, das mich gleichfalls anfordert.”
Litt war überzeugt von der Einheit von Bildung und Erziehung an der Hochschule, wobei er erstere von der Universität, letztere von der Korporation erwartete. 1953 schrieb er auch, dabei durchaus sich selbst im Blick, man könne sagen, „daß das Zusammenleben innerhalb studentischer Korporationen manchmal, was die Prägung des Menschen, seiner Sitten und Gewohnheiten angeht, sehr viel mehr hervorgebracht hat als alle Beschäftigung mit der Wis-senschaft”. Schon 1924 finden wir diesen Gedanken in seinem Aufsatz „Unsere Verbindungen als Erziehungsgemeinschaften”, eine Art korporatives Glaubensbekenntnis Litts, ähnlich äußerte er sich um 1950 und 1953. Gleich ihm urteilte rund ein halbes Jahrhundert zuvor einer seiner Lehrer, der Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen, der seit seiner Erlanger Studienzeit 1866 der Bubenruthia angehörte und begeisterter Burschenschafter war: „Die freien Verbindungen sind für das deutsche Studentenleben ebenso charakteristisch, wie für das englische das Leben im college. Auf dem freien Willen und der eigenen Wahl beruhend, sind manche unter ihnen Verbände von einer Festigkeit und Innigkeit, dass ihnen kaum ein anderer Verein darin gleichkommt. Das gilt besonders von den alten, auf langer und starker Tradition ruhenden Farbenverbindungen. Sie geben dem Studenten etwas wie eine Heimat auf der Universität.” Paulsen sah in der Korporation eine „Vorschule auch des öffentlichen Lebens, sie entwickelt die Fähigkeit der Selbstzucht und des Regiments; sie giebt ihren Gliedern eine gewisse Sicherheit der Haltung und des Auftretens, an der man auch im späteren Leben den alten Verbindungsstudenten wohl noch erkennt”. Fast wortgleich mit Paulsen schloß Carl Wilhelm von Zehender, 1842 Mitglied der Burschenschaft Arminia Jena, 1876 Rektor der Universität Rostock und der wohl hervorragendste Augenarzt des 19. Jahrhunderts — er behandelte in den 1880er Jahren Litts Vater —, seine Rektoratsrede. Auch beim in Straßburg lehrenden Kollegen Paulsens, Theobald Ziegler, Alter Herr der Burschenschaften Alemannia Wien, Roigel Tübingen und Alemannia Straßburg in der Deutschen Burschenschaft (DB), finden sich anerkennende Sätze über den erzieherischen Wert der Korporationen. Viele Freunde Litts äußerten sich ähnlich, etwa der Bonner Prorektor Prof. Dr. Max Braubach, ein Burschenschafter, der Tübinger Politikwissenschaftler Prof. Dr. Theodor Eschenburg, Alter Herr der Burschenschaft Germania Tübingen, oder der ehemalige Reichskanzler Hans Luther, Alter Herr der Akademischen Turnvereine (ATV) Ditmarsia Kiel und Kurmark Berlin sowie Ehrenmitglied des ATV Ostmark Königsberg und des ATV Innsbruck im Akademischen Turnbund (ATB). Luther ging sogar noch weiter und beschrieb in seinen Erinnerungen nicht die nur Bildung vermittelnde Universität, sondern seine Aktivität im ATV als prägend für seine spätere politische Tätigkeit.Und Friedrich Koch, seit 1897 Mitglied der Kieler Burschenschaft Teutonia, Studienrat in Stargard in Pommern und wahrscheinlich seit dem Göttinger DSt-Studententag 1920 mit Litt näher bekannt, schrieb: „Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Verbindung ist meist von außerordentlicher Wichtigkeit für die Lebensauffassung und Lebenshaltung der einzelnen Persönlichkeit. Nur im Augenblick der Aktivität kommt dies dem Studenten nicht so zum Bewußtsein, aber sein späteres Leben ist meist beeinflußt durch die Gedanken, die er während seiner Studentenzeit in sich aufgenommen hat.” Zugehörigkeit zu einer Verbindung war für viele führende Persönlichkeiten und zahlreiche Akademiker des 19. und 20. Jahrhunderts ein konstitutives Element ihres späteren Lebens, das nicht zu überschätzen, keinesfalls aber auch zu unterschätzen sein sollte.
Hinter den Äußerungen stand bei allen das Bild der Universität Humboldts, die bildete, aber nicht erzog, eine Stätte war, „die dem jungen Menschen die Möglichkeit bietet, die reine Wissenschaft aus sich heraus zu entwickeln und sich in seiner reinen Menschheit darzustellen”. Diese „Humboldtsche Lücke” bot den sich an den Hochschulen seit 1770 herausbildenden Korporationsty-pen — Landsmannschaft, Orden, Corps, Burschenschaft, jüngere Landsmannschaft, Sänger-, Turner- und sonstige Vereine — ein weites Feld von Ansprüchen, die sie sich zu eigen machten und auszufüllen suchten. Verbindung war daher auch ein Bildungsinstrument und -element, das nach eigenem Verständnis eine Lücke als Korrektiv der akademischen Freiheit ausfüllte und im Rahmen einer innerkorporativen „Charakterbildung” die wissenschaftlich-berufliche Ausbildung der Universität abzurunden versuchte, zugleich aber auch „eine Erziehung für die Zugehörigkeit zur Oberschicht der deutschen Gesellschaft” bezweckte. Schon Friedrich Nietzsche hatte Ende 1864 beim Eintritt in die Bonner Burschenschaft Frankonia geschrieben, daß man in den Aktiven des Farbenstudententums die spätere Führungsgeneration kennen lernen könne. Kurz: Die Universitäten unterrichteten, die Verbindungen erzogen.247 Und wenn die Universität bildete und die Korporation erzog, dann sah Litt sich als Hochschullehrer, Alter Herr und ambitionierter Erzieher zur Einflußnahme auf die Studenten aufgerufen: „Es ist das Grundgefühl, daß im Laufe der letzten hundert Jahre, seit dem großen Zeitalter eines Wilhelm von Humboldt, die Wissenschaft sich zwar spezialistisch bis ins Unendliche entwickelt hat, gleichzeitig aber an menschenbildender Wirkung wesentlich eingebüßt hat.”248Hier hätten die Korporationen einzuhaken. Die Studenten sollten, wie er es 1919 in „Individuum und Gemeinschaft” darlegte, in einem umfassenden Sinne lernen und nicht nur Wissen anhäufen, den Anwendungsbezug des erwähnten korporativen „Krimskrams” im Kreise Gleichgesinnter und gegenüber anderen studentischen Gruppen erkennen und üben — Litt spricht in diesem Zusammenhang von „Lebensbildung” —, damit sie derart vorbereitet zur Lebensbewältigung gerüstet und in der Lage wären. Doch nicht nur für sich selbst, auch für ein höheres Ziel: „Gemeinsam” waren Universität und Korporation die „Verantwortung für das Ganze”. Nur diese ganzheitliche Ausbildung stutze schädliche Egoismen, mache den verantwortungsbewußten und -bereiten Staatsbürger aus, bilde ihn wirklich und befähige ihn zu Führungspositionen. Dazu gehörte nach Litt aber auch, ein wohlverstandenes „,NationalesBewußtsein [zu] pflegen und [zu] betätigen". Gefährlich sei nur die „Veräusserlichung des nationalen Gedankens. [...] Gefordert [sei]: denkendes Nationalbewußtsein, nicht Gefühlspatriotismus." Denn stets müsse man sich vergegenwärtigen, daß akademische Bildung und korporative Erziehung sich „verzerren und in der Wirkung verkehren" können. Jede „Übersteigerung" führe zu „Unechtheit. Gewollte Exklusivität, Sich abheben
‘Elite’-Bewußtsein” zögen nach sich, daß „das Trennende überbetont” werde und sich in „Rivalitäten […], gewollte[r] Feudalität, Verachtung [der] Freistudentenschaft, Forschheit`„Schneidigkeir” manifestiere. „Durch Überbetonung dieser Dinge wurde die Studentenschaft zerrissen.” Tatsächlich komme es aber darauf an, nicht einer Konvention zu huldigen, sondern aus dem Alten immer wieder für das Neue zu schöpfen: „Heute steht die Makaria zusammen mit allen anderen Studentenkorporationen vor einer Schicksalsfrage, die zugleich auch die Schicksalsfrage unseres Volkes ist. […] Unser ganzes Leben ist in einem Umschwung begriffen, dessen Radikalität, glaube ich, viele noch nicht begriffen haben. Wenn ein Volk und mit ihm alle Körperschaften in den Wirbel einer solchen Bewegung hineingerissen sind, dann steht vor ihnen die schicksalsvolle Frage: Was von dem, was aus der Vergangenheit überkommen ist, soll in den Bau des werdenden Neuen eingebaut werden, und was muß als veraltet und verjährt abgeschrieben werden?” So war Litt einer der ersten, der angesichts der völlig veränderten Zusammensetzung der Studentenschaft die Aufnahme von Studentinnen in die SV-Verbindungen anregte.
Sich selbst glaubte Litt vor allem durch seine Korporationszugehörigkeit und den Verkehr mit Korporierten gebildet zu haben: „Denn es ist doch so, daß in dem kleinen Schicksal einer akademischen Vereinigung und der AHAH [Alten Herren, H. L.], die sie in sich schließt, das große Schicksal von Volk und Menschheit sich in einer gewissen Weise spiegelt und abbildet.” Litts Berliner Semester etwa erweiterte seinen Gesichtskreis beträchtlich. Der Verkehr in der Liedertafel brachte ihn mit Hochschülern aus allen Gegenden Deutschlands sowie denen technischer Fächer zusammen, was ihm aus Bonn völlig unbekannt war: „Hier […] trat mir auf einmal ein Typus von Studenten entgegen, der wie damals, so auch heute sich von dem Universitätsstudenten charakteristisch unterschied, so daß auch das ein Lernen war, durch das ich auf meine spätere akademische Laufbahn sehr wirksam vorbereitet wurde.”
Hochschule und Korporation waren Litt wie vielen Zeitgenossen nicht nur Lern-, Erziehungs- und Geselligkeitsort, sondern auch ein vielfach prägendes „Erprobungsfeld” für politische und kulturelle Normen und Vorstellungen des Studenten bei äußerer Freiheit und durch den Comment und die Semesterzahl bestimmten „rigiden, hierarchisch strukturierten Verhaltensnormen innerhalb der Studentenschaft”, angesiedelt zwischen dem Elternhaus und dem Eintritt des Akademikers ins bürgerliche Leben. Dabei stand Litt immer die Erziehungsgemeinschaft einer Korporation im Vordergrund und als wesentliches Erziehungsmittel die Musik, wie sie von Makaria und der ALT gepflegt wurde: „Es ist doch so, daß die Musik unter den Künsten diejenige ist, die am stärksten den Charakter der Gemeinschaft trägt — nicht nur aus dem Grunde, weil gerade sie in die letzten Tiefen des Gemüts hinabgreift, weil sie den Menschen an Stellen packt, die anderen Künsten nicht zugänglich sind, sondern vor allen Dingen auch deshalb, weil sie in Gemeinschaft ausgeübt zu werden verlangt.” Auf diese korporative Gemeinschaft legte Litt allergrößten Wert. Denn „echter korporativer Geist kann sich nur in der Pflege von wahren Lebenswerten entzünden, und gerade das große akademische Leben hat seinen Sinn in höchsten Lebenswerten”.
Theodor-Litt-Jahrbuch
2005/4
Leipziger Universitätsverlag 2005