Probleme der politischen Bildung im Zeitalter unübersichtlicher Wissenschaft und Technik18 min read

Der Egoismus unserer Tage
Analysen und Antworten in
Theodor Litts Integrationslehre
LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH
2016

SHINJI NOBIRA
Probleme der politischen Bildung im Zeitalter
unübersichtlicher Wissenschaft und Technik

Einleitung

In diesem Beitrag gebe ich zunächst eine Übersicht (1) über die inhaltlichen Ebenen und Akzente des Vortrages von Theodor Litt „Die öffentliche Verantwortung der Wissenschaft”‘. Es schließt sich eine Analyse an über die Situation der spezifisch akademischen Forschung an den Universitäten in Japan in Verbindung mit einem Vergleich zu den Ausführungen Theodor Litts (2). Basierend auf den Konzepten von Hans-Georg Gadamer und Aristoteles folgt eine Diskussion der nichtdualistischen Konzepte des Praxisbegriffs, die fir die Betrachtung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaftsleben wichtig sind (3). Von dieser Ausgangslage ausgehend, erörtere ich sowohl die besondere Verantwortung der Wissenschaft (4) als auch die der Zivilbevölkerung zur Notwendigkeit einer engagierten Mitwirkung an der politischen Bildung. (5)

  1. Litt’s Vortrag „Die öffentliche Verantwortung der Wissenschaft”

Litt hat in seinem 1956 gehaltenen Vortrag „Die öffentliche Verantwortung der Wissenschaft” (Litt 1959) unter Bezugnahme auf die damals von Kernkraftforschem vorgetragenen Äußerungen hinsichtlich der militärischen Nutzung der Kernenergie das politische Gebaren von Wissenschaftlern streng kritisiert. Nach Litt beschränkt sich die Aufgabe der Wissenschaftler darauf, von einem objektiven Standpunkt aus Wahrheiten forschend zu ermitteln. Diese sind an die Bevölkerung weiterzugeben.

Selbst wenn Wissenschaftler voraussehen können, dass die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ernsten und schwierigen Situationen fiihren können, haben sie keine Sonderrechte betreffs der Entscheidung, wie diese Ergebnisse im gesellschaftlichen Leben eingesetzt werden sollten. Die Hinterfragung des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich der Frage, wie wissenschaftliche Ergebnisse angewandt werden, ist nicht eine wissenschaftliche Fragestellung, sondern eine sich gleichermaßen an alle Menschen richtende politische Frage. M.a.W.: Auch wenn Wissenschaftler zu Erkenntnissen gelangen, die sie durch eigene wissenschaftliche Forschung gewonnen haben, dürfen sie als „gewöhnliche Bürger” nicht warnend auf die damit möglicherweise verbundenen Gefahren für das Gemeinwohl aufmerksam machen. Das wäre nach Litt eine unzulässige Kompetenzüberschreitung, selbst wenn diese einem guten Gewissen entstammen sollte. Vielmehr gehören Vorbehalte, Einschränkungen und Verbote ausschließlich in den Entscheidungsbereich der verantwortlich abwägenden Politiker.
Nach Litt- ist es ein Fehler, wenn z.B. Wissenschaftler im Bereich der Kernphysik die Forschung an einem Punkt abbrechen, von dem ab die Möglichkeit besteht, dass es zu einer Vernichtung der Menschheit kommen kann. Die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit ist immer ein Prozess ununterbrochener logischer Akkumulation, so dass durch Einbringung einer Wertung, wie z.B. in der individuellen Einschätzung von Ereignissen und Folgen in Form von „bis hierher ist es gut, aber von hier ab ist es nicht mehr gut”, die Verantwortung der Wissenschaftler dennoch aufgegeben ist, den Menschen die Wahrheit mitzuteilen.
Litt klassifiziert die Wissenschaft außerdem in eine „Wissenschaft vom Außermenschlichen (Naturwissenschaft)” und eine „Wissenschaft vom Menschen (Geisteswissenschaft)”. Er warnt davor, dass dabei die „Wissenschaft vom Menschen” — je mehr sie nach dem Vorbild der „Wissenschaft vom Außermenschlichem”, d.h. von Objektivität und Gesetzmäßigkeit getrieben wird — den Menschen nicht mehr als „Person”, sondern lediglich als Gegenstand der Behandlung betrachtet. Davon jedoch unabhängig — ob es sich um Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft handelt — ist die Wissenschaft stets der Gefahr ausgesetzt, von der Politik instrumentalisiert und verzerrt zu werden. In seinem Vortrag weist er auf die Wichtigkeit hin, diese Gefahren durch Wachsamkeit zu begrenzen. Er betont die Bedeutung der Freiheit bei der Suche nach Wahrheit, die stets auf der Basis einer demokratischen Gesellschaft und der hier zu gewährleistenden Freiheit der Wissenschaft steht.

  1. Zur Lage der akademischen Forschung an den japanischen Universitäten

Um unter dem konstitutiven Auftrag, der er der akademischen Forschung an den Universitäten gestellt ist, grundsätzlich wissenschaftliche Erkenntnisse im Handlungsrahmen von Freiheit und Verantwortung und somit der uneingeschränkten Wahrheitsfmdung zu erzielen, sind jedoch mit Blick auf die aktuelle Situation an den japanischen Universitäten einige betont kritische Anmerkungen zur gegenwärtigen Hochschulpolitik des japanischen Kultusministeriums erforderlich.
Die staatlichen Universitäten Japans wurden im Jahr 2004 in staatliche Universitätskörperschaften des öffentlichen Rechts umgewandelt. Als ein Ergebnis dieser Veränderung wurden mittelfristige Zielzeiträume von sechs Jahreszyklen bestimmt. Hiernach sind die Lehrkräfte zwar nach wie vor Staatsbeamte. Aber seit der Umwandlung der Universitäten in Körperschaften haben diese de facto den Status von Angestellten der einzelnen Körperschaften erhalten. Durch diese Veränderung in Körperschaften wurden den Bestimmungen entsprechend die Regelungen betreffs des Personaletats der einzelnen Universitäten dem Scheine nach gelockert. In der Praxis allerdings wurde die Kontrolle durch das Kultusministerium nachhaltig verstärkt. So ist der Etat für die einzelnen Universitäten jährlich um 1% gekürzt worden. Zugleich wurde dadurch die Führungsrolle des Rektors verstärkt, wobei eine Beteiligung externer Personen an der Universitätsleitung eingeführt und so die Selbstverwaltung der Universität geschwächt wurde. Gleichzeitig wurde vor dem Hintergrund der verschiedenen, die staatlichen Universitäten betreffenden Änderungen des gesellschaftlichen Umfeldes (u. a. Globalisierung, fallende Geburtenrate, steigender Wettbewerb mit sich entwickelnden Ländern und dergleichen mehr) eine Reform der Organisationsform gefordert. Im November 2013 wurde dann der „Reformplan für staatliche Universitäten” bekannt gegeben. Darin wird der Slogan angeführt: „Indem die einzelnen Universitäten ihre jeweiligen Charakteristika maximal ausnutzen und eigenständig Verbesserungen und Weiterentwicklungen vornehmen, soll eine kontinuierliche Wettbewerbsfähigkeit erhalten werden. Von diesen Universitäten wird ein hoher Mehrwert hervorgebracht werden.” Nach diesem Plan werden seitdem die staatlichen Universitäten in folgende drei Kategorien eingeteilt:
• „weltweit führende Ausbildungsstätten”,
• „landesweite Ausbildungsstätten” und
• „zentrale Stätten zur regionalen Aktivierung”.

In diesem Zusammenhang wurde auch eine entsprechende Staffelung des Etats angestrebt. Den Universitäten wurde hierzu als Zauberwort das ökonomische Verständnis von „Joint-Venture-Unternehmen” nahe gelegt. Die strategische Ausbildung des Personals im Bereich Wissenschaft und Technik und dergleichen sollen einerseits dazu dienen, die neoliberale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Andererseits hat im Juni 2015 das Kultusministerium die „Mitteilung betreffend einer Revision der Organisationsform und Aufgaben der staatlichen Universitätskörperschaften etc.” herausgegeben. Diese schließt die Forderung ein, „insbesondere die Organisation von Fakultäten zur Ausbildung von Lehrkräften, die Graduierten-abteilungen sowie die human- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten / Graduier-tenabteilungen … umgehend abzuschaffen oder in andere Ausbildungseinheiten umzuwandeln”, fiir die ein höherer gesellschaftlicher Bedarf bestehe. Dieses hat die einzelnen Universitäten, insbesondere die human- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, schwer erschüttert.

Bilanzierend ist ein Zweifaches festzuhalten:

Die Hochschulpolitik wird im gegenwärtigen Japan vorrangig nach dem amerikanischen Muster betrieben. Hiernach steht eindeutig die Nützlichkeit des Wissenserwerbs im Vordergrund. Es geht vorrangig darum, das industrielle und das allgemeine Wirtschaftswachstum zu stärken.
Die ethische Grundeinstellung, dass akademische Wahrheiten ein öffentliches Gut sind, wird mehr und mehr zurückgedrängt. Diesbezüglich lässt sich wohl sagen, dass humanistisches Wissen (insbesondere Philosophie und Ethik) im Allgemeinen gering geschätzt wird. Dieses zeigt bereits vielfältige negative Auswirkungen. Es fiihrt u. a. zu großen, Problemen im Bereich des Moralverständnisses. Besonders auffällig ist dieses im Bereich der Naturwissenschaften.

  1. Praxis und Phronesis

Gadamer beschreibt im Vorwort zur 3. Auflage von „Wahrheit und Methode” (Gadamer 1993, S. 454f.) die Blüte der Naturwissenschaften in der Neuzeit und den gleichzeitig fortschreitenden „Verfall des Praxisbegriffs” und bemüht sich bei der Wiederherstellung des Praxisbegriffs um Aristoteles’ Konzept der Phronesis.
In Verbindung mit der Modernisierung gewann ein mechanistisches Naturverständnis die Priorität. Die Wissenschaft hat hiernach die Aufgabe, die in der Natur enthaltenen Kausalitätsgesetze zu ermitteln und sie zur Grundlage der weiteren Forschungen zu machen. Die „Naturerschließung” wird zum primären Gegenstand der Forschung. Die gewonnenen Ergebnisse sind die „rechtmäßige Grundlage” technischer Entwicklung (Grundlagenforschung). Konsequenterweise wird seitdem die „Anwendung der Wissenschaft” als Praxis verstanden. Auch in der pädagogischen Praxis findet man die gleiche Situation vor, so dass in den letzten Jahren die Erkenntnis an Bedeutung gewinnt, dass eine Ausbildung, die sich mit bewiesenen Theorien befasst und verbindet (evidence), in der sich anschließenden Lehrpraxis an besonderer Qualität gewinnt.
In der Zeit vor dieser Modernisierung standen sich Mensch und Welt noch nicht in dualistischer Weise gegenüber. Hier wurde davon ausgegangen, dass Wahrheiten weniger im Rahmen menschlicher Vernunft entdeckt, sondern dass diese eher in einer den Menschen übersteigenden Fügung offenbart wurden. Technik bzw. Kunst galten nicht als etwas, was die Welt verändert, sondern als etwas, was die Manifestation von Wahrheit fördert. In der „Nikomachischen Ethik” des Aristoteles (vgl. Aristoteles 2006, 6. Buch) werden für die den Zustand der Wahrheit erreichten Seele fünf verschiedene Zustände angeführt, nämlich episteme, techne, phronesis, sophia und nous. Darunter gehören sowohl techne als auch phronesis zur Tugend, die es nur mit Dingen zu tun hat, die kontingenterweise bestehen. Während jedoch das Wesen des Handelns im Zusammenhang mit der techne die poiesis ist, ist praxis die mit phronesis verbundene Aktivität. Während poiesis ein Mittel zur Aktivität ist, ist praxis das unmittelbare Ziel der Aktivität, so dass praxis als einer höheren Ordnung zugehörig angesehen wurde als poiesis. Phronesis unterstützende praxis galt als „besser leben” und gleichzeitig als politike.
Der von Gadamer in der Neuzeit angesprochene „Verfall der Praxis” repräsentiert wohl eine Bagatellisierung der auf ein besseres Leben hinweisenden Praxis, in der die von Wissen getragenen Gesetzmäßigkeiten befolgt werden und eine mechanistische Anwendung von zukunftsweisenden Entscheidungen im Zusammenhang mit der poiesis erfolgt. Die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft bei sozialen Aktivitäten des Menschen ist eine Frage, die sich auf praxis und nicht poiesis bezieht. Die Antwort darauf muss unter Anwendung von phronesis politisch und gesellschaftlich gesucht werden.

  1. Verantwortung der Wissenschaft

Litt verbietet Wissenschaftlern die Verantwortung als Politiker (selbstverständlich verneint er damit nicht die Teilnahme von Wissenschaftlem als Bürger an der Politik). Er betont jedoch eine besondere öffentliche Verantwortung der Wissenschaftler.
In dieser nicht leicht zu trennenden Gemengelage bleibt in der Tat die Frage: „Wie soll heute bei zunehmender Komplexität und wachsendem Umfang der Wissenschaften eine Verantwortung der Forscher woanders als in der Aufklärung von Wahrheiten und deren Übermittlung an die Zivilbevölkerung bestimmt werden?”
Hier möchte ich zwei Punkte ansprechen, und zwar (l) die Verantwortung zur Mitteilung von Risiken und (2) die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen (cf. Yamawaki 2015).

(1) Verantwortung, Risiken mitzuteilen

Während die Äufgabe der Wissenschaft im engeren Sinne die Suche nach Wahrheit ist, hat die Technik die Aufgabe, diese Wahrheiten praktisch anzuwenden und gegebenenfalls umzuformen. Die zunehmende Komplexität und der wachsende Umfang der Wissenschaften hat dazu geführt, dass sich diese heute über die bisherige Aufgabe, Gesetzmäßigkeiten der Natur aufzuklären, hinaus entwickelt haben und auf den relevanten Ergebnissen basierend die Schaffung künstlicher neuer Realitäten sowie adäquate technische Entwicklung mit einschließt. Während die von den Wissenschaften aufgeklärten Wahrheiten und Erkenntnisse hinsichtlich von Allgemeingültigkeit und Universalität gekennzeichnet sind, ist die angewandte Technik nach wie vor individuell und spezifisch. Die Anwendung der Wahrheiten im Einzelnen auf diese spezifischen Realitäten ist unweigerlich mit Ungewissheit und Risiken verbunden. Insbesondeie trifft dies z.B. auf Forschungen zu, die auf dem Gebiet der Kernenergie oder „genetischer Manipulation” erfolgen. Hier bestehen unvergleichlich große Unterschiede.
Eine besondere Aufmerksamkeit verlangt jedoch die forschungsmethodische Herangehensweise, denn Risiken werden im Allgemeinen statistisch diskutiert. Aber bei komplexen, sehr umfangreichen wissenschaftlichen Forschungen treten bisher oft unbekannte Risiken auf, die statistisch nur schwer erfassbar sind. In Anlehnung an Ulrich Beck leben wir in einer Welt der reflexiven Modernisierung (Beck u.a. 1996), in der es dringend einer Modernisierung des „Risiko-Managements” und der durch diese Modernisierung geschaffenen negativen Risiken kommen muss. Wissenschaftler bzw. Techniker tragen die Verantwortung dafür, diese Ungewissheiten und Risiken betreffende Informationen Nicht-Fachleuten richtig mitzuteilen. Dabei gilt grundsätzlich, dass auch unmissverständlich gesagt werden soll: „Ich weiß es nicht” — wenn dieses der Fall sein sollte. Besonders bedrückend ist das Beispiel aus den Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986: Wer trägt die Verantwortung, wenn es zu einem GAU kommt? Wer trägt die Verantwortung, wenn sich die Arbeiter einer Verstrahlung aussetzen müssen, um den Unfall möglichst wieder unter Kontrolle zu bringen? Ist es das Elektrizitätswerk? Sind es die Nutznießer des Stroms? Sind es die Mitglieder der Regierung, welche die politische Entscheidung zur Errichtung des Kernkraftwerkes getroffen haben? Trotz vieler Diskussionen sind derartig grundsätzliche Fragen bislang unbeantwortet geblieben. Und es ist weiter zu fragen: Lässt sich überhaupt eine Nutzung der Wissenschaft rechtfertigen, die fordert, gegebenenfalls Menschen in den Tod zu schicken? Diese Fragen wurden uns nach dem durch das große Erdbeben in Fukushima im Jahre 2011 hervorgerufenen Unfall des Kernkraftwerks deutlich ins Bewusstsein gerufen. Sie stellen fundamentale ethische Fragen dar. Auf diese Fragen kann nicht mehr nur durch wissenschaftliche Diskussionen geantwortet werden. Sie erfordern Bemühungen um politische und soziale Diskussionen in Verbindungen mit dem relevanten Werteverständnis.

(2) Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

Wissenschaftliche Risiken können auch zukünftige Generationen beeinflussen. Die bei der Nutzung von Kernenergie anfallenden hochradioaktiven Abfälle sind hierfür ein typisches Beispiel (in Japan wird dieses Problem oft eine „Wohnung ohne Toilette” genannt). Wissenschaftler und Politiker, die von ihrem Standpunkt aus die Nutzung der Kernenergie empfehlen, haben behauptet, dass die Einbettung dieser Abfälle tief unter der Erdoberfläche (geologische Endlagerung) eine in unserer Generation abgeschlossene Entsorgung ist. Allerdings — und insbesondere in Japan mit seinen vielen Erdbeben und großer Vulkanaktivität — kann niemand garantieren, dass diese geologischen Formationen über einen Zeitraum von mehreren hunderttausenden von Jahren bis zum Abklingen der Radioaktivität auf ein sicheres „Strahlungs-Niveau” nicht ungewöhnlichen Veränderungen unterworfen werden, so dass ganz offensichtlich Risiken für zukünftige Generationen bestehen bleiben. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen in unserem täglichen Leben berücksichtigen. Wie bereits gut bekannt, betrachtet Hans Jonas das Überleben der Menschheit als eine bedingungslose Pflicht der heute lebenden Menschen der gesamten Menschheit gegenüber (cf. Jonas 1979). Ebenso wie Eltern ihren Kindern gegenüber eine Unterhaltspflicht haben, müssen wir dafür Sorge tragen, dass kausale Folgen unserer Handlungen zukünftige Generationen nicht gefährden. Da wir naturgemäß die Meinungen zukünftiger Generationen nicht direkt erfragen können, wird das von Verantwortung geleitete Vorstellungsvermögen gegenüber diesen zukünftigen Generationen nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch der Zivilbevölkerung auf die Probe gestellt.

  1. Von Wissenschaftlern und Zivilbevölkerung geforderte politische Bildung

Bisher war die Beziehung zwischen Wissenschaftlern und Zivilbevölkerung dadurch gekennzeichnet, dass die Wissenschaftler als Spezialisten die nicht fachbezogen qualifizierte Zivilbevölkerung und deren oftmals emotional wahrgenommenen Empfindungen gering schätzten. Es hat sich aber gezeigt, dass das Wissen der Wissenschaftler oftmals sehr selektiv ist und nicht zwingend umfassend sein muss. Die anerkennende Apostrophierung „Experte” wird zudem medial leichtfertig und leichtsinnig für spezifisches Teil- (Halb-)Wissen vergeben.
Es ist ein Faktum, dass im Bereich umfassender, an Komplexität ständig zunehmender wissenschaftlicher Forschungen die Arbeitsteilung weiter fortschreitet und einzelne Wissenschaftler die Bedeutung und den Einfluss der Aktivitäten insgesamt nicht mehr in der Spannweite der Fachdisziplin überblicken können. Das Wissen in speziellen, sich aus Wissenschaftlern zusammensetzenden Gemeinschaften unterscheidet sich vom Allgemeinwissen der Zivilbevölkerung nachhaltig. Die Zivilbevölkerung kann die Einflüsse der Wissenschaft von deren jeweils unterschiedlichen Standpunkten und Erfahrungen aus nur partiell nachvollziehen.bzw. einordnen. Populärwissenschaftlich gestaltete mediale Informationen machen die nichtfachwissenschaftlich gebildete Bevölkerung zwar auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen aufmerksam. Aufgrund der fehlenden fachlichen Tiefe des Vorgetragenen und der zweifellos fehlenden Grundlagenkenntnisse der Zuhörer/Zu-schauer entwickelt sich jedoch ein nicht unproblematisches „Halbwissen”, welches Fachbegriffe auf Schlagworte reduziert. Eine Fachdiskussion lässt sich jedoch hierauf nicht aufbauen bzw. ableiten.
So hat das bereits angesprochene große Erdbeben von 2011 in Verbindung mit dem von ihm ausgelösten verheerenden Tsunami auch gezeigt, dass Wissenschaftler der Zivilbevölkerung gegenüber falsche bzw. falsch zu deutende Aussagen machen, aber auch wichtige Informationen verbergen, damit der sie etatmäßig unterstützende Staat, die Unternehmen und Interessengruppen keine Gewinneinbußen hinnehmen müssen.
Bei aller Kritik, die sich in den voran stehenden Aussagen durchaus verbirgt, ist jedoch festzuhalten: Es ist weder erforderlich, dass die gesamte Zivilbevölkerung über das gleiche Fachniveau wie die Wissenschaftler verfügt, noch ist dies prinzipiell möglich. Allerdings ist die Sensibilität größerer Teile der Bevölkerung gegenüber „technischen Errungenschaften” deutlich größer geworden. So bemüht man sich ernsthaft, die fachlichen Unterschiede zwischen den Gruppen zu reduzieren. Dieses ist in den zurückliegenden Jahren nicht zuletzt auch deshalb möglich geworden, da aufgrund des deutlich gewachsenen allgemeinen Bildungsniveaus beide Gruppen einen „institutionalisierten Dialog” anstreben. In der Tat scheint sich diese Vorgehensweise zu bewähren, so dass die Wissens- und Verstehensdifferenz sich reduziert. M.a.W.: die Bedeutung eines Dialogs zwischen Wissenschaftlern und der Zivilbevölkerung wird von beiden Seiten erkannt und entsprechend ausgeweitet. Für einen solchen Dialog scheinen sich einige Lernorte und Begegnungsformen besonders zu eignen. In Auswahl sei verwiesen auf so genannte „Wissenschafts-Cafes”, allgemeine wissenschaftliche Informationsabende, Vorlesungen im Rahmen des lebenslangen Lernens und viele andere Gesprächsformen. Das sind ausnahmslos begrüßenswerte Veranstaltungen, die in den unterschiedlichen Formen jedoch noch einer weiteren Qualifizierung bedürfen.
Um die Gruppe der Wissenschaftler in ihrem sozialen und ethischen Verantwortungsgefühl zu stärken sowie ihr spezifisches Handeln zu optimieren, werden gegenwärtig an zahlreichen Universitäten und Fortbildungsinstituten fächerübergreifende Seminare und Kurse angeboten und realisiert. Dort werden zum Beispiel spezifische Inhalte thematisiert und handlungsrelevant aufgearbeitet mit dem Ziel, den Wissenschaftlern bewusst zu machen, welchen Stellenwert die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen im Bewusstsein der Gesellschaft haben. Das ist dringend geboten, da zahlreiche Studien belegen, dass es in der Wahrnehmung der einzelnen Zielgruppen Unkenntnis, Irritationen und daraus resultierende Missverständnisse gibt. Es werden zugleich methodische Anregungen gegeben und Möglichkeiten aufgezeigt, wie man die mitunter komplexen Inhalte, mit denen sich die Forscher beschäftigen, Personen außerhalb dieses Fachgebietes vermittelt. Kurzum: Es geht nicht nur darum, Fachwissen zu erwerben, sondern auch nach einem Verständnis für „die Wissenschaft in der Gesellschaft” und „die Wissenschaft in den verschiedensten Wechselbeziehungen” zu befördern.
Es ist allgemein bekannt, dass heute eine enge Beziehung zwischen wissenschaftlicher Forschung und staatspolitischen Entscheidungen besteht, so dass diese Forschungen oft von sehr großen und zugleich thematisch divergierenden Gruppen durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang führt eine Arbeitsteilung auch zu einer Durchdringung der unterschiedlichen Dimensionen der Verantwortung. Das macht es für oftmals individuell arbeitende Wissenschaftler nicht gerade einfach, Probleme in der Disparität und Komplexität aufzuzeigen und verständlich werden zu lassen. Es kann aber nicht gefordert werden, die Ethik der wissenschaftlichen Forschung allein aufgrund des Gewissens Einzelner transparent werden zu lassen. Vielmehr erfordert es, geeignete, vom System zu tragende Maßnahmen zu entwickeln. Eine Intensivierung der Kommunikation zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, Abteilungen des politischen Handelns und der Zivilbevölkerung stellt hier wohl einen ersten Schritt dar — wenn auch dieser möglicherweise ein besonders diffiziler ist.
Die Zivilbevölkerung, die mit ihren Mitgliedern von den Wissenschaften zweifelsfrei profitiert, ist in vielfacher Form von der Förderung der Wissenschaften mittelbar und unmittelbar betroffen. Selbstredend bedeutet ein Gemeinschaftsleben in der Praxis, dass die Bevölkerung gleichzeitig auch von der Politik erfasst wird. Aus diesem Grund trägt sie Verantwortung dafür, sich für die Funktionen der Wissenschaften im gesellschaftlichen Leben sowie für die politischen Maßnahmen des Staates zur Förderung der Wissenschaften zu interessieren. Genau wie wissenschaftliche Forschungen sind auch politische Prozesse heutzutage extrem komplex geworden und von der Zivilbevölkerung nur schwer in ihren Abläufen und Entscheidungsebenen zu durchschauen und zu verstehen. In einer Demokratie ist die Auswahl von Repräsentanten durch Wahlen und durch umfassende Diskussionen im Parlament institutionalisiert, aber die Vorstellungen der Zivilbevölkerung werden darin oft nicht genau repräsentiert. Durch nicht institutionalisierte, verschiedenartige öffentliche Diskussionen wird die institutionalisierte Demokratie jedoch ergänzt. Sie verwirklicht auf diese Weise auch außerhalb der Wahlen unterschiedlichste Formen einer Teilnahme der Zivilbevölkerung an der Politik. Die Transparenz von Entscheidungen und die sich jetzt abzeichnende Teilhabe am politischen Geschehen werden in der Zukunft noch wichtiger werden (vgl. Habermas 1990).
Selbstverständlich sind sowohl die Qualität der öffentlichen als auch die nichtinstitutionalisierten Diskussionen durch die Zivilbevölkerung sehr verschiedenartig. Es wird deshalb auf absehbare Zeit immer zu prüfen sein, welche Themen in welchen politischen und fachwissenschaftlichen Gruppen für die öffentliche Diskussion vorbereitet werden müssen. Es muss ein Konsens hergestellt werden, dass
eine Akzeptanz von Expertenwissen ebenso gewährleistet ist, wie die berechtigte kritisch-konstruktive Diskussion mit der Zivilbevölkerung (vgl. Mouffe 2000). Entscheidende Qualitätssignale werden von den ernsthaften Bemühungen im Sinne einer Erweiterung einer für Jedermann offenen Gemeinschaftlichkeit und Verschiedenartigkeit ausgehen. Damit wird eine allmähliche Verbesserung der Qualität dieser Diskussionen zu erreichen sein, auch wenn sich dieses aus heutiger Sicht als eine schwierige Aufgabe darstellt.

Im vorstehenden Sachverhalt ist deutlich geworden, dass Wissenschaftler, Politiker als Repräsentanten bzw. Vertreter der Zivilbevölkerung und die Mitglieder der Zivilbevölkerung selbst in einer gesellschaftlichen Gemeinschaft stehen. Das gemeinsam angestrebte Ziel, ein besseres Leben zu erreichen, macht bei den Beteiligten eine — im Aristotelischen Sinne — hierauf ausgerichtete phronesis erforderlich. In unsere aktuelle Verständnisweise transferiert treffen wir uns in den Zielen, Inhalten und Handlungsebenen der politischen Bildung, die Theodor Litt in seinen Darlegungen und Analysen, vor allem in seinem Werk „Individuum und Gemeinschaft”‘ nachdrücklich begründet und anmahnt. Seine Argumentationen sind zeitlos gültig.

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