„Das Trümmerfeld, auf dem wir zum Schluß stehen werden…”33 min read

EVA MATTHES
„Das Trümmerfeld, auf dem wir zum Schluß stehen werden,
das kann ich mir vorstellen”: Litt 1937 bis 1945

  1. Litts Rücktritt aus dem Herausgeberkreis der Zeitschrift „Die Erziehung”

Am 27. Januar 1937 hielt Litt in Leipzig vor dem Verband der Freundinnen junger Mädchen e. V. einen Vortrag über „Das Verhältnis der Generationen als sittliches Problem”. Auf Wunsch Wilhelm Flitners bereitete er diesen Vortrag zur Veröffentlichung in der „Erziehung” vor und schickte ihn am 15. April an diese. Er hatte allerdings damit gerechnet, daß der Text wegen oppositioneller Tendenzen von dem Schriftleiter Fritz Blättner abgelehnt werden würde, wie aus einem Brief an Spranger vom 14. April 1937 hervorgeht. Allerdings wollte er es wohl nochmals genau wissen. Leider befindet sich im Nachlaß zu diesem Vortrag kein Vortragsmanuskript; aus seinen späteren Veröffentlichungen zum Generationenverhältnis — „Vom Verhältnis der Generationen” (1943); „Das Verhältnis der Generationen ehedem und heute” (1947) — und seiner darin wie auch in Vorträgen deutlich werdenden, auf eigenen Erfahrungen beruhenden Einschätzung, daß der Nationalsozialismus Anfang der 30er Jahre nicht zuletzt eine „Jugendbewegung” gewesen sei bzw. sich als solche darzustellen versuchte, kann man sich die kritischen, gegen den Nationalsozialismus gerichteten Aussagen gut vorstellen. 1947 etwa formulierte Litt: „Und als die Wellen der ersten Erregung abgeebbt waren, da blieb es doch bei einem System der organisierten Überwachung, das die Jungen als Aufseher, Ankläger und Richter über die Älteren setzte und so gereifte Männer den Demütigungen einer anmaßlichen Zensurierung auslieferte” (S. 47).

Doch zurück zum Geschehen im Jahr 1937: Nachdem Anfang Juni auch Herman Nohl der Abdruck eines Manuskripts — „Die Geistigkeit des Bür-gers”5 — verweigert worden war, schrieb Litt am 7. Juni an Spranger: „Daß der von mir eingereichte Aufsatz nicht angenommen werden würde, hatte ich natürlich vorausgesehen. Aber die weiteren Komplikationen beweisen, daß es sich hier nicht nur um etwas Vereinzeltes handelt. Ein schleichendes Übel wird offenbar. Für mich liegt in alledem nichts Überraschendes. Die Voraussetzungen, unter denen wir seiner Zeit beschlossen haben, die Sache fortzuführen, bestehen einfach nicht mehr. Wozu künstlich am Leben erhalten, was innerlich nicht mehr lebt!”

1933, als Wilhelm Flitner noch Schriftleiter war (bis 1935), hatte Litt immerhin noch seinen Beitrag „Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate”, den er nicht als Vortrag halten durfte, in der “Erziehung” publizieren können — seiner Vorbemerkung hatte er allerdings auf den Appell Flitners hin eine „wesentlich zahmere Form gegeben” (Brief an Spranger vom 12. September 1933).

1937 wollte Litt also die “Erziehung” aufgeben, er wollte jeglichen Anschein der Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Machthabern beenden. Hierfür versuchte er auch Eduard Spranger, der sich zu dieser Zeit im Auftrag des Auswärtigen Amtes in Japan befand, zu gewinnen.

Nohl trat unmittelbar nach Verweigerung seines Beitrags, Aloys Fischer — dessen Mitherausgeberschaft, wie er in einem Brief vom 14. Juli 1937 an Flitner schrieb, seit einiger Zeit allerdings nur noch auf dem Papier existierte — kurz darauf zurück, nachdem er wegen seiner Ehe mit einer Halbjüdin am 25. Juni 1935 zwangsemeritiert worden war.

In einem Brief vom 17. August 1937 berichtete Litt Spranger von der nunmehrigen Genehmigung seines im Oktober 1936 eingereichten Emeritierungsgesuchs und schlug den Bogen zur “Erziehung”: „Über meinen Anteil an der Erziehung ist damit auch eindeutig entschieden. Ich glaube aber, daß auch ohnedies ihr Schicksal besiegelt ist. Wir wollen ihrer Emeritierung nicht im Wege stehen.”

Der Verlag jedoch wollte die Zeitschrift fortführen und schlug hierfür zwei Lösungen vor: Blättner sollte als alleiniger Schriftleiter fungieren oder Spranger alleiniger Herausgeber sein, unter Mithilfe eines von ihm gewählten Schriftleiters. Letztere Lösung wurde zum 1. Oktober 1937 mit Hans Wenke als Schriftleiter realisiert und blieb bis zum Ende der „Erziehung” 1943 bestehen.

Symptomatisch sind die unterschiedlichen Bewertungen Litts und Sprangers: Während Spranger darauf hoffte, weiterhin einflußreich zu bleiben bzw. es im NS-Staat wieder zu werden, sah Litt hierfür keinerlei Möglichkeiten. Er wollte klare Verhältnisse. Die Strategie, die ihn 1933 trotz Bedenken noch dazu bewog, für die Fortführung der Zeitschrift „Die Erziehung” zu plädieren — eine oppositionelle Stimme bilden zu können —erschien ihm 1937 obsolet.

  1. Eine Replik Litts, die nie veröffentlicht wurde

Sprangers Hoffnung, die “Erziehung” wieder in ruhiges Fahrwasser bringen zu können, wurde schnell enttäuscht. Im Mai 1938 veröffentlichte Gerhard Lehmanns in Alfred Baeunilers Zeitschrift „Weltanschauung und Schule” einen Beitrag „Geisteswissenschaftliche Pädagogik — heute. Vier Jahre ‚Erziehung—. Lehmann ist darum bemüht, durch eine Aneinanderreihung von — aus dem Zusammenhang gerissener — Zitaten aus den Jahrgängen 1933-1937 der “Erziehung” — vorrangig von Spranger, aber auch von Brake, Flitner, Freyer, Litt, Weinstock — nachzuweisen, daß diese Autoren — auch wenn sie anderes vorzutäuschen versuchten — nicht auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates stünden. Lehmann wirft ihnen vor, auf den Geist fixiert zu sein und den Stellenwert von Natur, Rasse, Blut und Leben zu verkennen. Er plädiert für eine realistische Rassenkunde anstelle einer idealistischen Geschichtsbetrachtung.

Die massive Kritik an Aussagen Sprangers scheint diesen sehr gekränkt zu haben, was sich — leider nur indirekt — aus Briefen Litts an Spranger erschließen läßt. Nachdem Spranger Litt auf den Text aufmerksam gemacht hat, bittet dieser ihn in einem Brief vom 19. Juni 1938 um die Zusendung des Aufsatzes und fügt hinzu: „Vielleicht könnte man, sofern er etwa die Dinge fälscht, in der Erziehung eine Erwiderung schreiben? Mir macht solch ein Waffengang immer Spaß; und ich habe ja nichts mehr zu verlieren.” Spranger scheint Litt den Text unverzüglich zugeschickt zu haben, denn bereits am 22. Juni 1938 schreibt Litt über den Text an Spranger: „Der Aufsatz ist genau so, wie ich ihn mir gedacht habe. Frech in der Tonart, erbärmlich in der Gesinnung, viel zu verächtlich, um überhaupt ernsthafte Beachtung zu verdienen. Eine Erwiderung wäre nur aus dem Grunde zu erwägen, weil, wenn wir stumm blieben, der Anschein entstehen könnte, als ob wir uns getroffen fühlten.” Die weiteren Ausführungen machen deutlich, daß Litt zu diesem Zeitpunkt seine Replik bereits im Kopf hatte. Er fährt nach einem kurzen Aufriß derselben fort: „Wenn Sie es richtig finden, einen Aufsatz dieses Inhalts in der Erziehung zu veröffentlichen, so lassen Sie mich das bitte mit einem kurzen Wort wissen — auch den Termin, bis zu dem er fertig sein müßte. Ich würde nicht grob, aber deutlich schreiben.” Litt hat wohl seine Replik gleich darauf niedergeschrieben; sie ist nämlich als -Typoskript im Nachlaß vorhanden. Kurz einiges zum Inhalt: Litt ist darum bemüht, sozusagen von einer höheren Warte aus das Unwissen und den „Unverstand” Lehmanns vor Augen zu führen, ihm im Blick auf den Idealismus Hegelscher Prägung eine völlige Verkennung der Subjektivität und Objektivität verschränkenden Denkweise nachzuweisen und Lehmanns Argumentation somit ad absurdum zu führen. Neben den vorherrschenden Negationen — als Zurückweisung von Mißverständnissen —enthält der Text jedoch auch eine gegen Lehmann klar durchgehaltene Position: Litt bekennt sich zum Menschen als Geistwesen: „Wir unsererseits halten an der Gewißheit fest, daß wir mit dem Bekenntnis zum Geist nicht nur einer verehrungswürdigen Überlieferung, sondern auch dem tiefsten Sinn der deutschen Sendung treu bleiben.” Die „Überzeugung von der Naturüberlegenheit geistigen Schaffens und der darin liegenden Ausnahmestellung des Menschen” bleibt für ihn zentral, dem „naturalistischen Evolutionsgedanken” wird eine Absage erteilt. Indem Litt vom „beseelten Menschenantlitz”, vom Menschen als „geistigem Subjekt” spricht, klagt er die Würde des Menschen ein.

Eine Veröffentlichung der Littschen Replik unterblieb; Spranger scheint eine Publikation in der “Erziehung” abgelehnt zu haben. Spannend wäre es, die Begründung zu kennen; es ist zu vermuten, daß Spranger von sich aus jeglichen Konflikt vermeiden wollte und ihm der Text Litts deshalb zu „gefährlich” erschien. In diesem Kontext ist auch noch darauf hinzuweisen, daß der Beitrag Lehmanns sogar im „Völkischen Beobachter” (Nr. 175) v. 24. Juni 1938 Aufmerksamkeit erfahren hatte: „Das Ergebnis [der Lehmannschen Analyse; E. M.] ist ein einziger Beweis dafür, daß dieses [inzwischen nur noch; E. M.] von Professor Spranger herausgegebene Organ auch in den Jahren nach 1933 recht fleißig bemüht war, die alte liberale Kulturphilosophie munter fortzusetzen, wobei diese Zeitschrift auch häufig genug dabei ertappt werden konnte, wie sie hier und da die Anliegen der nationalsozialistischen Erziehung mit den Mitteln ihrer Begriffswelt unauffällig zu zersetzen und unter der Hand ‚geisteswissenschaftlich’ umzumünzen suchte” (S. 5).

Daß Litt und Spranger — bei aller persönlichen Verbundenheit und gegenseitigen Wertschätzung — die Verhältnisse in der NS-Zeit häufiger unterschiedlich einschätzten, zeigen auch ihre Bewertungen des Kriegsverlaufs.

  1. Litts Einstellung zum Zweiten Weltkrieg

Unmittelbar nach dem erfolgreichen Polenfeldzug vom 1. September bis 6. Oktober 1939 schreibt Litt an Spranger: „…das, was man von manchem sog. ‚Gebildeten’ jetzt zu hören bekommt, (ist) mir in der heutigen Situation einfach unerträglich. Ich finde die vielfach bemerkbare Gedankenlosigkeit einfach erschütternd. Es muß schon ein naher Angehöriger fallen, damit man … aufwacht und sieht, was los ist. Sie können daraus auf meine Stimmung schließen. Was von Stimmen der Front zu mir dringt, atmet lauter Friedenshoffnung. Ich bin außerstande, die Zuversicht derer zu teilen, die auf ein baldiges Ende hoffen. Und damit ist ja im Grunde alles gesagt.”
Es ist bekannt, daß die Deutschen 1939 — anders als 1914 — nicht mit Begeisterung den Krieg begrüßten, vielmehr ihn eher mit Beklemmung zur Kenntnis nahmen. Es ist allerdings ebenso bekannt, daß die deutschen Kriegserfolge der Hitler-Regierung sehr hohe Zustimmung brachten. Nach dem Sieg über Frankreich und der kampflosen Besetzung von Paris durch die Wehrmacht am 14. Juni 1940 stand Hitler „nicht nur auf dem Gipfel seiner Popularität in Deutschland. Vielmehr hatte er auch oppositionelle Strömungen im Offizierskorps besiegt und war für eine Vielzahl der Vertreter des alten Deutschland … zur unumschränkten Autorität geworden.” Und Marlis G. Steinert schreibt in ihrem Beitrag „Deutsche im Krieg: Kollektivmeinungen, Verhaltensmuster und Mentalitäten”, daß „der Sieg über Frankreich … im Bewußtsein der Deutschen als Heilung eines verletzten Nationalstolzes nicht hoch genug eingestuft” werden könne)° Auch an Spranger scheint diese kollektive Siegesstimmung nicht spurlos vorübergegangen zu sein, ermahnt er doch Litt — wie sich aus dessen Antwortbriefen entnehmen läßt — zu einer weniger pessimistischen Haltung. Litt war jedoch immun gegen jeden Siegestaumel, ja, er ging sogar so weit, seine Angst vor einem deutschen Sieg auszudrücken. „Ich bin durch die Sorge um alles das, was die Zukunft — selbst und gerade im Falle eines vollkommenen deutschen Sieges — bringen kann, zeitweilig ganz verdüstert. Könnte man sich nur dieses verwünschte Nachdenken abgewöhnen. Die Spießer, die zu jedem Frühstück die Welt verteilen und sich als Mittelpunkt des Universums fühlen, sind doch eigentlich viel besser dran. Und doch möchte man nicht zu diesen aufgeblasenen Narren gehören, denen die deutschen Erfolge den letzten Rest von Verstand und sittlichem Urteil genommen haben. Eine grauenhafte Sippschaft!” schreibt er in einem Brief an Spranger vom 29. August 1940. Sprangers Kritik, mit dieser Einstellung vorzeitig zum Greis zu werden, nimmt er auf und stimmt ihr „bis zu einem gewissen Grad” zu. Er sieht allerdings für sich keine Alternative: „Ja, wer sich von der weiteren Entwicklung der Dinge so wenig verspricht wie ich, der wird in der Tat vor der Zeit alt…” (Brief an Spranger vom 3. Dezember 1940).

Litt zeigt also auch nach den deutschen Siegen 1940 wieder im besonderen Maße seine Fähigkeit, sich von Kollektivstimmungen nicht anstecken zu lassen, sondern sein klares Urteil beizubehalten, kritischer Mahner zu sein.

Besonders deutlich wird dies auch an einem 1940 nach dem Sieg über Frankreich gehaltenen Vortrag Litts, der den Titel trägt „Der Sinn der Geschichte im Licht des christlichen Bewußtseins”. Das Vortragsmanuskript ist im Nachlaß vorhanden; leider ließ sich bisher nicht ausfindig machen, wann genau und vor allem vor welchem Publikum der Vortrag gehalten wurde. Er weist in den Grundgedanken Parallelen auf zu Litts 1938 auf der Basis eines Vortrags fertiggestellter und 1939 im Leopold Klotz Verlag Leipzig erschienenen Schrift „Protestantisches Geschichtsbewußtsein. Eine geschichtsphilosophische Besinnung”, hat jedoch auch einen deutlichen Zeitbezug.

Nachdem Litt die Möglichkeit einer absoluten Sinndeutung der Geschichte widerlegt hat — und sich damit explizit gegen die nationalsozialistische — wie gegen jede totalitäre — Auffassung stellt — , bekennt er sich zu dem christlichen Bewußtsein der “Endlichkeit, Vergänglichkeit, Fehl-samkeit, Fragwürdigkeit” des Menschen und damit auch seiner Deutungen menschlichen Handelns. Er formuliert im Angesicht der deutschen Siege folgende beeindruckenden, hellsichtigen Sätze: „Als Sparta Athen besiegt hatte, als Rom sich das ganze Mittelmeer unterworfen hatte (Karthagos Zerstörung), da glaubten beide sich auf der Höhe des Triumphs: und doch sehen wir Späteren, daß gerade hier der Niedergang bis hin zu seinem Untergang seinen Anfang nahm.”

Im Anschluß an diese ersten Überlegungen setzt sich Litt — wie es für seine Argumentationsweise typisch ist — mit dem potentiellen Gegenargument auseinander, daß durch diese Optik das Handeln, das der Sicherheit und Entschlußkraft bedürfe, gelähmt werde. Er sieht allerdings eine größere Gefahr darin, daß die Besinnung als daß das Handeln zu kurz komme. „Befangenheit in dem Horizont des eigenen Wollens ist der dem Menschen selbstverständliche Zustand”.

Im darauffolgenden Gedankenschritt setzt Litt der perspektivischen Geschichtsbetrachtung eine Grenze: ein unaufgebbarer Beurteilungsmaßstab sei geschichtliche „Größe”. „Nur dadurch kann ja das Bild der Geschichte entstehen, daß Licht und Schatten derart verteilt werden, daß der durchschlagende Erfolg, die prägende Tat, das dauerhafte Werk als solches anerkannt, hervorgehoben und bestrahlt wird.” Daß das Benennen geschichtlicher „Größe” nicht unproblematisch ist, macht Litt — anders übrigens als in seiner Schrift „Protestantisches Geschichtsbewußtsein” — dadurch deutlich, daß er Größe in Anführungszeichen setzt. Vor dem Hintergrund der Zeitsituation und bereits zitierter Aussagen Litts in diesem Vortrag ist auch hervorzuheben, daß er die Notwendigkeit des Andauerns, der kontinuierlichen Wirksamkeit hervorhebt, um etwas als geschichtlich groß bezeichnen zu können.

Geschichtliche Größe dürfe allerdings nicht der allein gültige Beurteilungsmaßstab sein, die christliche Perspektive müsse relativierend hinzutreten: alles Menschliche steht „unter dem Gericht”. „Das christliche Gewissen weiß, daß auch diesem Größten seine eigene Art von Bedrohung, Versuchung, Gefahr des Abgleitens innewohnt: die ,prometheische Gefahr der Selbstüberhebung, der Selbstvergottung und die mit ihr verbundene Gefahr der Selbstverhärtung gegen das mitmenschliche Sein. Die Geschichte ist eine fortlaufende Illustration davon, was hiermit gemeint ist: wie der Rausch des Erfolges, der Triumph der vollendeten Leistung blind macht für die Grenzen des Menschlichen”. Demut als Korrektiv tue not. — Hier will ich in der Darstellung des Gedankengangs Litts kurz innehalten, um die Disharmonie dieser Sätze zu der bei der Mehrheit der Deutschen und erst recht bei den nationalsozialistischen Machthabern zu dieser Zeit vorherrschenden Stimmung zu betonen.

In einem nächsten Gedankenschritt hält Litt fest, daß zwei Wertungen nebeneinander bestehen: die im oben definierten Sinne geschichtliche und die moralische Wertung, die er auch umschreibt als die im Angesicht Gottes erfolgende. Litt betont nun nachdrücklich, daß die beiden Bewertungsweisen sich gegenseitig akzeptieren müssen, davon absehen müssen, sich gegenseitig verdrängen zu wollen. In seinem Vortrag konzentriert sich Litt allerdings — wie es ihm angesichts der historischen Stunde geboten erscheint — auf die moralische Bewertung. Als Warnung für seine Zeitgenossen formuliert er: „Unvorstellbar, was geschehen würde, wenn Männer und Völker, die Geschichte machen, sich von allen sittlichen Rücksichten freigesprochen und zum reinen Amoralismus ermutigt fänden!”

Abschließend führt er aus, daß die geschichtliche Perspektive viel menschlich Großes übersehe, das nicht kollektiv wirksam werde, das im Stillen, in der Ich-Du-Beziehung sich zeige. Gegenüber der geschichtlichen Perspektive müsse der einzelne „als Grundkategorie” verteidigt werden. In impliziter Berufung auf Pestalozzi spricht Litt — wie auch in anderen Vorträgen und Veröffentlichungen dieser Zeit — vom „`menschlichen Wert jeder Menschenseele’, der kein Menschenkind so ärmlich und belanglos erscheint …, daß es nicht der Beachtung und der Pflege seiner Menschlichkeit würdig wäre”. —

Litts Vortrag — wie auch sein Briefwechsel mit Spranger — ist ein beeindruckendes Zeugnis eines Mannes, der über die intellektuelle Schärfe und die charakterliche Stärke verfügte, dem Zeitgeist nicht zu erliegen. Dies ist gerade für das Jahr 1940 hervorzuheben; denn wir wissen ja alle: nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, und es ist alles andere als einfach, in einer solchen Situation sozusagen als Spielverderber aufzutreten.

Schwierigkeiten habe ich an der Stelle mit dem Vortrag, wenn Litt die historische und die moralische Beurteilungsweise einander unterscheidend gegenüberstellt, ihnen jeweils unterschiedliche Bewertungskriterien und Akzentsetzungen zuteilend.

Diese Unterscheidung hat m. E. tendenziell durchaus ihre Gültigkeit —sie schützt vor das Handeln lähmendem moralischen Rigorismus —, birgt
aber auch Gefahren. Ich will meine Bedenken als Fragen formulieren: Was heißt „geschichtliche Größe”? Muß die „sittlich-religiöse”, die ethische Perspektive nicht doch stärker als Grundlage auch der historischen gefordert werden? Kann man von geschichtlicher Größe sprechen, wenn ihre Genesis gegen ethische Prinzipien verstößt? — Wie das pädagogische Handeln einen Irrgang des politischen nicht auszugleichen vermag, so erscheint es m. E. auch nicht ausreichend — wenngleich nichtsdestotrotz als ein Schlag ins Gesicht der nationalsozialistischen Ideologie — der sittlich-religiösen Sphäre die alleinige Verantwortung für die Achtung des „menschlichen Werts jeder Einzelseele” zuzuschreiben.

  1. Litts Vortragsverbot

Am 6. November 1941 hielt Litt seinen — bereits einmal 1936 gehaltenen, inzwischen allerdings um die Auseinandersetzung mit Gehlens Anthropologie ergänzten — Vortrag „Die Krisis des Geistes” in Dresden. Er fand damit sehr viel Anklang, wie aus einem Brief Litts an Spranger vom 22. November 1941 hervorgeht: „es klappte alles ausgezeichnet: Saal so gut wie ausverkauft, überaus freundlicher Empfang, zum Schluß ‚nichtenden-wollender’ Beifall, Gratulation des örtlichen Leiters der Reichsschrifttums-kammer an Herrn Scharnhorst [Inhaber der Georg Tamme Buchhandlung in Dresden, von dem wohl die Einladung ausgegangen war; E. M.], sehr gute Presse”. Mit letzterem bezieht sich Litt auf einen Bericht in den „Dresdner Nachrichten” (S. 4) und einen Bericht in „Der Freiheitskampf” vom 8. November 1941, in denen jeweils die kräftige Zustimmung zu den Ausführungen Litts betont wird. In dem kurzen Bericht von Hermann Werner Finke im „Freiheitskampf’ heißt es: „Die mit tiefer Überzeugungskraft entwickelten Gedanken des scharfsinnigen Denkers fanden starken Widerhall eines ungewöhnlich großen Zuhörerkreises” (S. 4). In seinem —in vieler Hinsicht sehr aufschlußreichen — Interview mit dem Historiker Helmut Heiber aus dem Jahre 196012 spricht Litt rückblickend von etwa 800 Zuhörern (S. 23).

Einigen „offiziellen” Zuhörern scheint der Vortrag jedoch sehr mißfallen zu haben. Sie bemühten sich in ihrer Reaktion auf jenen erfolgreich darum, ein Redeverbot Litts für Sachsen durchzusetzen. Dieses bekam Litt erstmals zu spüren, als die öffentliche Sitzung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, die am 22. November 1941 stattfinden soll und auf der Litt einen Vortrag „Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen” halten wollte, auf unbestimmte Zeit — wie es in der Benachrichtigung heißt — „verschoben” wurde. Der Vizepräsident Brandenburg hat Litt über die Anweisung von oben informiert. Wir wissen darüber aus dem bereits erwähnten Brief Litts an Spranger vom 22. November 1941, in dem jener auch berichtet, daß auf abermalige Anfrage Brandenburgs diesem mitgeteilt worden sei, daß gegen Litt bei der Partei ein Verfahren schwebe, in dem festgestellt werden solle, ob Litt jede Vortragstätigkeit zu untersagen sei. Litt machte seine Position in bezug auf die Akademie in einem Brief vom 18. November 1941 an Brandenburg klar: entweder er sei ordentliches Mitglied der Akademie, dann müsse er auch Rederecht haben, oder er scheide aus der Akademie aus, weil er nicht bereit sei, Mitglied zweiter Klasse zu sein.

Am 19. Dezember 1941 wurde Litt von der Gestapo Leipzig fernmündlich das von der Gestapo Dresden auf der Grundlage des § 1 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat” über ihn verhängte Redeverbot für Sachsen mitgeteilt. Als Grund wurde die im Dresdner Vortrag („Die Krisis des Geistes”) gezeigte „Tendenz” genannt.

An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, das — im Nachlaß vorhandene —Vortragsmanuskript in seinem Aufbau und seinen wichtigsten Aussagen vorzustellen. Der Vortrag behandelt Fragen der philosophischen Anthropologie, die Litt — wie auch viele andere Wissenschaftler — in den 30er Jahren sehr stark beschäftigt haben. Sein anthropologisches Hauptwerk „Mensch und Welt” hatte Litt als Manuskript im Jahre 1939 abgeschlossen, jedoch nicht veröffentlichen können — publiziert wurde es erst in überarbeiteter Form im Jahr 1948. In seinem Vortrag „Die Krisis des Geistes” versuchte er seine Anthropologieu in „populärer” Form seinen Zuhörern nahezubringen.

Litt beginnt seinen Vortrag mit der Diagnose, daß die Anthropologie, die den Menschen als Geistwesen verstehe, auf die Anklagebank gesetzt worden sei. Die kritische Perspektive richte sich zum einen auf die „Autonomie” des Geistes, zum zweiten auf den Wert dessen, was der Geist sei und hervorbringe.

Litt unterscheidet zwei große Gruppen der Opposition gegen den Geist, die er nochmals in Einzelrichtungen unterteilt. Zunächst beschäftigt er sich mit der „innerweltlich-diesseitigen Opposition”. Eine ihrer zentralen Thesen sei, daß der Geist, ohne es zu wissen und zu wollen, gelenkt werde durch außer- oder untergeistige Mächte, denen er Vorspanndienste leiste. Als Richtungen unterscheidet er hierbei die marxistische Kultur- und Geschichtstheorie, die die Leitkräfte in der großen Gesamtbewegung des ökonomischen Prozesses sehe, und die Psychoanalyse, die den vitalen Drang als Ursprung des Geistes begreife und den Geist als „sublimierte libido” verstehe. Beide Richtungen hätten gemeinsam, daß sie dem Geist die “Autonomie” absprächen.

Ebenfalls zur innerweltlich-diesseitigen Opposition rechnet Litt die Theorie von Ludwig Klages, in der der Geist zwar als selbständig begriffen, aber zum Gegenspieler des schöpferisch-fruchtbaren Lebens erklärt werde, sowie die „rassentheoretisch begründete Kulturauffassung”. Letztere treffe die Unterscheidung zwischen einem lebensverbundenen, blutgebundenen Geist und einem „entarteten” Geist. Damit werde der Geist nicht rehabilitiert, denn er werde nur dann als schöpferisch definiert, wenn er abhängig-empfangend sei.

Als zweite große Gruppe nennt Litt die Opposition gegen den Geist aus religiös-transzendenten Glaubensüberzeugungen. Er unterscheidet hier die Theologie Karl Barths, die die Emanzipation des autonomen Geistes als Hybris ansehe, und die „Existenzphilosophie”, die die Grenzsetzungen für die Selbstherrlichkeit des Geistes betone.

Nach diesem Überblick über die Gegenströmungen zieht Litt das Fazit: „Zweifelnde Verzweiflung am Geist ist tiefste Bedrohung unserer Existenz”.

Es sei also eine gründliche Auseinandersetzung mit den Geistgegnern nötig, die er im folgenden — in sieben Gedankenschritten — zu leisten versuche:

  1. Die moderne Welt sei eine im Höchstmaß „durchgeistigte”, d. h. vom Geist aufgebaute, regulierte und geistiger Direktiven bedürftige Welt.
  2. Die ‚ursprüngliche’ Seelenverfassung des noch nicht zur Kulturhöhe aufgestiegenen Menschen werde ganz falsch gesehen, wenn man sie als rein natürlich-instinkthaftes Dasein auffasse. Niemals lasse sich der Geist so, wie der Evolutionismus es versuche, aus naturhaften Faktoren ableiten, weder phylogenetisch noch ontogenetisch. Die Entwicklung gehe vom eingehüllten, schlummernden Geist zu einem immer reicher und vielseitiger sich entfaltenden Geist. Als deutliche Spitze gegen die nationalsozialistische Ideologie fügt er hinzu: „Es gibt keinen Geist, der nicht mehr wäre als sich offenbarende oder auch sich wiederfindende Natur (,Blut`).” Es bleibe immer eine Spannung bestehen zwischen Geist und „Leben”.
  3. Der moderne Mensch scheine der Maßlosigkeit seines Geistes zum Opfer zu fallen. Die Gegenwart zeige Schatten, die ganz und gar von geist-gewirkter Art seien. Aber, so fragt Litt, handelt es sich hier um eine lediglich den modernen Geist treffende Feststellung? Sehr aktuell sei das Beschwören des nicht-emanzipierten Geistes einer angeblich heilen rassisch gebundenen Frühzeit. Litt hält dem entgegen: „Immer war das spezifisch menschliche und das ist das geistige Dasein, Entzweiung, Grenzüberschreitung, Verirrung, selbstgeschaffene Not, Selbstvernichtung.” Als Begründung führt er an: „Die stete innere Bedrohtheit, die dämonische Ausgesetztheit des Geistes beruht darauf, daß der Träger des Geistes, der Mensch, das einzige Wesen ist, das die Natur in Freiheit gesetzt und sich selbst überlassen hat”. Deshalb sei die Krisis des Geistes ewig. Diejenigen kritischen Stimmen, die „diese permanente Krisenhaftigkeit des Geistes im Gegensatz zu dem ihn verharmlosenden Optimismus zur Geltung bringen” wollten, hätten also durchaus ihre Berechtigung.
  4. Sei also Krisenhaftigkeit ein Argument wider den Geist, dann sei nicht nur der Geist der Gegenwart, dann sei jeder Geist gerichtet. Man müsse nochmals genauer fragen, was die Ursache für die Krisenhaftigkeit des Geistes sei. Litt betont nochmals, daß sie in seiner Freiheit begründet sei, die die Ambivalenz des menschlichen Geistes bewirke. „Die Freiheit würde nicht Freiheit zum Positiven sein, wenn sie nicht zugleich auch Freiheit zum Negativen wäre.” Der Mensch habe die Wahl, er stehe vor der Entscheidung, er sei zum schöpferischen Handeln herausgefordert. Der Mensch müsse „die Gewißheit haben: es kommt auf dich an, in dir konzentriert sich die Welt, sie führt dich nicht! … Von deiner Entscheidung hängt alles ab, auf deine Seele ist die Verantwortung gelegt”, die dir „keine überlegene Macht” abnimmt.
    Die Brisanz und der Anspruch dieser Äußerungen wird einem ganz besonders deutlich, wenn man im Argumentationsgang Litts kurz innehält und sie etwa auf die Situation der deutschen Soldaten im zweiten Weltkrieg — bzw. von Soldaten im Krieg generell — bezieht. Berufung auf „höhere Befehle” erkennt die von Litt vertretene Anthropologie als Entschuldigungsargument für Unrechtstaten nicht an.
    Doch zurück zum Littschen Text: Nachdem er darüber gehandelt hat, daß Negatives und Positives zusammengehörten, weil sie nur so als solches sichtbar würden, spricht Litt darüber, daß sie durch viele Zwischenstufen und Übergänge miteinander verknüpft seien. Negatives hänge sich häufig den Mantel des Positiven um — Litt spricht in diesem Zusammenhang von „dämonischen Verkleidungskünsten”, „Falschmünzerei” — und Positives werde zu Negativem erklärt. Wie sehr Litt mit diesen Äußerungen auf den Nationalsozialismus zielt, zeigen seine an dieser Stelle hinzugefügten Äußerungen, als er den Vortrag „Die Krisis des Geistes” erneut 1949 in Berlin hielt. Zwei Sätze aus diesen Hinzufügungen will ich zitieren: „Es war dem dritten Reich vorbehalten, diese Verkleidungskünste, die es immer gegeben hat, planmäßig in den Dienst des Machtwillens zu stellen. Es wußte auch seine verruchtesten Handlungen mit dem Schein der Vortrefflichkeit zu umkleiden.”
  5. Der Geist sei mehr, er sei anderes als der Überbau, die Spiegelung, die Erscheinungsform, die Ausströmung eines an sich untergeistigen, naturhaften Seins. Es herrsche allerdings auch kein mechanisch trennender Dualismus zwischen organischem Dasein und Geist. „Die Freiheit des Geistes besteht darin, daß das leiblich-seelische Dasein in seiner Totalität der Erfüllung der Sinnintentionen dient … So ist zwar der Geist die Herrschaft über die Totalität des organischen Prozesses; aber diese Herrschaft ist nicht Erhebung in einen von Gefahren und Nöten freien Ijimmel, sondern Eintritt in die Zone höchster Spannung und Gefährdung. Als solche bewährt sie sich u. a. darin, daß sie rückwirkend auch den Leib in seinem organischen Sein gefährden kann, bis zum Extrem der Vernichtung als gewollter” — womit Litt wieder bei der Zeitsituation angekommen war.
  6. In seinem sechsten Gedankenschritt setzt sich Litt mit der Anthropologie Arnold Gehlens kritisch auseinander — 1940 war Gehlens Werk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt” erschienen —und betont die „übervitale” Herkunft und Macht des Geistes. Besonders prägnant hat Litt seine diesbezügliche Position in seinem Buch „Mensch und Welt” formuliert: „Entweder der Geist ist er selbst, aus sich selbst und durch sich selbst oder — er ist überhaupt nicht.” 14 In seinem Vortrag betont Litt weiterhin, daß der Geist auch, aber nicht nur Diener des Lebens sei. Als erneut — wie in früheren Vorträgen und Veröffentlichungen is — gegen die nationalsozialistischen Instrumentalisierungen gerichtetes Beispiel dient ihm die Unverzichtbarkeit des Erkennens, des wissenschaftlichen Forschens in seiner „vital gelösten Selbstzwecklichkeit”.
  7. In seinem letzten Gedankenschritt stellt Litt die Frage, ob die Bejahung des Geistes um seines Schöpfertums willen nicht Ausdruck jener Überhebung, Selbstanbetung, Selbstvergottung sei, die der christliche Glaube dem geistesstolzen Menschen zur Last lege. Die Frage sei dann guten Gewissens zu verneinen, wenn mit dem Bekenntnis zum Menschen als Geistwesen das Wissen um die Ambivalenz, um das Negative im Sein des Geistes einhergehe und ein blinder Fortschrittsoptimismus als Überzeugung einer fortschreitend sich durchsetzenden Vernunft abgelehnt werde. An dieser Stelle bekennt Litt seine Nähe zu den Grundwahrheiten der christlichen Anthropologie — man denke in diesem Zusammenhang auch an den bereits vorgestellten Vortrag „Der Sinn der Geschichte im Licht des christlichen Bewußtseins” — und betont nochmals die ewige Zweideutigkeit alles Menschlichen.

Er schließt seinen Vortrag, indem er den Geist als den Inbegriff dessen bezeichnet, „was Wert und Würde des Menschen ausmacht”. Er ruft zu Selbstbesinnung und Erwachen, Umkehr und Einkehr auf. Der genaue Wortlaut ist uns nicht überliefert — Litt hat ja nie von seinem Vortragsmanuskript abgelesen, dieses jedoch wohl weitgehend im Kopf gehabt —, interessant ist in diesem Zusammenhang jedenfalls der letzte Satz in der Besprechung des Vortrags in den „Dresdner Nachrichten” (Rezensent: Dr.Felix Zimmermann). Jener lautet: „Die Schlußwendung des ausgezeichneten Redners fand kräftige Zustimmung.”

Den Text bewertend könnte man zunächst sagen, daß uns explizitere Auseinandersetzungen Litts mit dem Nationalsozialismus vorliegen — man denke etwa nur an Litts 1938 erschienene, aus einem am 15. und 16. Oktober 1936 in Köln vor christlicher Zuhörerschaft gehaltenen Vortrag hervorgegangene Schrift „Der deutsche Geist und das Christentum”. Ich bin allerdings der Auffassung, daß die Gestapo-Leute Litt schon richtig —oder sollte ich sagen: außergewöhnlich gut — verstanden haben: er hat in dem Vortrag die wesentlichen Gedanken seiner philosophischen Anthropologie vor den Zuhörern ausgebreitet, die den Überzeugungen der Nationalsozialisten diametral gegenüberstand: der Mensch als Geistwesen, dem als solchem Wert und Würde zukommt — nicht etwa wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Rasse” — , der als freies Wesen zur Entscheidung aufgerufen und verantwortlich für sein Tun ist, der gefordert ist, den Ideen der — wie es im Text heißt — „Wahrheit”, „Schönheit”, „humanen Ordnung”, „Gerechtigkeit”, „segensvollen Machtausübung”, „Liebe und Herzensgüte” durch sein Handeln zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings auch ständig in Gefahr steht, der Hybris zu verfallen, der sich leicht täuschen läßt, dessen Wesensmerkmal die Zweideutigkeit, die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist.

Selbstverständlich hat Litt recht, wenn er in seinem Brief an die Geheime Staatspolizei Dresden vom 19. Dezember 1941, in dem er Aufklärung darüber fordert, „welche Ausführungen des genannten Vortrags eine Tendenz verrieten, durch welche die ,Sicherheit von Volk und Staat’ … bedroht wurde”, betont, daß er „in diesem Vortrage einzig und allein dem Streben gefolgt” sei, „dem deutschen Volke und seinem Staat … zu dienen”. Nur hielt Litt eben ganz andere Dinge für das deutsche Volk und seinen Staat dienlich als die Nationalsozialisten. Insofern war das Handeln der Gestapo-Leute durchaus konsequent.

Von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erwartete Litt — wie bereits oben angedeutet — ein entschiedenes Eintreten für seine Redefreiheit. Da seinem am 3. Februar an Brandenburg gerichteten Antrag nicht stattgegeben wurde, die Angelegenheit dem Plenum der Akademie vorzulegen, woran er sah, daß die Akademie nicht für seine Rechte zu kämpfen bereit war, erklärte er am 11. Mai 1942 seinen Austritt aus derselben.

Der sich wiederum anthropologischen Fragestellungen widmende Vortrag „Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen” blieb ungehalten, wurde von Litt aber in der Festschrift für Eduard Spran-ger zu dessen 60. Geburtstag im Jahre 1942 veröffentlichte; als eigenständige Broschüre erneut 1948.

Litts Stimme war also auch in den Kriegsjahren nicht völlig verstummt, die tiefe Resignation und Niedergeschlagenheit Litts spiegelt allerdings sein Briefwechsel aus diesen Jahren wider.

  1. Litts Stimmungslage in den letzten Kriegsjahren

Nach dem Ausbleiben des von vielen erwarteten Blitzsieges über die Sowjetunion, der deutschen Kriegserklärung an die USA (11. Dezember) und erfolgter Kriegspostenverteilung — so war etwa Rosenberg im Juli 1941 zum “Reichsminister für die besetzten Ostgebiete” ernannt worden —schreibt Litt am 27. Dezember 1941 an seinen ersten Leipziger Assistenten, Walter Wetzel, mit dem er die gesamte NS-Zeit über in Kontakt stand: “Das Geschmeiß der Verderber hat alle entscheidenden Posten besetzt, und ohne eine ganz schwere Katastrophe werden wir sie nicht loswerden. Aber die wird, wie ich glaube, nicht ausbleiben, vielleicht erst nach langen Leiden und Opfern. Anders kann ich die Entwicklung nicht sehen. Die militärisch-politischen Einzelheiten vermag ich nicht abzuschätzen. Aber das Trümmerfeld, auf dem wir zum Schluß stehen werden, das kann ich mir vorstellen.”

Am 20. Januar 1942 fand die Wannsee-Konferenz in Berlin statt, auf der Parteifunktionäre und Ministerialbeamte unter Heydrichs Leitung Maßnahmen zur „Endlösung der Judenfrage” koordinierten. Litt, der den Antisemitismus zutiefst ablehnte, schrieb am 31. Januar 1942 an seine Frau, die sich auf Erholung befand: „Jetzt ist hier in Leipzig der Abtransport der Juden im Gang. Es sollen 7-800 sein… Ja, das ist wirklich Inferno. Und ich kann diejenigen nur verachten, die es nicht als solches empfinden.”

Durch seine eingezogenen Söhne und durch eingezogene Bekannte erfuhr Litt wohl einiges über die Situation im Osten. Jedenfalls läßt das ein Brief vom 5. August 1942 an Walter Wetzel vermuten: „Ich kann Ihre Betrachtungen über äußeren und inneren Druck nur allzubereit mitmachen. Es gibt Zeiten, wo ich überhaupt nicht mehr meine atmen zu können. Die Berichte über das, was tagtäglich im Osten geschieht, sind einfach entsetzenerregend.”

Ein weiteres bezeichnendes Schlaglicht auf die Einstellung und Stimmungslage Litts wirft seine Bewertung der 1942 erschienenen Tagebücher Ernst Jüngers, die den Titel tragen „Gärten und Straßen” und von seinen Erlebnissen während des Frankreichfeldzuges berichten. Litts ehemaliger Assistent Hermann von Braunbehrens hat ihn wohl auf Jüngers Veröffentlichung aufmerksam gemacht und diese positiv bewertet. Als Hintergrund ist anzuführen, daß Jünger 1939 seinen Roman „Auf den Marmorklippen” publiziert hatte, den viele als Parabel für die nationalsozialistische Schreckensherrschaft lasen. Der Roman wurde von nationalsozialistischer Seite heftig angegriffen, manchen systemkritisch eingestellten Deutschen galt Jünger seit diesem Zeitpunkt als einer der ihren. Litt teilt von Braunbehrens Einschätzung der Jüngerschen Tagebücher nur zum Teil, wie aus einem Brief an ihn vom 22. Oktober 1942 hervorgeht: „Den neuen Jünger habe auch ich mit lebhafter Teilnahme und mit den gleichen Empfindungen gelesen. Immer wieder fällt es mir allerdings auf, wie er zeitweilig in die eigentümlich-artistische Haltung gegenüber menschlichen Schicksalen zurückfällt” — mit »Zurückfallen” spielt Litt wohl auf Jüngers 1920 erschienenes Tagebuch aus dem ersten Weltkrieg, ,In Stahlgewittern”, an. Er fährt fort: „Heutzutage, inmitten von so viel unsäglichen Greueln, verlangt man nach einer völlig eindeutigen Entscheidung für das bedrohte Menschentum.” Es waren wohl Stellen in Jüngers 1942 publizierten Tagebüchern wie die folgenden, die Litts Mißfallen erregten: „Wir warfen uns nieder; ich fühlte die Beine des Toten neben meinem Kopfe, während ich unter dem Drahtverhau in einer flachen Mulde lag, wie Hühner sie ausscharren. Ich spürte den Schlag, mit dem ein neuer Treffer ihm den rechten Arm zerbrach. Sie hielten uns unter Feuer, während die hochgestäubte Erde uns in die Haare rieselte und sich ein Dunst von funkelndem Metall verbreitete.” An dieser Stelle möchte ich vorgreifend noch darauf hinweisen, daß Litt nach 1945 eine noch kritischere Haltung Jünger gegenüber einnahm. In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1955 erklärte er ihn wegen seiner Betonung von Härte und Stärke und seiner Absage an Rücksichtnahme und Schonung zu einem der geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Daran ändere auch nichts, daß Jünger „von vornherein und auf die Dauer jede Gemeinschaft mit dem Nationalsozialismus von sich gewiesen” habe.

Doch zurück zum Geschehen in den 40er Jahren: In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 erlebte Litt „die Katastrophe Leipzigs” mit, als der Kern der Stadt durch Bombenangriffe der Alliierten zerstört wurde. In einem Brief vom 13. Dezember 1943 berichtet er Herman Nohl davon: „Ich habe in der Nacht der Vernichtung auf dem hochgelegenen Dach unseres Hauses [in der Beethovenstr. 31, E. M.] gestanden, um etwaige Schäden durch nachbarlichen Funkenflug zu beobachten: es war eine echte Götterdämmehing, die sich vor meinen Augen abspielte — ein Vorgang von tief symbolischer Bedeutung.” In einem Brief vom 1. Januar 1944 an Hermann von Braunbehrens überträgt er seinen Gedanken von der symbolischen Bedeutung des Geschehenen auf das ebenfalls in jener Nacht erfolgte Ausbrennen der Leipziger Universität und spricht von einem „sichtbaren Siegel auf eine Zerstörung, die im Inneren längst im Gange war!” Also keine Schuldzuweisungen und Rachegelüste gegenüber den alliierten Gegnern finden sich bei Litt, sondern eine klare Einsicht in das Verhältnis von Ursachen und Folgen. Mit völligem Unverständnis reagierte Litt darauf, daß die nationalsozialistische Propaganda mit ihrer Anpreisung der V1- und der V2-„Wunderwaffen” noch Ende 1944/Anfang 1945 bei einzelnen — oder waren es viele? — neue Siegeshoffnungen auszulösen verstand: „Wenn ich sehe, wie die Ruchlosigkeit der Führenden und die Hirnverbranntheit der Geführten sich vereinigen, damit nur ja die Vernichtung so sorgfältig ausfällt wie nur möglich, dann packt mich die Verzweiflung. Heute brachte uns die Post zwei Äußerungen fortdauernder ‚Hoffnung’ auf das Wunder.” Wiederum zeigte Litt vor diesem Hintergrund Verständnis für die Haltung der Alliierten: „Es ist wirklich berechtigt, wenn die Gegner sagen, daß ein Volk, in dem ein so gemeingefährlicher Wahnwitz nicht nur entstehen, sondern auch sich so lange behaupten kann, an die Kette gelegt werden muß.” (Brief an Walter Wetzel vom 27. Februar 1945). Nur noch bittere Ironie hatte Litt übrig, nachdem am 2. April 1945 die Existenz einer nationalsozialistischen Partisanenorganisation namens „Werwolf’ bekanntgegeben wurde, die in einem militärisch besiegten Deutschland bis zum „Endsieg” weiterkämpfen sollte. In einem Brief an seinen Sohn Alfred vom 4. April 1945 schreibt er hierzu: „Ich bereite mich zu angemessener Betätigung im Werwolf vor. Es hat etwas unendlich Wohltuendes, zu sehen, wie unsere Führenden immer den rechten Entschluß zu fassen und das rechte Wort zu finden wissen. Welches Glück, daß wir jetzt von allen veralteten Rücksichten bürgerlicher Kriegsführung freigesprochen sind! Wetzen wir die Messer!”

  1. Fazit

— Litt hat mit den Mitteln, die er als für einen Hochschullehrer angemessen ansah — dies waren Vorträge und Publikationen — gegen das nationalsozialistische Regime opponiert.

— Litt führte einen Kampf gegen Ideen, die ihm verhängnisvoll erschienen; er wollte falsches Denken, geistige Irrtümer entlarven. Diesen Kampf wird derjenige gering achten, der der Überzeugung ist, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt; Litt hingegen war von der Wirkungs- und Steuerungskraft von Ideen und weltanschaulichen Positionen überzeugt und hoffte somit, mit seinen Vorträgen und Veröffentlichungen antinationalsozialistische Gesinnungen zu erzeugen. Den Kernpunkt stellten hierbei seine Bemühungen dar, dem nationalsozialistischen ein auf christlich-europäischen Traditionen basierendes Menschenbild entgegenzustellen.

— Litt bewies während der NS-Zeit — gerade im Vergleich mit vielen „Gebildeten” — eine außergewöhnliche Charakterstärke. Dies zeigte sich in seinem Verhalten gegenüber Kollegen jüdischer Abstammung und generell in seiner Verweigerung von willfährigem Gehorsam.
— Die Auseinandersetzung mit Litt und dem Nationalsozialismus weist also über jene hinaus. Das Beispiel — vielleicht sollte man besser sagen: die Ausnahme Litt — ist augenöffnend vor allem in zweifacher Hinsicht:

a) Litt war von nationaler Grundeinstellung ein scharfer Kritiker des Ver-
sailler Vertrags, kein Anhänger eines „Volksstaates” — wie er die Demokratie in den 20er Jahren zu nennen pflegte — als einzig legitime Staatsform, ein Gegner der Linksparteien und mit dem Erscheinungsbild der Weimarer Republik äußerst unzufrieden23. Trotzdem ist er von Anfang an nicht auf die Nationalsozialisten und ihre nationalen Lockungen hereingefallen, ihren Täuschungen nicht erlegen — es gab eben keine aus einer bestimmten politischen Einstellung resultierende Zwangsläufigkeit, auf die sich manche nach 1945 zu ihrer Entlastung so gerne beriefen.

Diktaturen profitieren von einem vorauseilenden Gehorsam, anders formuliert: die Handlungsoptionen waren — zumindest in den Anfangsjahren — größer als um Entlastung bemühte Theorien wahrhaben wollen. Litt war ein starker Charakter — dies wird man, wenn man nicht zu hart in seinem Urteil werden will, nicht bei jedem Menschen voraussetzen dürfen; es stellt sich allerdings die Frage, wie man über Erziehung Charakterstärke und Zivilcourage unterstützen kann — ich formuliere bewußt vorsichtig, denn zur Verhinderung von Diktaturen allein oder auch vorrangig auf Erziehung zu bauen, wäre der falsche Weg. Dies wußte auch Litt nach seiner Diktaturerfahrung sehr genau — doch davon mehr im nachfolgenden Beitrag.

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Theodor-Litt-Jahrbuch
1999/1
Leipziger Universitätsverlag 1999