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Bleibende Bedeutung und Grenzen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik am Beispiel Theodor Litt40 min read

Theodor-Litt-Jahrbuch 1999/1
Leipziger Universitätsverlag 1999

WOLFGANG KLAFKI
Bleibende Bedeutung und Grenzen
der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik
am Beispiel Theodor Litt

I. Einleitung

Mein Vortrag ist nicht direkt und durchgehend auf das Zentralthema dieser Tagung, die Frage nach Litts Stellung zum Nationalsozialismus und seiner Auseinandersetzung mit ihm bezogen. Aber er mündet mehrfach in diese Fragestellung aus oder ein. Denn Litt ist unter den Vertretern Geisteswissenschaftlicher Pädagogik derjenige gewesen, der vor 1933 und danach in beispielhafter Klarheit und Offenheit bekundet hat, daß sein philosophisches und pädagogisches Denken und sein damit zusammenhängendes Politikverständnis unvereinbar mit grundlegenden Elementen nationalsozialistischer Weltanschauung war, und er ist in dieser Hinsicht zu keinem Zeitpunkt — in deutlichem, von Litt allerdings nie betonten Unterschied zu anderen Vertretern der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik — sei es verharmlosenden Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus aufgesessen, sei es zu taktischen Kompromissen bereit gewesen. Die Schwerpunkte meines Vortrages habe ich unter folgender Fragestellung ausgewählt: In welchen Dimensionen hat Litt — nach meiner Einschätzung, die ich hier zur Diskussion stelle, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit — originale Beiträge zur Entwicklung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik geleistet?
Ich erinnere in aller Kürze: Mit dem Begriff „Geisteswissenschaftliche Pädagogik” bezeichnet man jene Richtung in der deutschen Erziehungswissenschaft, die sich — in Anknüpfung an Wilhelm Diltheys Konzeption der historisch-systematischen Geisteswissenschaften und in ihrem Rahmen seiner noch sehr fragmentarischen Ansätze zu einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik — vor allem nach dem Ende des ersten Weltkrieges bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten und dann, z. T. mit neuen Akzenten, in den etwa anderthalb Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des NS-Systems entwickelte. Als die Begründer und namhaftesten Repräsentanten der ersten Generation der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik werden meistens Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Erich Weniger genannt.
Im folgenden werde ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vier Problemdimensionen der Pädagogik Litts darstellen. Es kann sich in meinem Referat also nicht um den Versuch einer Gesamtdarstellung seiner Pädagogik handeln.
Die ersten beiden Dimensionen, die ich ansprechen möchte, hat Litt bereits in den frühen 20er Jahren systematisch entfaltet und später zwar durch einige neue Aspekte ergänzt, ohne jedoch auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode an diesen Theoriestücken substantielle Veränderungen vorzunehmen.
Die erste Dimension bezeichne ich als Frage nach der „wissenschaftstheoretischen Bestimmung des pädagogischen Denkens”, die zweite als Frage nach der „Grundstruktur des pädagogischen Auftrages und des Erziehungs- bzw. Bildungsprozesses”.
Anders verhält es sich bei den beiden weiteren Hauptdimensionen: Das Thema des dritten Hauptabschnitts lautet: „Von der staatsbürgerlichen Erziehung der Weimarer Zeit zur demokratisch-politischen Erziehung nach 1945″. Diese Titelfassung signalisiert: Erstens geht es hier um ein weiteres Grundproblem der Pädagogik Litts, das ihn von seinen Anfängen als Pädagoge bis zu seinem Lebensende beschäftigt, man darf fast sagen: umgetrieben hat, so aber, daß die Erfahrungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems ihn in dieser Dimension zu einem substantiell bedeutsamen Wandel seiner Auffassungen bewogen haben.
Schließlich zum vierten Hauptabschnitt. Er trägt den Titel: „Die Bildungsaufgabe angesichts der modernen, naturwissenschaftlich-technisch bestimmten Produktions- und Arbeitswelt”. Damit hebe ich eine Dimension der Pädagogik Litts heraus, deren pädagogische Bedeutung ihm erst nach dem Zweiten Weltkrieg bewußt geworden ist. In der Konsequenz dieser neuen Positionsbestimmung des im 8. Lebensjahrzehnt stehenden Philosophen und Pädagogen zeichnet sich nun aber — über die Dimension naturwissenschaftlich-technischer Bildung hinaus — eine substantiell bedeutsame Veränderung des Litt’schen Bildungsbegriffs im ganzen ab.

  1. Zur wissenschaftstheoretischen Bestimmung pädagogischen Denkens

Schon in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit als theoretischer Pädag — nach 14-jähriger Tätigkeit als Gymnasiallehrer — entwickelte Litt ei wissenschaftstheoretischen Argumentationszusammenhang über die Eig art pädagogischen Denkens — von ihren unmittelbar in die Erziehun praxis verwobenen Ausgangsformen bis zur Stufe wissenschaftlich refltierender Pädagogik —, der für die Geisteswissenschaftliche Pädago, grundlegende Bedeutung gewinnen sollte: Ich meine die 1921 in den Ka Studien veröffentlichte Abhandlung „Die Methodik des pädagogischen Denkens”. Sie ist seit 1931, geringfügig überarbeitet, im Anhang von Litts Buch „Führen oder Wachsenlassen” wieder publiziert worden, einem 1967 mehrfach wieder aufgelegten Buch. Der Titel der Abhandlung laut seither: „Das Wesen des pädagogischen Denkens”.
Dieser Text Litts ist zugleich ein prägnantes Beispiel für die zentra Grundform seines philosophischen und pädagogischen Denkens und Arg mentierens, genauer: für eine von mehreren Ausprägungsformen sein dialektischen Denk- und Argumentationsstils, der fast alle seiner zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträge kennzeichnet: Die eigenen, system tischen Aussagen zum jeweiligen Thema werden nicht direkt entwickel sondern so, daß Litt schrittweise vorliegende, einander widersprechend Lösungsversuche des jeweils behandelten Problems — hier: der Bestirr mung der Eigenart pädagogischen Denkens — prüft, ihre jeweiligen Gren zen und ihre Wahrheitsmomente herausarbeitet und so schrittweise di eigene Argumentation aufbaut. Der systematische Gehalt kann jeweils nu angemessen erfaßt werden, wenn man ihn als “Aufhebung” des ganze Gedankenganges begreift. Das bedeutet: als das Außer-Kraft-Setzen ein seitiger Positionen und zugleich die „Aufbewahrung”, die „Aufhebung der begrenzten Wahrheitsmomente jener einseitigen Positionen in einer übergreifenden Gesamtzusammenhang.
Die Abhandlung „Das Wesen des pädagogischen Denkens” durchläul im wesentlichen vier Argumentationsschritte, die ich hier allerdings nur
sehr knapp kennzeichnen kann. Diese Argumentationsschritte beziehen sich auf unterschiedliche Positionen, die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in der pädagogischen Diskussion von eher theoretisch arbeitenden Pädagogen oder aber von Praktikern — unter anderem auch reformpädagogisch orientierten Praktikern — mehr oder minder klar formuliert vertreten worden sind.
Zunächst erörtert Litt die Auffassung, erzieherisches Denken und Handeln seien im Kern irrationale, aus der Intuition entspringende Akte. Sie ließen sich durch Wissenschaft nicht oder kaum beeinflussen oder gar normieren. Erziehung sei eine „Kunst”, Erziehungswissenschaft, wenn überhaupt, so nur nach Analogie von beschreibenden und interpretierenden Kunstwissenschaften möglich.
Litt zeigt nun, daß der Erzieher bzw. die Erzieherin — im folgenden werde ich meistens nur die männliche Form verwenden, meine dabei aber immer beide Geschlechter —, daß also der Erzieher in seinem Verhältnis zum Zu-Erziehenden ungleich weniger Gestaltungsfreiheit besitzt als der Künstler seinem „Material” gegenüber. Gerade deshalb aber benötigt der Erzieher weitaus mehr Theorie als der Künstler, und er benötigt einen anderen Typus von Theorie als der Künstler.
In diametralem Gegensatz zur Kunstanalogie steht nun der Versuch —und damit komme ich zum zweiten Argumentationsschritt Litts —, das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Erziehung nach Art von Technologien im Hinblick auf den Bereich der anorganischen Wirklichkeit zu deuten. Erziehung müsse als eine Art Technik verstanden werden und Erziehungswissenschaft in Analogie zu Technologien als sogen. „angewandten”, besser wäre: anwendenden Wissenschaften. — Aber auch dieser Deutungsversuch scheitert nach Litt oder führt, wo er tatsächlich durchgeführt wird, zu höchst problematischen Folgen. Weshalb? Jeder Technik im strengen Sinne des Wortes liegt folgender Strukturzusammenhang zugrunde: Technik stützt sich als ausführende Tätigkeit auf eine theoretische Technologie, z. B. die Technologie des Maschinenbaus. Solche Technologien übersetzen, durchaus in kreativer Weise, Erkenntnisse bestimmter naturwissenschaftlicher Grundlagendisziplinen, z. B. physikalische Gesetzmäßigkeiten, im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen, z. B. in der Absicht, quantitative Steigerungen oder qualitative Verbesserungen bei der Produktion technischer Produkte zu erreichen. M. a. W.: Naturwissenschaftlich ermittelte Gesetzmäßigkeiten werden in Zweck-Mittel-Relationen übersetzt.
Litts Gegenargument lautet: Das Handeln des Erziehers kann nicht bzw. darf nicht als technisches Umgehen mit einem beliebig zerlegbaren und einsetzbaren „Material” interpretiert werden, einem „Material”, das si selbst keine eigenen „Zwecke” bzw. Ziele zu setzen vermag und das bloß Mittel zu fremdgesetzten Zwecken ist. Dementsprechend kann wisse schaftliche Pädagogik nicht als „Technologie” im vorher skizzierten Sinn interpretiert werden.
Ein dritter Versuch, die Struktur erzieherischen Handelns und eir darauf bezogene pädagogische Theorie zu bestimmen, bedient sich explizit
oder implizit gewisser Analogien aus dem Bereich der organischen Wesens und auf sie bezogener menschlicher Tätigkeiten: Die menschliche Em wicklung erscheint demgemäß als Entfaltung innerer Anlagen und die Tätigkeit des Erziehers als „Wachstumspflege”, Angebot „geistiger Nah rung”, Bereitstellung einer wachstumsfördernden Umwelt o. ä. — Litt weis nach, daß mit solchen Interpretationen der Prozeß der menschliche’ Bildung verzeichnet wird, Bildung ist ein Vorgang der Aneignung und dei Auseinandersetzung des Aufwachsenden oder des bildungswilligen Erwachsenen mit der historisch-kulturellen Welt unter Vermittlung und in dei Begegnung mit reiferen oder kundigeren Menschen. Dem höchst plastischen Potential menschlicher „Anlagen” werde in organologischen Denkmodellen eine viel zu große Vorherbestimmtheit zugesprochen. Die Bedeutung des Einflusses der historisch-gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit und der Einwirkung der pädagogisch handelnden Personen werde verkannt.
Die in der zweiten Position (Erziehung als Technik) und der dritten Position (Erziehung als „Wachstumshilfe”) bereits angesprochene Grundfrage, ob Erziehungswissenschaft in irgendeinem Sinne als angewandte Wissenschaft — treffender wäre es von „anwendender Wissenschaft” zu sprechen — und ob Erziehungspraxis als Anwendungstätigkeit verstanden werden kann, ist Thema des systematisch abschließenden, vierten Argumentationsschrittes in Litts Text. Sein Gegenargument lautet: Das Verhältnis „angewandter Wissenschaften” zu den jeweiligen „Grundwissenschaf-, ten” ist zentral dadurch gekennzeichnet, daß der Forschungsgegenstand einer Grundwissenschaft nicht eine menschliche Praxis (etwa die des Brückenbauers oder des Arztes o. ä.) ist, sondern ein Komplex von Sachzusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, die jedem praktischen Eingriff gegenüber als vorgegeben verstanden werden; etwa so, wie die Brücken-bautechnologie als angewandte Wissenschaft bestimmte Bereiche der Physik, u. a. die physikalische Statik, voraussetzt, oder die Chirurgie als angewandte medizinische Teildisziplin die Anatomie usw. Wenn aber der Grundsachverhalt, den wissenschaftliche Pädagogik zu erforschen hat, nämlich der Aneignungs-, Auseinandersetzungs-, Begegnungs- und Inter-aktionsprozeß zwischen aufwachsenden Menschen und einer bestimmten historischen Gesellschaft und Kultur, ein Prozeß ist, der nicht ohne die Vermittlung durch die jeweilige Erwachsenengeneration zustande kommt, dann steckt in diesem Grundsachverhalt eben schon jene Praxis darinnen, die nach der Modellvorstellung von „Grundwissenschaft” und „angewandter Wissenschaft” durch irgendeine praxisunabhängige Grundwissenschaft bzw. mehrere solcher Grunddisziplinen erst fundiert werden soll. Zugleich erweist sich durch diesen kritischen Gedankengang Litts, daß auch „Seinsfeststellung”, also die Feststellung von „Sachverhalten” und „Sollensbestimmungen”, in der Pädagogik nicht schematisch getrennt werden können, sondern in ihrem dialektischen Bedingungsverhältnis durchschaut werden müssen: „Seinsaussagen” im pädagogischen Zusammenhang — z. B. Aussagen über die Bildbarkeit eines jungen Menschen oder über pädagogische Fähigkeiten eines Lehrers/einer Lehrerin usf. —können gar nicht unabhängig von historisch entwickelten „Sollensvorstel-lungen” — z. B. bestimmten Zielsetzungen kommunikativer, ästhetischer oder politischer Bildung in einer bestimmten geschichtlichen Situation —getroffen werden. Ebensowenig aber sind pädagogische Zielsetzungen unabhängig von bisher gewonnenem Wissen über pädagogische Tatsachen begründbar, „Tatsachen”, die allerdings nie als unabänderbare Fakten mißverstanden werden dürfen.
Wie lautet folglich Litts Resümee in jener Abhandlung über die Struktur pädagogischen Denkens? Diese Antwort kann man folgendermaßen formulieren: Erziehungswissenschaftliches Denken erweist sich für Litt als eine Reflexion im Zusammenhang mit der pädagogischen Praxis und für sie, als ein Denken, das den jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang und damit zugleich die Wechselbeziehung zwischen pädagogischen Zielsetzungen und pädagogischen Tatbestands-Feststellungen immer neu aufzuklären hat, um ein reflektiertes, verantwortliches pädagogisches Handeln zu ermöglichen, das um seine Voraussetzungen weiß. Dieser komplexe Zusammenhang und die Orientierung an der Aufgabe, dem aufwachsenden Menschen — aber, so darf man ergänzen, auch um ihre Weiterbildung bemühten Erwachsenen — unter den jeweiligen historischen Bedingungen Mündigkeit zu ermöglichen, sie erfordert eine relative Autonomie der Pädagogik als Praxis und als Theorie; relative Autonomie insofern, als das historische Kulturphänomen “Erziehung” in den Gesamtzusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit verflochten ist. Daher muß eine so verstandene Erziehungswissenschaft immer auch auf die anderen Wissenschaften, die sich dieser Wirklichkeit zuwenden, bezogen bleiben. — Ich füge hier nocl eine terminologische Bemerkung an: Es wäre m. E. zweckmäßig, statt vor “relativer Autonomie” von „relationaler Autonomie” zu sprechen, d. h. vor einer Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis in der Bezie hung. Leider hat sich der von meinem verstorbenen Kollegen Leonharc Froese vorgeschlagene Begriff der „relationalen Autonomie” in unsere: Disziplin nicht durchgesetzt.
Litt hat seine wissenschaftstheoretische Position und zugleich die Forderung nach “relativer Autonomie der Erziehung” nach dem zweiter Weltkrieg vor allem in dem Berliner Vortrag „Die Bedeutung der Pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers” aus dem Jahre 1946 noch einmal unterstrichen5, jetzt bezogen auf die Aufgabe, daß Praktiker und Theoretiker der Erziehung nach der Erfahrung des Nationalsozialismus selbstkritisch ein neues „historisches Standortbewußt-sein” erarbeiten müßten. Darüber hinaus modifizierte und vertiefte Litt seine bisherige Auffassung von der pädagogischen Beziehung zwischen Erziehern und jungen Menschen nun, indem er einen Kerngedanken der Anthropologie und der pädagogischen Reflexionen des jüdischen Philosophen Martin Buber in seine Überlegungen integrierte: Bubers Erkenntnis von der fundamentalen Bedeutung der Ich-Du-Beziehung für die Entwicklung des Menschen zu einer humanen, selbstverantwortlichen und mitmenschlichen Existenzweise6. Litt unterstrich im Sinne Bubers die Bedeutung, die der Erfahrung einer solchen Ich-Du-Beziehung im Entwicklungsprozeß von Kindern und Jugendlichen zukommt.
Ich ergänze an dieser Stelle folgenden Hinweis: Auch die anderen Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, vor allem Herman Nohl, Erich Weniger und Wilhelm Flitner, überdies etliche Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler der Schülergeneration jener Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, haben dann jene Bereicherung und Vertiefung eines der Kernbegriffe dieser pädagogischen Richtung, der Kategorie des „Pädagogischen Bezuges” bzw. des „Pädagogischen Verhältnisses”, im Anschluß an Buber mitvollzogen. M. E. ist es dabei nicht wesentlich, ob Litts vorher erwähnter Vortrag aus dem Jahre 1946 dabei direkt Pate gestanden hat oder nicht. Wichtig ist es hingegen zu betonen, daß der pädagogische Bezug als eine Form zwischenmenschlicher Beziehung im Sinne der Ich-Du-Relation nicht als unhistorisch verstanden wurde, sondern als jeweils mitgeprägt durch die geschichtliche Lage und das Beziehungsgeflecht der „überpersönlichen Mächte”: Wirtschaft, Sozialstruktur, Kultur, politisches System.

  1. Zur Grundstruktur des pädagogischen Auftrages und des Erziehungs-bzw. Bildungsprozesses

Neben der Abhandlung über „Das Wesen des pädagogischen Denkens” hat eine weitere Schrift Litts aus den zwanziger Jahren bald nach ihrem Erscheinen und noch einmal nach 1945 für etwa eineinhalb Jahrzehnte den Rang eines pädagogischen Standardtextes gewonnen: „Führen oder Wach-senlassen” (zuerst 1927)7. Litt führt darin Überlegungen fort, die er 1925 in der Thesenreihe „Das Recht und die Grenzen der Schule” zuerst exponiert und dann in einem Vortrag aus dem Jahre 1926 und in seiner bereits erwähnten erweiterten Druckfassung differenzierter entwickelt hatte. Ich ergänze hier, daß es sich um einen Vortrag auf einem der größten pädagogischen Kongresse der zwanziger Jahre gehandelt hat, der mit etwa 700 Teilnehmern in Weimar stattfand.
Der Untertitel des Buches — „eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems” — bringt den prinzipiellen Anspruch unmißverständlich zum Ausdruck. Thema des Buches ist die Frage nach dem Auftrag und den Grenzen der Erziehung und zugleich nach der Struktur jenes Prozesses, der durch Erziehung angeregt, unterstützt und beeinflußt wird oder werden soll. Die Argumentation zeigt wiederum die für Litt charakteristische dialektische Form: „Führen” und „Wachsenlassen” werden idealtypisch als in Sprachbildern formulierte, einander zunächst widersprechende Antworten auf jene vorher genannten pädagogischen Grundfragen vorgeführt und dann auf das in diesen Sprachbildern Gemeinte und auf die jeweiligen Voraussetzungen jener Antwortversuche hin analysiert. Das Überraschende der Litt’schen Problemstellung, die sich in den Diskussionen des Weimarer Kongresses herauskristallisiert hatte, ist nun ein eigentümlicher dialektischer Umschlag, der sich in der Argumentation der Vertreter der beide konträren Programmformeln ergab: Die Forderung, Erziehung müsse primär günstige Bedingungen für das freie „Wachsen” der jungen Generatio aus ihren eigenen Kräften und Strebungen heraus schaffen, wurde vo ihren Vertretern gegen diejenigen ins Feld geführt, die Erziehung vor alles als „Hin-Führung” und „Ein-Führung” in Traditionen oder in die gegen wärtige Kultur und Gesellschaft interpretierten. Nun zeigte sich jedoch in den Schriften und Stellungnahmen jener Verfechter der These vom „Wach senlassen”, daß sie in Wahrheit immer schon bestimmte Vorstellungen voi einer zukünftigen, erstrebenswerten Kultur und Gesellschaft und von Ergebnis jenes pädagogisch zu ermöglichenden Wachstumsprozesse hatten. In Wahrheit ließen sie also das Ziel des vermeintlichen Wachstums prozesses keineswegs offen. Indem sie die Jugend vermeintlich frei au. sich selbst heraus wachsen lassen wollten, führten sie zu dem, was sie ah Ziel jenes Wachstumsvorganges voraussetzten.
Litts Kritik an den entgegengesetzten Positionen „Erziehung ah Wachsenlassen” und „Erziehung als Führung” gipfelt in der These, daf jeder fixierende Vorgriff auf die Zukunft — geschehe er nun unter den Motto des Wachsenlassens in die Zukunft hinein oder aber in der Überzeugung von der Notwendigkeit der historischen Entwicklung auf einen inhaltlich bestimmten Endzustand hin oder in ausdrücklicher Orientierung an einem als verbindlich gesetzten Bildungsideal, zu dem die junge Generation „geführt” werden müsse — daß also jede Art von fixierendem Vorgriff eine Beschränkung der eigenen zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten der jungen Generation bedeutet und damit dem Sinn eine’ Erziehung zur Mündigkeit und freien Entscheidungsfähigkeit widerspricht. Diese Kritik trifft nun aber auch auf jene Variante der Position „Erziehung als Führung” zu, die ihren Führungsanspruch dadurch meint rechtfertigen zu können, daß sie nicht eine Zukunft utopisch vorwegnimmt, sondern die Jugend „nur” zu den großen Gehalten der Tradition hinleiten will, etwa im Sinne der klassischen deutschen Humanitätsidee oder auch zu einem “Deutschen Humanismus” im Sinne der „Deutschkundebewegung” de’ zwanziger Jahre, einer Richtung, die „deutschen Humanismus” als Ausdruck „deutschen Wesens” deutete. „Führen” schlägt hier nach Litt um in die distanzlose Anerkennung der erzieherischen Wirkung des historisch Gewachsenen, dem der junge Mensch als Glied eines nationalen Kulturzusammenhanges oder eines (in Wahrheit hypothetischen) „Volkscharakters’ angehöre oder wie vergleichbare Formeln immer lauten mögen. Imme’ gerät hier die zukünftige Entscheidungsfreiheit der nachwachsenden Generation in Gefahr.

Litt spricht nun den beiden, von ihm idealtypisch rekonstruierten Denkansätzen — hier „Führen”, dort „Wachsenlassen” — jeweils begrenzte Wahrheitsmomente zu. Sie müßten dialektisch aufeinander bezogen, miteinander „vermittelt” und dadurch in einer Erkenntnis von höherem Wahrheitsgehalt „aufgehoben” werden, wie es in der Sprache der Dialektik Hegels heißt.
In diesem Sinne findet Litt „den guten Sinn des Wachsenslassens'” im weiteren Argumentationsgang zum einen in der Anerkennung der Bedeutung nicht-institutionalisierter und nicht-methodisierter Bildungsvorgänge, wie sie etwa im kindlichen Sprachlemprozeß exemplarisch zum Ausdruck kommen. Im Grunde spricht er hier jenes Insgesamt von Einwirkungs- und Aneignungsprozessen an, die seit etwa dreißig Jahren in der zeitgenössischen Pädagogik mit dem Begriff „Sozialisation” bezeichnet werden. Allerdings übergeht Litt völlig die Problematik gruppen-, schichten- bzw. klassenspezifisch ungleicher Sozialisations- und Enkulturationsvorgänge und die etwaige politische, ethische und kulturelle Fragwürdigkeit dessen, was in solchen Prozessen an Prägungen auch vermittelt wird. — Zum anderen weist die Formel des „Wachsenlassens” nach Litts Interpretation auch auf die pädagogische Bedeutung einer nicht durch Bildungsideale gelenkten, sondern „offenen”, jedoch inhaltlich und methodisch gezielt angestrebten Begegnung und Auseinandersetzung des jungen Menschen mit den historisch vorliegenden Objektivationen des menschlichen Geistes in Wissenschaft, Kunst, Religion und Sittlichkeit hin, so nämlich, daß das „Ergebnis” solcher Aneignung von den Erziehenden nicht durch inhaltlich festgelegte Zielsetzungen vorausbestimmt wird.
„Der gute Sinn des `Führens'” aber ergibt sich daraus, daß junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts angesichts einer hochkomplexen, spannungsreichen, historisch vielschichtigen gesellschaftlich-politisch-kulturellen Wirklichkeit, in die sie hineingestellt sind, Erkenntnis-, Kritik-und Handlungsfähigkeit nicht im bloßen „Hineinwachsen” und „Mitleben” gewinnen können. Dazu bedarf es vielmehr in wachsendem Maße helfender Aktivität der Erziehenden, der bewußten, pädagogisch reflektierten und methodisch organisierten Vermittlung zwischen der objektiven geschichtlichen Wirklichkeit in ihrer spannungsreichen Vielfalt und dem aufwachsenden Subjekt mit seinen je individuellen Möglichkeiten, die sich allerdings erst im Prozeß dieser Auseinandersetzung herausbilden.
An dieser Stelle des Gedankenganges Litts schlägt nun allerdings eine konservative Grundtendenz durch, auf die man sowohl vor 1933 als auch nach 1945 in seinen pädagogischen Vorträgen, Schriften, Stellungnahmen immer wieder stößt. Diese Tendenz unterscheidet sein pädagogisches Denken deutlich von dem anderer Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, besonders von der Sichtweise Herman Nohls und Erich Wenigers. In dem Buch „Führen oder Wachsenlassen” zeigt sich die Tendenz deutlich in folgender Weise: Litt spricht dem objektiven Pol in der Beziehung zwischen der vorgegebenen geschichtlichen Kultur und der jeweils nachwachsenden Generation nun doch das größere Gewicht zu, wenn er betont, daß Erziehung “im Element der Tradition atme”. Die Möglichkeit oder gar die Aufgabe der Erziehung, die junge Generation bewußt zur aktiven, kritischen Auseinandersetzung mit Traditionen anzuregen, sie zum Selber-Gestalten und ggf. zum Umgestalten des Überlieferten, zum Entwurf hypothetischer Vorstellungen einer veränderten Zukunft zu ermutigen, kommt bei Litt nicht zur Sprache, anders als bei Nohl und Weniger, die solche gedanklichen Vorentwürfe unter dem Begriff der „Vorwegnahme”, die nicht mit fixierenden Vorgriffen verwechselt werden darf, als eine legitime, ja notwendige Form der Erziehung zur Mündigkeit betonten.
Ich unterstreiche mit Nachdruck: Jene konservative Akzentsetzung Litts ist in der von ihm aufgewiesenen Vermittlungsstruktur als solcher keineswegs mit Notwendigkeit angelegt!

  1. Von der „staatsbürgerlichen Erziehung” der Weimarer Zeit zur „demokratisch-politischen Erziehung” nach 1945

Als weiteres Zentralproblem der Pädagogik Litts, das ich hier zur Sprache bringen möchte, ist jener Fragenkreis zu nennen, den Litt bis 1933 unter dem Titel „Staatsbürgerliche Erziehung” und nach 1945 unter den Begriffen „Politische Erziehung” oder — synonym damit — „Politische Bildung” behandelte.
Bevor ich in wenigen Grundzügen die Entwicklung seiner theoretischen Konzepte zu diesem Problemkreis verfolge, gehe ich auf Litts eigene Position im Spektrum politischer Einstellungen deutscher Hochschullehrer in der Zeit der Weimarer Republik ein.
Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben immer wieder einen Befund erbracht, der für das Gros der Hochschullehrer jener Zeit gilt. Wolfgang Abendroth hat diesen Befund in der Formel „das Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität” ausgedrückt.9 Während die konzeptionellen Begründer der deutschen Universitätsidee zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem Humboldt, Fichte und Schleiermacher, das politische Moment in ihrer Weise durchaus in ihre Universitätskonzeption miteinbezogen, wenngleich sich das Maß und die Art ihrer diesbezüglichen Reflexionen im Rückblick auch als zeitbedingt begrenzt erweisen, geriet die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Universitäten und der an ihnen betriebenen wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Laufe des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in zunehmendem Maße in Vergessenheit, parallel zur Geschichte des politisch-gesellschaftlichen Bewußtseins der breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der Intelligenz. „Unpolitisch” zu sein wurde, in dem in Wahrheit ideologischen, d. h. hier: gesellschaftlich bedingt falschen Bewußtsein der meisten Universitätslehrer geradezu ein positiv gewertetes Statusmerkmal.
Die Chance, nach 1918 unter den neuen politischen Bedingungen der ersten deutschen Republik auch ein neues, realistisches politisches Bewußtsein und Formen politischer Mitverantwortung zu entwickeln, ist von den meisten Hochschullehrern in der Zeit der Weimarer Republik nicht genutzt worden, und auch die Ausnahmen bestätigen letztlich doch nur die Regel.
Nun war die Mehrzahl dieser vermeintlich „unpolitischen” Hochschullehrer — entgegen ihrem Selbstverständnis — in Wahrheit keineswegs politisch neutral, und sie konnte es gar nicht sein, weder im gesamtpolitischen Zusammenhang noch innerhalb der Universitäten und Hochschulen und innerhalb der Wissenschaftsentwicklung: Wissenschaft, Universität und wissenschaftliche Berufstätigkeit haben immer politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen, Implikationen und — sei es auch subjektiv unbeabsichtigte — Folgen, die man zwar ignorieren oder leugnen kann, die man damit aber keineswegs aus der Welt schafft.
Nun gab es allerdings auch innerhalb der Universitäten und Hochschulen der Weimarer Zeit bereits begrenzte Gruppen politisch bewußter Hochschullehrer. Vereinfacht kann man sie in zwei Hauptgruppen gliedern: Zum einen war es die kleine Gruppe, die sich ausdrücklich und positiv auf den Boden der demokratischen Verfassung stellte. Hier sind noch einmal zwei Varianten zu unterscheiden. Die eine Teilgruppe kann man als entschiedene Demokraten bezeichnen, zu ihnen sind z. B. die Staatsrechtler Hermann Heller, Hugo Preuß und Gustav Radbruch oder der Soziologe Karl Mannheim zu zählen. — Die zweite Teilgruppe hat man später treffend als „Vernunftrepublikaner” bezeichnet. Sie erkannten die V marer Verfassung und die parlamentarische Demokratie angesichts der sächlichen sozialen und politischen Entwicklungen und angesichts politischen Versagens der preußisch-deutschen Monarchie in der Vorw( kriegszeit und im Ersten Weltkrieg als legale und legitime Basis ( Nachkriegszeit an und verhielten sich aus dieser Auffassung heraus exr zit loyal zur Weimarer Demokratie, so etwa die Historiker Friedri Meinecke, Adolf von Harnack, Hans Delbrück und Wilhelm Kahl.
Den beiden genannten, republikanisch engagierten oder mindestens publiktreuen Hochschullehrern stand eine andere, zahlenmäßig stärke Hauptgruppe politisch explizit engagierter Hochschullehrer gegenüber. S brachten ihre Ablehnung der Weimarer Republik gezielt und mit offe. sichtlichem Erfolg, z. B. bei zahlreichen Studenten, außerhalb und inne halb ihrer akademischen Lehrtätigkeit zum Ausdruck, in der Pädagog; etwa Ernst Krieck und Alfred Baeumler, später die anerkannten Wortführ( der nationalsozialistischen Pädagogik, in der Philosophie, jedenfalls gege Ende der Weimarer Zeit, z. B. der in Leipzig lehrende Kultur- un Sozialphilosoph Hans Freyer.
‘Zwischen den beiden genannten Hauptgruppen stand die große, wei überwiegende Zahl der vermeintlich Unpolitischen. Sie unterlag jedocl auch inneruniversitär einer folgenreichen Selbsttäuschung: Denn ange sichts des tatsächlichen Kräfteverhältnisses, vor allem angesichts der Ent wicklungen in der Endphase der Republik bedeutete vermeintliche Neutra lität de facto eine Stärkung der wachsenden antidemokratischen Kräfte.
Theodor Litt gehörte seit Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit in Jahre 1919 nicht zum Gros der vermeintlich „unpolitischen” Professoren Vielmehr hing schon sein Eintritt in die Universität damit zusammen, dal er, nach seinem m. E. glaubwürdigen Selbstzeugnis, den Ersten Weltkriel als eine Krise erfuhr, die eine politische und kulturelle Selbstbesinnunl und ein neuartiges, wissenschaftliches und politisches Engagement heraus forderte10• Blickt man nun auf jene vorher skizzierte kleine Typologie de politischen Positionen deutscher Hochschullehrer vor 1933 zurück, so wir( man Litt in den Umkreis der sog. „Vernunftrepublikaner” einordnen kön nen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Obwohl Litt sich lcritiscl gegen alle extremen politischen Gruppen und damit auch gegen dir Gegner der Weimarer Republik wendete, hat er sich vor 1933 doch nur selten für diese Republik mit jener unmißverständlichen Klarheit eingesetzt, die der Unbedingtheit seines demokratischen Engagements nach 1945 vergleichbar wäre.
Die positivste Stellungnahme enthält ein Vortrag, den Litt 1920 über „Die Aufgaben des Akademikers im neuen Deutschland” gehalten hat”. Litts Kritik an der politischen Abstinenz des größeren Teils der Akademiker führt hier zu folgender Konsequenz: „… wenn in früheren Zeiten der `beschränkte Untertanenverstand’ sich in dem Gefühl beruhigen konnte, daß ja schließlich die Weisheit der Regierenden alles zum Besten lenken werde, so hat die Umwälzung zur Demokratie dieser an sich schon verwerflichen Denkweise ganz und gar den Boden entzogen. Was eine Demokratie ist und leistet, das hängt einzig und allein von der Tüchtigkeit, der Einsicht, dem Verantwortungsbewußtsein ihrer Bürger, eines jeden ihrer Bürger ab. Wo der einzelne sich gleichgültig beiseitestellt, da wird die in ihm verkörperte geistige Kraft dem Ganzen unweigerlich entzogen.”
Die zitierten Sätze könnten auf ein uneingeschränktes, auch praktisch getätigtes demokratisches Engagement, fundiert durch eine reflektierte politische Theorie, schließen lassen, gäbe es in Litts gleichzeitigen und in späteren Abhandlungen zum Problem des Politischen in der staatsbürgerlichen Erziehung nicht etliche Aussagen, die diesen Eindruck zwar nicht in sein Gegenteil verkehren, aber doch erheblich abschwächen; und zwar ist diese Tendenz in Litts einschlägigen Schriften bis 1931 zunehmend deutlicher hervorgetreten. Das hängt vor allem mit einem Denkmotiv zusammen, das er immer entschiedener betonte: dem Bemühen um eine allgemeine Strukturanalyse des Politischen. Problematisch ist unter diesem Aspekt m. E. nicht etwa die Tatsache, daß Litt im Zuge dieses Denkprozesses den Staat und den Staatsbegriff immer entschiedener in den Mittelpunkt seiner Reflexion rückte, sondern die Art und Weise, wie er es tat.
Ich verdeutliche das anhand eines Aufsatzes aus dem Jahre 1924, der damals starke Beachtung fand; der Aufsatz trägt den Titel: „Die philosophischen Grundlagen der staatsbürgerlichen Erziehung”H. Als das zentrale Problem einer solchen Grundlegung staatsbürgerlicher Erziehung bezeichnet Litt die Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die drei Momente „Staat und Politik”, „geschichtliche Kulturmächte” (er meint damit Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Weltanschauungen, Religionen) und „das Individuum in seiner sittlichen Verantwortung” zueinander stehen. Litt bestimmt diese dreipolige Beziehung zwischen Staat und Politik, Kulturmächten und dem sittlich verantwortlichen Individuum dahingehend, daß alle drei Momente wechselseitig aufeinander bezogen sind, ohne daß die zwischen ihnen bestehende, jeweils neu zu bewältigende Spannung jemals in einer harmonischen Synthese oder durch Überordnung eines der drei Momente über die anderen aufgelöst werden könnte. Die historisch unverlierbare Leistung der Schaffung des Staates sei es, daß die potentielle Ausübung von physischer Gewalt zur Sicherung innen- und außenpolitischer Rechts- und Friedensordnungen ausschließlich bei dieser Institution monopolisiert worden ist. Damit entlastet der Staat alle anderen gesellschaftlich-kulturellen “Mächte” und die Individuen davon, ihre Existenz selbst durch potentielle oder aktuelle Gewaltausübung sichern zu müssen, und er gibt ihnen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Entwicklung innerhalb bestimmter Regelungen. Gleichzeitig setzt der Staat damit die Entwicklung von kulturellen Aktivitäten und der ethischen Reflexion der Individuen frei, die nun auf den Staat zurückgewendet werden können, z. B. als Forderung nach der Sicherung von Freiheitsrechten der Individuen, nach prinzipieller Ausschaltung des Krieges, nach Abrüstung, nach Humanisierung des Strafvollzugs usw. Der Staat zieht sich gleichsam —und das ist nicht negativ-kritisch gemeint — seine eigenen Kritiker heran, ohne doch, wenn er seine Funktion erfüllen soll, je ganz auf die Ausübung, mindestens aber den potentiellen Einsatz bei ihm monopolisierter Gewaltmittel verzichten zu können. Die Aufgabe staatsbürgerlicher Erziehung bestimmt Litt nun dahingehend, daß sie die Unausweichlichkeit der angedeuteten Spannungen und die Notwendigkeit jeweils neuer Entscheidungen in Anerkennung der aufgewiesenen Grundbeziehungen einsichtig machen und zur Entwicklung entsprechender Haltungen und Tugenden junger Menschen beitragen müsse.
Der Mangel dieses Konzepts liegt zweifellos in ihrem abstrakten Formalismus. Litt dringt nämlich nicht bis zur Ebene einer konkreten, historisch-politischen Analyse der Interessen, der Macht- und Einflußfaktoren, der Prozesse und Einrichtungen, die das Beziehungsfeld zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen bestimmen, vor. „Der Staat” bzw. „die Staatsidee” bleiben daher in dieser Theorie den gesellschaftlich-kulturellen Gruppen letztlich doch abstrakt übergeordnete Instanzen. Der Staat wird nicht als das jeweils politisch kodifizierte Resultat gesellschaftlicher Macht- und Interessenkonstellationen begriffen. Daraus folgt dann Litts Forderung, den Staat in der staatsbürgerlichen Erziehung auf einer Betrachtungsebene „oberhalb” konkreter politischer Auseinandersetzungen zu erörtern und auch die damals gegebene republikanische Verfassung nur als eine unter mehreren denkbaren Verwirklichungsformen staatlicher Ordnung zu betrachten, allerdings als eine für die damalige Situation gültige und zur Mitwirkung verpflichtende Ordnung.
Nun hat Litt allerdings in den letzten Jahren der Weimarer Republik, 1931 und 1932, jene Grenzen, die er sich als Wissenschaftler hinsichtlich politischer Stellungnahmen selbst glaubte setzen zu müssen, einige Male überschritten. Aber er ist dabei sozusagen „auf halbem Wege stehengeblieben”. Ich verdeutliche das an jener Rektoratsrede aus dem Spätherbst 1931, die Litt nach der Übernahme des Rektorats der Leipziger Universität hielt. Sein Thema lautete „Hochschule und Politik”; er hat sie, offensichtlich an möglichst weitreichender Wirkung interessiert, sowohl in einer Broschüre als auch in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Die Erziehung” veröffentlicht.
In dieser Rede kommt zum einen die klare Erkenntnis der Krisensituation, in der sich die erste deutsche Republik innen- und außenpolitisch in jenen Jahren befand, zum Ausdruck: „Die Existenz ganzer Völker und Kulturen” stehe „auf des Messers Schneide”. „Da gibt es keinen Bezirk sinnvollen Schaffens, der sich gegenüber der politischen Sphäre in säuberlicher Abtrennung behaupten könnte … Das Problem ‘Hochschule und Politik’ ist so umstritten, so brennend wie noch nie.” Anlaß der Litt’schen Argumentation waren die immer lauter erhobenen Forderungen verschiedener politischer Strömungen, die Hochschule solle sich entschieden in den Dienst der Zielsetzungen jener Strömungen, kontroverser Strömungen von links bis rechts, stellen. Litt weist solche Ansprüche als unvereinbar mit dem Grundprinzip der Wissenschaft, der unvoreingenommenen Suche nach Erkenntnis, zurück. Er fordert, die Politik müsse die Freiheit der Wissenschaft und damit der Universität als Ort wissenschaftlicher Forschung und Lehre gewährleisten. Gleichzeitig aber betont er, die Hochschule werde „den Dienst am Volk, den man mit gutem Grund von ihr fordert, gerade dann am vollkommensten leisten, wenn sie unbeirrt an der Leitidee festhält, die ihr das Herniedersteigen in die Arena des Kampfes verbietet”.
Mit dieser Forderung nach praktisch-politischer Enthaltsamkeit übersah er jedoch, daß seine eigene Situationsanalyse ihrer Substanz nach die offene, politisch-praktische Entscheidung für jene politischen Positionen als notwendig erwies, die die demokratische Grundordnung der Republik und damit auch die Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre nicht nur formell, sondern inhaltlich bejahten, und damit die offene Entscheidung gegen alle diejenigen, die sie bekämpften. Einzig und allein eine demokratische Verfassung hätte dauerhaft jene Freiheit der Hochschulen und der Wissenschaften sichern können, um die es Litt zu tun war!
Trotz der kritischen Vorbehalte, die man m. E. gegenüber den politisch relevanten Stellungnahmen Litts vor 1933 und hinsichtlich seiner Konzeption staatsbürgerlicher Erziehung vor 1933 anmelden kann und muß, stand seine Opposition wie gegen jede Art des Totalitarismus so auch gegen eine nationalsozialistische außer Zweifel. Das hat Hans Freyer, dessen Affinität zu autoritärem politischen Nationalismus sich schon vor 1933 abzuzeichnen begann und die ihn nach 1933 schnell auf den Kurs der neuen Machthaber einschwenken ließ, Litt bereits 1932 in einem Aufsatz über “Die Universität als hohe Schule des Staates” bestätigt. Freyer schließt dort ein Referat über Litts Auffassung vom Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von der er sich distanziert, mit dem Satz ab: “Der Anspruch, daß die Wissenschaft die selbstverständliche Lenkerin des politischen Willens sei, wird von Litt ebenso verworfen wie der Anspruch des politischen Willens, auf die wissenschaftliche Erkenntnis überzugreifen. Platon wird ebenso heftig bekämpft wie die Nationalsozialisten und Kommunisten.”15
Nach der sog. Machtübernahme beließen die Nationalsozialisten Litt ähnlich wie andere Hochschullehrer, die sich vor 1933 nicht als aktive Mitglieder oder Befürworter linker politischer Parteien exponiert hatten, in ihren wissenschaftlichen Ämtem, sofern es sich dabei nicht um wissenschaftspolitisch wichtige Funktionen handelte. Die politische Polemik gegen diejenigen, die sich nicht klar zum neuen System bekannten, wurde nun aber verschärft, Das kann hier im Hinblick auf Litt nicht im Detail kommentiert werden. Zunächst erhielt er zwar kein formelles Vortragsverbot (es wurde erst 1941 für Sachsen ausgesprochen), aber seine Vortragstätigkeit wurde faktisch zunehmend mehr eingeschränkt, und die Zusammenstöße mit nationalsozialistischen Funktionsträgern und Gruppen innerhalb und außerhalb der Universität nahmen zu, so daß Litt sich aul eigenen Wunsch 1937 vorzeitig emeritieren ließ. Wenige Monate vorher war Herman Nohl in Göttingen zwangsemeritiert worden, eine Ausschaltung, die Erich Weniger bereits 1933 erfahren hatte.
Litt hat nach 1933 keineswegs den Weg in die „innere Emigration” angetreten. Er übte in fünf Aufsätzen und Abhandlungen jener Zeit offene Kritik: In den Aufsätzen bzw. Schriften „Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staat” (1933 und in 2. Auflage 1934)16, „Philosophie und Zeitgeist” (1935)17, „Der deutsche Geist und das Christentum” (1938)18, „Die gedanklichen Grundlagen der rassentheoretischen Geschichtsauffassung”19 und “Protestantisches Geschichtsbewußt-sein”20, beide Publikationen 1939. Ich muß es hinsichtlich dieser Arbeiten bei sehr knappen Hinweisen belassen: Litt konzentrierte sich darin vor allem auf den Aufweis der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit und inneren Widersprüchlichkeit der propagierten Indienstnahme der Wissenschaft für die Scheinrechtfertigung nationalsozialistischer Weltanschauung und auf die Unhaltbarkeit der biologisch-rassistischen Geschichtsinterpretation des Nationalsozialismus. Daß die nationalsozialistischen Zensurbehörden die Veröffentlichung dieser Schriften nicht verboten, ist wohl nur dadurch zu erklären, daß Litt sie nicht als politische Kritik am System kennzeichnete, sondern konsequent den Anschein rein wissenschaftlicher, theoretischer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Kontrahenten durchhielt, wie immer er für sich selbst über die wissenschaftliche Qualität der von ihm kritisierten Autoren und ihrer Publikationen geurteilt haben dürfte. Die genannten Arbeiten gehören zu den überzeugenden Dokumenten mutiger wissenschaftlicher Opposition gegen den Nationalsozialismus nach 1933 innerhalb seines Herrschaftsbereichs.21 — Ich erwähne noch, daß Litt während des Zweiten Weltkrieges in Kontakt zu dem sich allmählich f mierenden konservativen Widerstandskreis um den ehemaligen Leipzii Oberbürgermeister Carl Goerdeler trat; überdies gehörte er der ebenfal wenngleich nicht offen oppositionellen Leipziger „Mittwochsgesellscha an, wiewohl er nicht den Schritt zum aktiven politischen Widerstand tat.2
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Litt 1945 erneut ein Ordinar: für Philosophie und Pädagogik in Leipzig. Als sich jedoch der Übergar der Kulturpolitik der damaligen „sowjetisch besetzten Zone” von der rel tiv pluralistischen „antifaschistisch-demokratischen” Periode zur „sozial stischen” Formierung im Sinne der SED abzeichnete, wurde die Unverei: barkeit dieser Intention mit Litts wissenschaftlichen Überzeugung( deutlich. Litt nahm daher 1947 einen Ruf auf das Ordinariat für Phil( sophie und Pädagogik an der Universität Bonn an.
Nach diesen biographischen Zwischeninformationen wende ich mich d( Frage zu, ob es hinsichtlich des Problems der staatsbürgerlichen bzw., wi Litt nun generell formuliert, der politischen Erziehung nach 1945 nennens werte Neuentwicklungen im Vergleich mit seinen in der Weimarer Repu blik vertretenen Auffassungen gegeben hat. Dazu ist zunächst festzu stellen: Die Erfahrung des Nationalsozialismus führte bei Litt zu einer ent scheidenden Positionsänderung. Seine seit 1949/50 erschienenen Beiträgt zum Problem der politischen Erziehung bzw. Bildung in Hochschule Schule, außerschulischer Bildungsarbeit und Erwachsenenbildung beruher auf folgender Kernthese: Das Zentrum der „politischen Selbsterziehung des deutschen Volkes” — so lautete der Titel einer seit 1954 immer wieder in hohen Neuauflagen erschienenen Schrift23 — müsse die Vermittlung de: Einsicht sein, daß eine humane Rechts- und Friedensordnung unter der Bedingungen der modernen Welt nur durch ein demokratisches politisches System entwickelt und gesichert werden kann. Das Prinzip demokratischer Systeme aber ist die Garantie freier Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Ordnungsvorstellungen, die Absage an die Kanonisierung einer einzigen politischen Konzeption, die Ermöglichung ständiger politischer Diskussion ohne physische Gewaltanwendung. Hinsichtlich der Aneignung dieser Erkenntnis sei die erwachsene Generation in Deutschland im Prinzip in der gleichen Lage wie die Nachwachsenden. Man müsse politischen Einheitsprogrammen eine Absage erteilen und auf harmonisti-sche Leitvorstellungen verzichten, wie sie zu jener Zeit u. a. von Theodor Wilhelm — der damals noch unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger veröffentlichte — in seiner vieldiskutierten „Partnerschaftstheorie” vertreten wurde24. Vielmehr gehe es um die Anerkennung des Konflikts und der gewaltfreien Konfliktaustragung als Grundbedingung eines demokratischen Systems und zugleich als des positiven Ausdrucks menschlicher Entscheidungsfreiheit und politischer Kreativität. Mit dieser Auffassung ist Litt in gewisser Weise zum Vorläufer des späteren Konfliktansatzes in der Theorie und Praxis politischer Bildung geworden.
Aber auch dieser neue Ansatz Litts weist eine deutliche Grenze auf, und hier ist Litt im wesentlichen noch einer Problemverkürzung verhaftet geblieben, die schon sein Konzept staatsbürgerlicher Erziehung in der Weimarer Periode kennzeichnete. Litt begriff innenpolitische Auseinandersetzungen in der Demokratie immer nur als Konflikte zwischen politischen Ordnungsvorstellungen. Er befragte kontroverse politische Ordnungsvorstellungen aber nicht auf ihre Grundlagen in realen gesellschaftlichen Interessen und verfolgte daher auch die jeweils überholbaren Konfliktlösungen und etwaigen Kompromisse nicht auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftlichen, nicht zuletzt ökonomisch bedingten Herrschaftsverhältnissen und Einflußmöglichkeiten. Dies dürfte auch der Hauptgrund dafür sein, daß in Litts letzten politischen bzw. politisch-pädagogischen Schriften25 zwar die undemokratisch-diktatorischen Tendenzen der damaligen, sich selbst als „sozialistisch” bezeichnenden Staaten Osteuropas und ihre Erziehungssysteme mit Recht scharfer Kritik unterzogen wurden, daß er aber eine differenzierte Auseinandersetzung mit jenen Staa und Erziehungstheorien durch die schematische Gegenüberstellui „freier” und „unfreier” Staaten ersetzte, jedoch nicht in eine kritisc Analyse der realen ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Verhältnisse sog. „sozialistischen” und in „nicht-sozialistischen” Systemen eintrat.

  1. Die Bildungsaufgabe angesichts der modernen, naturwissenschaftlici technisch bestimmten Produktions- und Arbeitswelt

Neben der Frage der politischen Bildung hat vor allem ein zweit( Problemkreis Litts pädagogisches Denken nach dem Zweiten Weltkrie maßgeblich bestimmt: Es war die Frage nach den Aufgaben, die sich de Erziehung angesichts der zentralen Bedeutung der exakten Naturwissen schaften, der auf ihnen basierenden modernen Technik und der durch si bestimmten modernen Produktions- und Arbeitswelt stellen. Mit diese Fragestellung korrigierte Litt die Realitätsferne seiner einstigen „Kultur pädagogik”; er bezog nun die Bildungsproblematik konsequent auf dir Alltagsrealität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens in dei modernen Welt. Litt erkannte, daß diese veränderte Sichtweise zugleict eine substantielle Erweiterung und Veränderung des in der Zeit dei deutschen Klassik — von Herder bis Hegel — geprägten Bildungsbegriffs erforderte. Philosophisch war diese Wende in Litts Bildungstheorie durch seine philosophische Anthropologie, wie er sie in dem 1948 zuerst publizierten Buch „Mensch und Welt” (2. Aufl. 1961)26 entfaltete, und durch die Neufassung seiner Wissenschaftstheorie in dem Werk „Denken und Sein”, ebenfalls 1948 erschienen’-7, vorbereitet worden.
Unter bildungstheoretischem Aspekt entfaltete Litt seine Position vor allem in drei Büchern: „Naturwissenschaft und Menschenbildung” (1. Aufl. 1952)228, „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt” (l. Aufl. 1955)29 und „Technisches Denken und menschliche Bildung (1. Aufl. 1957).
Nach Litts Interpretation ist das Bildungs- bzw. das Humanitätsideal der deutschen Klassik im Gegenzug gegen die seit Ende des 18. Jahrhunderts sich abzeichnende Entwicklung der Industrialisierung und eines zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaftssystems entworfen worden. Indem „Bildung” und “Humanität” dadurch ermöglicht werden sollten, daß die natürliche und die historische Welt als „Material” der harmonischen Selbstformung des Menschen interpretiert wurden, so etwa nach Litts Deutung bei Humboldt, oder die Vermittlung von Subjekt und Welt in vorindustriellen Tätigkeiten, so etwa bei Goethe, gesucht wurde, blieben drei entscheidende Grundtendenzen der Entwicklung des 19. und des 20. Jahrhunderts letztlich unbegriffen und folglich außerhalb dieser Bildungsauffassung:

  • Erstens durchschauten die Vertreter der „klassischen” Bildungsidee nicht die methodologische Struktur der modernen exakten Naturwissenschaften, die auf der radikalen Subjekt-Objekt-Scheidung beruht, als Ergebnis eines menschlichen Selbstdisziplinierungsaktes, der einerseits exakte, mathematisch formulierbare Erkenntnis von gesetzmäßigen Beziehungen in der gegenständlich erfahrbaren Wirklichkeit überhaupt erst ermöglicht, andererseits aber, sofern diese Erkenntnisweise verabsolutiert wird, die Mehrdimensionalität menschlicher Erkenntnismöglichkeiten auf eine einzige reduziert.
    — Die zweite, im klassischen Bildungsdenken letztlich unbegriffene Entwicklung war das technische Denken und die in ihm wirksame exakt-konstruktive Phantasie bei der Übersetzung naturwissenschaftlich ermittelter Wenn-Dann-Beziehungen in Zweck-Mittel-Relationen.
    — Drittens erlaubten es die Denkansätze der „klassischen” Bildungstheorien nicht, konstruktive Antworten auf den die Menschen unseres Zeitalters zutiefst prägenden Funktionszusammenhang einer hochgradig arbeitsteiligen, industrialisierten Produktions- und Arbeitswelt und eines ihr entsprechenden, rationalisierten Verwaltungssystems zu entwickeln.

Das Bildungsdenken der deutschen Klassik, innerhalb dessen Pestalozz nach Litts Deutung eine letztlich nicht entscheidend wirksam geworden( Ausnahmegestalt bliebn, klammerte die gekennzeichneten Zusammenhänge infolge der Scheidung der menschlichen Existenz in eine Dimension des „Inneren”, dessen Gestaltung als eigentliche Aufgabe der Bildung erschien, und ein “Äußeres”, das der bloßen Lebenserhaltung diene, aus. Diese Auffassung habe damit eine verhängnisvolle Zweiteilung der menschlichen Existenz und eine Trennung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen heraufbeschworen, da es sich nicht die Aufgabe stellte oder sie sich noch nicht stellen konnte, allen jungen Menschen durch Bildung zur Erkenntnis und zur Bewältigung jener Grundlagen ihrer tagtäglichen Lebensbedingungen zu verhelfen.
Demgegenüber stellt sich für Litt die moderne Bildungsfrage und die entsprechende Aufgabe einer neuen Bildungstheorie folgendermaßen dar; er hat sie in den an früherer Stelle genannten Büchern „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt”„,Naturwissenschaft und Menschenbildung” und „Technisches Denken und menschliche Bildung” und zugleich in einer Vielzahl von Vorträgen und Aufsätzen vorgetragen und gegen Kritik verteidigt. Die Kernthesen sind folgende:
Eines der zentralen Ziele humaner Bildung angesichts der Lebensbedingungen der Moderne müsse es sein, jungen Menschen stufenweise Einblick in den Strukturzusammenhang zwischen neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihrer methodischen Struktur, technischem Denken und industrialisierter Produktions- und Arbeitswelt zu geben. Und zwar sei es notwendig, daß dieser Zusammenhang als eine vom Menschen im historischen Prozeß selbst hervorgebrachte Leistung verstanden und in ihren Rückwirkungen auf jeden, der in diesen Prozeß und seine Resultate eintritt, durchschaut wird. Zugleich betonte Litt jedoch nicht weniger nachdrücklich: Ein solcher Erkenntnis- und Reflexionsgang müßte nicht nur auf die sachliche Meisterung der damit umrissenen Aufgaben vorbereiten, sondern zugleich die Voraussetzungen und die Grenzen deutlich machen: Naturwissenschaft, Technik und Arbeitsorganisation beantworten nämlich die Zielfragen des individuellen und des gesellschaftlich-politischen Lebens nicht, sondern setzen Reflexion und Entscheidung darüber in Wahrheit immer schon voraus. Damit wird die Ergänzungsbedürftigkeit dessen bezeichnet, was Bildung innerhalb naturwissenschaftlich-technischer Problemstellungen und innerhalb der Zusammenhänge der Arbeitswelt zu leisten vermag. Das bedeutet: Die Disziplinierung durch naturwissenschaftliches und technisches Denken und durch die sachliche Erfüllung der Notwendigkeiten industrialisierter Arbeit zwingen den Menschen zwar zur zeitweiligen Ausschaltung unmittelbarer, spontaner Formen des erlebenden und tätigen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Aber damit wird das Bedürfnis nach diesen „ganzheitlichen” Formen der Beziehung des Menschen zur Welt in Spiel, Kunst, sprachlicher Kommunikation, zwischenmenschlicher Begegnung, Geselligkeit nicht ausgetilgt, und es dürfe nicht ausgetilgt werden. Litt faßt die eben genannten Beziehungs- und Gestaltungsformen des Menschen im Begriff des „Umgangs” zusammen: „Umgang” als die der Subjekt-Objekt-Trennung vorausliegende Form der Beziehung des Menschen zur gegenständlichen und zur menschlichen Wirklichkeit bedarf — als produktiver Gegenpol zur „Versachlichung” der Welt — innerhalb einer umfassenden Bildungskonzeption auch und nicht weniger dringlich der pädagogischen Förderung und Pflege, gerade weil Formen des „Umgangs” im eben umschriebenen Sinne angesichts der Expansion des objektivierenden, naturwissenschaftlich-technischen Denkens verdrängt und in ihrer unverzichtbaren Bedeutung für eine humane Existenz verkannt zu werden drohen.
Es liegt auf der Hand, daß eine solche komplexe Bildungsauffassung, wie sie Litt hier skizzierte, nicht mehr am Kriterium der Harmonie, sondern an dem der ständig neuen Bewältigung der Spannung unterschiedlicher Denk-, Wertungs- und Handlungsanforderungen orientiert sein muß. Als „gebildet” — so heißt es in der Schrift „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt” — „als ‘gebildet’ darf … nur gelten, wer diese Spannung sieht, anerkennt und als unaufhebbares Grundmotiv in seinen Lebensplan einbaut”32.
Litt hat mit seinen vielbeachteten Publikationen zu diesem Problemkreis seit Beginn der sechziger Jahre eine Wende in der bildungstheoretischen Diskussion herbeigeführt. Es war zu erwarten und bestätigte sich, daß konservative Pädagogen, insbesondere die Verfechter des altsprachlichen Gymnasiums bzw. der Wiederbelebung eines am neuhumanistischen Bildungsideal orientierten höheren Schulwesens und einer analogen Konzeption universitäerer Bildung, diese Position als Bruch mit der Tradition angriffen, einer Tradition, der sich Litt noch in den zwanziger Jahren im wesentlichen selbst zugeordnet hatte.

Fragt man nach Litts Leistung im Rahmen der Geisteswissenschaftlicher Pädagogik angesichts des Problemfeldes „Bildungsaufgaben im Hinblick auf Naturwissenschaft, Technik und moderne Arbeitswelt”, so ist festzustellen: Kein anderer Vertreter dieser Richtung — weder Herman Nohl noch Erich Weniger, Wilhelm Flitner oder Eduard Spranger und keiner aus deren erster Schülergeneration, soweit sie bis zum Beginn der fünfziger Jahre bereits erziehungswissenschaftlich forschend und lehrend tätig waren — hat auch nur in Ansätzen Beiträge zur bildungstheoretischen Analyse von Grundphänomenen der modernen, durch Naturwissenschaft und Technik tiefgreifend geprägten neuzeitlichen Welt und nicht zuletzt der industriellen Produktions- und Arbeitswelt auf vergleichbarem Niveau vorgelegt, wie es Litt geleistet hat, und keiner hat dementsprechend notwendige bildungspraktische Folgerungen ziehen können. Der in den zwanziger Jahren noch vergleichsweise konservative Kritiker überschwänglicher Reformpädagogen wurde in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seines philosophischen und pädagogischen Wirkens in mehrfacher Hinsicht zum progressivsten Denker der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik.
Die Grenze des Litt’schen Ansatzes, der auch zur Bemühung um die Überwindung der Trennung von „Berufsbildung” und „Allgemeinbildung” führen mußte — Litt hat sie u. a. in der Broschüre „Berufsbildung, Fachbildung, Menschenbildung” (zuerst 1958) begründet 33 —, liegt auch hier in einer Problemreduktion, die derjenigen seiner Theorie der demokratisch-politischen Bildung analog ist: Litt hat die Entwicklung von exakter Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktions- und Arbeitswelt zwar nicht als “Schicksal”, sondern als historische Hervorbringung des Menschen gedeutet. Aber er hat nirgends eingehender die gesellschaftlichen, vor allem die ökonomischen und politischen Motive, Interessen, Zusammenhänge, Widersprüche analysiert, die die treibenden Kräfte dieser Entwicklung waren und nach wie vor sind. Daher erscheint jene moderne Entwicklung bei Litt als ein primär aus der „Logik” der naturwissenschaftlichen Forschung und der durch sie eröffneten technischen Anwendungsmöglichkeiten hervorgehender Prozeß, seine ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen und Folgen aber werden fast ganz ausgeblendet. Bildungstheorie und Didaktik mußten bzw. müssen hier über Litt hinausgehen. Erst innerhalb des damit angedeuteten Rahmens behalten und erhalten seine Argumentationen ihren angemessenen Stellenwert.

  1. Schluß

Ich habe versucht, an vier zentralen Dimensionen Leistung und Grenzen der pädagogischen Konzeption Litts zu verdeutlichen und sie, wenigstens andeutungsweise, in Vergleich zum Erkenntnisstand anderer Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik während Litts Wirkungszeit zu setzen. Allerdings reichte die Zeit nicht, um nun noch Entwicklungslinien bis in die Gegenwart zu skizzieren. Ohnehin könnte es bei einem solchen Versuch nicht darum gehen, Litts Lösungsversuche für die hier angesprochenen oder für weitere pädagogische Problemdimensionen etwa linear auf unsere gegenwärtigen pädagogischen und, soweit voraussehbar, auf zukünftige Probleme und Aufgaben übertragen zu wollen. Das hieße, gegen eine wissenschaftstheoretische Grundeinsicht Litts wie der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik insgesamt zu verstoßen, nämlich gegen die Einsicht in die Geschichtlichkeit allen konkreten pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Denkens, konkreter pädagogischer Konzeptentwürfe und konkreten pädagogischen Handelns. Auf einer prinzipielleren Ebene der Reflexion aber können wir, so meine ich, an Litts erziehungswissenschaftlichem Werk als einer Variante Geisteswissenschaftlicher Pädagogik durchaus Maßstäbe gewinnen, anhand derer heutige Erziehungswissenschaft und heutiges konkret-pädagogisches Denken sich messen lassen müßte, um nicht hinter ein schon einmal gewonnenes Niveau des Problembewußtseins zurückzufallen; kehren doch in den letzten vier Jahrzehnten in der pädagogischen Diskussion immer wieder auch — gleichsam in neuen Gewändern — Positionen auf, deren Unhaltbarkeit, deren Unzulänglichkeiten oder Einseitigkeiten in Litts dialektisch strukturierter Pädagogik längst aufgewiesen worden sind.

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